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Flut und Boden: Roman einer Familie – Per Leo

Der Untertitel von “Flut und Boden”, dem Buch, mit dem Per Leo vor einigen Monaten zu den Nominierten des Leipziger Buchpreis gehörte, ist ein wenig irreführend. Per Leo, der 1972 in Erlangen geboren wurde, legt nämlich im engeren Sinne keinen Roman vor, sondern viel mehr ein Stück Autobiographie. “Flut und Boden” ist ein Stück seiner eigenen Geschichte, ein Stück Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Wirren des 20. Jahrhunderts.

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“Noch immer steht sein Bild am schwarzen Himmel. Doch allmählich wird es schwächer. Noch immer sind in meinem Kopf nur Wörter. Aber sie tönen nicht mehr so schrill. Sie stehen herum wie Bruchstücke eines Textes, die nur ein langer Kommentar wieder verbinden könnte. Familienwappen, Humanismus, Schiffbau, Villa, Heide, Scholle, Bücher, Blitzkrieg, Sturmbannführer. Da komme ich also her.”

Per Leo erzählt in seinem Roman zwei Geschichten, die seiner Familie und die eigene. Die eigene ist klassisch und schnell erzählt: als Student verliert Per Leo kurzzeitig die Orientierung im Leben, stellt sich die Sinnfrage, die sich wahrscheinlich viele junge Menschen stellen. In Freiburg, der Stadt, in der er studiert, sucht er die psychosoziale Beratungsstelle auf – geholfen wird ihm dort nicht, die Mitarbeiterin nimmt ihn nicht einmal wirklich ernst. Erst als er seinen verstorbenen Großvater erwähnt, dessen Vergangenheit er erforscht, wird die Frau hellhörig. Per Leo ist plötzlich nicht mehr nur ein verwöhnter Student, sondern auch ein Nazi-Enkel. Der Vergangenheit seines Großvaters ist er durch Zufall auf die Spur gekommen. Die Nazivergangenheit von Friedrich Leo war in der Familie ein offenes Geheimnis, ein Geheimnis, über das lieber geschwiegen wurde. Zeugnisse dieser Vergangenheit findet Per Leo nicht in einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden, sondern im großelterlichen Bücherregal, an einer Stelle auch als Giftschrank bezeichnet.

“Natürlich wusste ich, dass Großvater ein Nazi gewesen war. Und ich wusste es nicht. Warum hatte mich das nie interessiert? Ich studierte Geschichte, ich hielt mich für links. Warum hatte ich meinem Vater, mit dem ich über fast alles stritt, nicht die Daumenschrauben angelegt? Warum hatte ich ihm nicht zugesetzt damit, dass er mit seinem Vater nie ins Gericht gegangen war? Warum hatte ich nie den Vorhang angehoben, der die beiden untersten Fächer des Bücherregals verdeckte?”

Per Leo, der den literarischen Kniff anwendet, nicht nur Autor zu sein, sondern auch der zurückhaltende Erzähler dieses Textes, beschließt, die Vergangenheit zu erforschen. Er erforscht nicht nur die Vergangenheit von Friedrich Leo, der als überzeugter Nationalsozialist Teil der SS gewesen ist, sondern spiegelt dessen Leben mit den Lebensläufen seiner drei Brüder. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf Martin, den ältesten Bruder – er ist neben Friedrich die zweite Hauptfigur dieses Buches. Martin wird Naturwissenschaftler, lebt ein Leben, in dem er für vieles offen und an vielem interessiert ist, nur politisch wird er – im Gegensatz zum Bruder Friedrich – nie aktiv.

“Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes.

Exemplarisch an diesen beiden Männern macht Per Leo deutlich, wie unterschiedlich Leben verlaufen konnten in der damaligen Zeit. Die beiden Brüder hätten sich kaum konträrer entwickeln können. Der Autor zeichnet jedoch nicht nur die Lebensläufe nach, sondern setzt diese in ein Verhältnis zu politischen, aber auch zu geistigen, kulturellen oder religiösen Strömungen. Erwähnung finden Rudolf Steiner und Ludwig Klages, neben vielen anderen. Dabei entsteht jedoch keinesfalls ein überladenes Panorama, sondern ganz im Gegenteil: hochspannend und mit viel Gespür für das Detail und einen feinen Witz, geht Per Leo den Lebensströmungen des 20. Jahrhunderts nach.

