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An diesem Tag lasen wir nicht weiter – Will Schwalbe

Will Schwalbe hat als Journalist bei der New York Times und als Cheflektor bei mehreren Buchverlagen gearbeitet. Seit seinem Ausstieg aus der Verlagswelt kümmert er sich vor allem um seine Online-Kochrezeptsammlung. Der Autor lebt heutzutage in New York. “An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist Will Schwalbes Debüt als Schriftsteller, er verarbeitet darin die schwere Erkrankung und den anschließenden Tod seiner Mutter.

“Während wir die meisten Dinge erlebten, von denen hier die Rede ist, wusste ich noch nicht, dass ich dieses Buch schreiben würde. Daher musste ich mich auf mein Gedächtnis und ein paar eher zufällige Notizen verlassen. Auf Papiere, Listen und Briefe, die Mom mir gegeben hat, auf E-Mails, die wir uns geschrieben haben, auf unseren Blog und die Hilfe von Familie und Freunden.”

Mary Anne Schwalbe ist 73 Jahre alt, als sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Zum damaligen Zeitpunkt ist die Krankheit bereits weit fortgeschritten. Die Mutter von Will Schwalbe befand sich zwar schon länger in ärztlicher Behandlung, aber der Krebs wurde nicht richtig diagnostiziert, da die Ärzte zunächst von einer seltenen Form der Hepatitis ausgingen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Krebs von der Bauchspeicheldrüse bereits auf die Leber übergegriffen. Nach der Diagnose gaben die Ärzte Mary Anne Schwalbe nur noch wenige Monate Lebenszeit. Die Tatsache, dass sie noch in der Lage gewesen ist, beinahe zwei Jahre später ihren 75. Geburtstag zu feiern, ist ein erster Hinweis auf den Durchhaltewillen, die Kraft und den Lebensmut dieser bewundernswerten Frau.

“Ich könnte sagen, dass der Leseclub unser Leben wurde. Noch zutreffender wäre es, zu behaupten, unser Leben wurde ein Leseclub.”

Im Herbst 2007 gründen Will Schwalbe und seine Mutter einen Leseclub. Es ist ein kleiner Club, denn sie beide sind die einzigen Mitglieder. Ihr Stammtreffpunkt ist das Wartezimmer in der Memorial-Sloan-Kettering-Ambulanz.

“Unser Leseclub nahm seinen offiziellen Angang mit dem erwähnten Mokka und einer der beiläufigsten Fragen, die zwei Leute einander stellen können: ‘Was liest du gerade?'”

Diese Frage ist Anstoß und Ausgangspunkt für die Gründung des Leseclubs und gemeinsam beginnen Mutter und Sohn damit Bücher zu lesen: Klassiker, Kinderbücher, Neuerscheinungen. Das, was sie lesen, nehmen sie häufig zum Anlass, schwierige Dinge an- und auszusprechen und dafür, miteinander ins Gespräch zu kommen.

“Bücher waren für meine Mutter und mich immer eine Möglichkeit, Themen anzuschneiden und zu besprechen, die uns beschäftigten, manchmal aber auch unangenehm waren; außerdem lieferten sie uns ein Gesprächsthema, wenn wir gestresst oder verunsichert waren.”

Die gemeinsamen Gespräche zwischen Mutter und Sohn, Gespräche über die gelesenen Bücher, aber auch Gespräche über die Erkrankung und darüber, wie das Leben weitergehen kann, geben beiden sehr viel Kraft.

“An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist jedoch nicht nur ein Buch über den Tod und die Literatur, sondern auch die Biographie einer bewundernswerten Frau. Mary Anne Schwalbe ist zu einer Zeit, als dies für viele Frauen noch nicht üblich gewesen ist, nicht nur Mutter, sondern auch in ihrer Arbeit sehr engagiert. Sie ist die erste Frau, die in Harvard als “Director of Administration” arbeitet. Nachdem sie in Rente gegangen ist, engagiert sie sich in Kirchengemeinden und Organisationen. Ihr Alltag ist immer ausgefüllt, ein freier Tag bedeutet für sie, ihre E-Mails zu lesen und den Schreibtisch aufzuräumen. Es ist vor allem die Arbeit und das ausgefüllte Leben mit einem Netz an Freunden und Bekannten, die Mary Anne Schwalbe die Kraft geben, nach der Diagnose noch so lange weiterleben zu können. Das Projekt, das ihr dabei am meisten am Herzen liegt, ist die Gründung von Bibliotheken in Afghanistan. Mary Anne Schwalbe war überzeugt davon, dass Bücher und Literatur Gutes bewirken können.

Gemeinsam entdecken Mutter und Sohn die Kraft der Literatur, die sie schon immer geahnt haben, denn Bücher haben ein Leben lang in der Familie eine wichtige Rolle gespielt, die jedoch noch nie so elementar wichtig gewesen ist, wie zu diesem Zeitpunkt.

“Diese beiden Romane zeigten uns, dass wir uns nicht zurückziehen oder verkriechen mussten. Sie erinnerten uns daran, dass – egal, wo Mom und ich uns auf unserem jeweiligen Lebensweg gerade befanden – wir immer noch Bücher miteinander teilen konnten. Und während dieser Lektüre waren wir nicht ein kranker und ein gesunder Mensch, sondern einfach eine Mutter und ein Sohn, die zusammen eine neue Welt entdeckten. Die Bücher gaben und Bodenhaftung, die wir beide im Chaos und Durcheinander von Moms Krankheit so dringend brauchten.”

“An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist kein Krebsratgeber und kein Sachbuch, sondern der Bericht eines Sohnes, über seinen ganz persönlichen Umgang mit der Erkrankung und dem Tod seiner Mutter. Will Schwalbe wählt einfache Worte, die aber gerade aufgrund ihrer Offenheit und Ehrlichkeit eine große Kraft entwickeln. Mich hat dieser Bericht gerührt, doch gleichzeitig auch begeistert, denn zwischen den Zeilen strahlt die Geschichte von Mary Anne Schwalbe unheimlich viel Mut und Kraft aus. “An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist ein Zeugnis der Kraft von Literatur, aber gleichzeitig auch das Porträt einer kämpferischen und mutigen Frau.

Will Schwalbe hat ein kluges und intelligentes Buch geschrieben, voller Weisheit und Trost, über die Kraft der Liebe, den Zusammenhalt einer Familie und den Trost, den einem die Literatur geben kann. All dieses wird bereits zu Beginn des Buches auf eine einfache, aber kraftvolle Formel gebracht, die dem Buch förmlich als Überschrift gilt: “Lesen ist nicht das Gegenteil von Handeln, sondern das Gegenteil von Sterben”.

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