Per LeoSchauplatz des Romans ist das beschauliche Bremen, dort hat Friedrich Leo in Vegesack ein Haus bewohnt – Orte wie die Weser, die ehemalige Vulkan Werft und das Weserstadion spielen eine wichtige Rolle und finden immer wieder Erwähnung. Es dürfte nicht überraschen, dass die Lektüre des Romans für mich einem Nachhausekommen gleich kam, ich habe viele bekannte Orte wiederentdeckt. Es gelingt ihm, Bremen so einzufangen, dass man beim Lesen glaubt, mit dem Buch in der Hand durch die Straßen wandern zu können. Eine wichtige Rolle in “Flut und Boden” spielt auch die Musik, es sind Nirvana und Tocotronic, die Per Leo auf seiner Reise in die Vergangenheit begleiten.

“Friedrich Leo, so sagt er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären.”

“Flut und Boden” ist weniger ein Roman einer Familie, als ein autobiographischer Essay. Romanhaft an diesem Buch ist lediglich der Erzählton, denn Per Leo holt weit aus und spannt ein Zeitpanorama, das sich über drei Generationen erstreckt – wie in den besten Familienromanen. Doch er kann genau das, erzählen! Er erzählt mit einer enormen Ernsthaftigkeit, die er jedoch stellenweise selbst mit Ironie und Humor unterläuft. Beispielsweise an der Stelle, an der er einem Kapitel die Überschrift “The making of a Nazienkel” verpasst.

Per Leo legt mit “Flut und Boden” ein konzentriertes Stück Familiengeschichte vor. Der Autor erzählt auf hohem literarischem Niveau und zeichnet dabei ein beeindruckendes Panorama des 20. Jahrhunderts. “Flut und Boden” ist keine einfache Sommerlektüre, doch wer die Mühe auf sich nimmt, die Welt der Leos zu betreten, der wird mit einer spannenden und unheimlich interessanten Lektüre belohnt.

Leseorte!

“Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne.” – Jean Paul

Der Rhododendron-Park in Bremen präsentiert nicht nur auf 46 Hektar Fläche eine der größten Rhododendron-Sammlungen der Welt, sondern auch wunderbar abgelegene und einsame Plätze und Orte zum Lesen in der freien Natur. Am letzten Wochenende habe ich mit einem lesenswerten Buch (“Scherben” von Ismet Prcic) und meinem Lesebegleiter an meiner Seite einige meiner Lieblingsleseorte aufgesucht.

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Wo lest ihr im Sommer am liebsten? Im Park, auf dem Balkon oder vielleicht sogar in der Hängematte? 🙂

Die Kraft der Poesie …

poetry-on-the-road-logoGestern Abend wurde im Kleinen Haus des Theater Bremens das 14. Internationale Literaturfestival „poetry on the road“ eröffnet. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt und die Veranstalter hätten noch sehr viel mehr Karten verkaufen können – so groß war am gestrigen Abend das Interesse der Bremer an Dichtung und Kultur.

Eröffnet wurde der Abend von Regina Dyck, der Veranstalterin von „poetry on the road“ und der Staatsrätin Carmen Emigholz. „poetry on the road“ begrüßt in diesem Jahr 26 Dichter aus 18 Nationen, die von insgesamt vier Kontinenten anreisten. Bei diesen Dimensionen wird Sprache zu einem multi-lingualem Konzept. Regina Dyck wünschte in ihrer Eröffnungsrede allen Besuchern viele spannende und poetische Begegnungen und eines kann ich an dieser Stelle vorwegnehmen: es gab einige wunderbare Begegnungen, sowohl mit bekannten Stimmen, auf die ich mich schon im Vorfeld gefreut hatte, als auch mit neuen und unbekannten Stimmen.

Gelesen und performt haben am gestrigen Abend Michael Augustin, Olga Martynowa, Lars Gustafsson, David Grossman, Wolf Biermann, Bas Böttcher, Eckhard Henscheid und Jorge Drexler. Die poets haben in ihrer Muttersprache gelesen, während eine Powerpoint-Präsentation im Hintergrund für die deutsche Übersetzung sorgte. Olga Martynowa las auf Russisch, David Grossman auf Hebräisch, Michael Augustin auf Englisch und Jorge Drexler sang auf Spanisch. Die Möglichkeit, diesen unterschiedlichen Sprachen und Sprachmelodien zu lauschen, war eine ganz besondere Erfahrung an diesem Abend.

Auf ein Highlight des vergangenen Abends kann und will ich mich gar nicht festlegen, fast alle Auftritte haben mich durch ihren ganz eigenen Charme begeistern können.

Etwas ganz besonderes war für mich der Auftritt von David Grossman, dessen beeindruckendes Buch „Aus der Zeit fallen“ ich bereits auf meinem Blog vorgestellt habe. Mit wenigen englischen Worten hat Grossman die Entstehungsgeschichte seines experimentellen Romans geschildert und dabei spürbar eine Beklemmung unter den Zuhöreren verursacht. Er schreibt, um gegen die Sprachlosigkeit nach dem Tod seines Sohnes anzugehen. Gestern hat er aus eben diesem Roman, „Aus der Zeit fallen“, gelesen und bei dem beeindruckten Publikum für eine Gänsehautatmosphäre gesorgt. Der anschließende Applaus fiel dementsprechend laut und wohlwollend aus und seine Bücher waren nach der anschließenden Pause am Büchertisch bereits fast ausverkauft. Ich habe mir zum Glück noch eines gesichert und freue mich schon auf die Lektüre.

Auch der spanischsprachige Songwriter und Oscargewinner Jorge Drexler, wusste das Publikum – nicht nur durch seine Deutschkenntnisse – zu begeistern, so dass den spanischen Refrain des letzten Liedes alle zusammen sangen. Auch Wolf Biermann griff zur Gitarre und trug dem Publikum zwei von seinen Liedern vor. Eckhard Henscheid („Das einzige, das sich auf Menschheit reimt, ist Henscheid.“) brachte die Zuschauer mit seinem trockenen und spöttelnden Humor nicht nur einmal zum Lachen und sorgte mit seinem Gedicht zu Ehren des Fußballers Bum Kun Cha für Erheiterung. Michael Augustin, der auf Englisch vortrug, stellte eine Vielzahl an spannenden, unterhaltsamen und schwermütigen Fragen, die alle in irgendeiner Form mit dem Gedicht zusammenhingen.

Ein Auftritt stach für mich dann völlig unerwartet und überraschend doch heraus: der Bremer Bas Böttcher brachte mit seinen humorvollen und poetischen Sprachspielen das zurückhaltende norddeutsche Publikum förmlich zum Kochen.

Bas Böttcher wurde 1974 geboren und gehört zu den bekanntesten deutschen Rap-Poeten. Das, was er mit Sprache macht, ist wohl am ehesten dem Poetry Slam zuzuordnen. Es geht um Authentizität,  Rhythmus, Sprachgefühl und allen möglichen Themen aus dem Alltag. Im Veranstaltungsheft wird sein Umgang mit Lyrik als Rap-Poesie bezeichnet. Sein gestriger Auftritt war einfach nur in jeglicher Hinsicht großartig: seine Vorträge waren nicht nur humorvoll, sondern spielten auch auf einer ungeheuer feinen Ebene mit Sprache.

“Aus falsch mach ich Flash
Aus Fehler mach ich Flair.”

Ich kenne leider nur wenige Poetry Slammer, geschweige denn Rap-Poeten, doch diesen Auftritt habe ich als unheimlich inspirierend empfunden. Ich hoffe sehr, dass dies nicht meine letzte Begegnung mit Bas Böttcher gewesen ist. Auf seiner Homepage kann man sich weiter über den jungen Sprachkünstler informieren. “Syntax Error”, mein Lieblingsstück des vergangenen Abends, kann man sich hier in voller Länge anhören.

Ich habe gestern einen großartigen Abend verbracht, der aufzeigen konnte, dass Poesie und Dichtung immer noch leben, immer noch gebraucht werden und immer noch eine gewaltige Sprachmacht entfalten können. Ich nehme für mich viele neue Eindrücke und Entdeckungen mit und die Hoffnung, dass es immer noch möglich ist, Menschen mit Sprache zu bewegen und zu erreichen.

Poetry on the Road

Vom 6. bis zum 10. Juni findet das 14. Internationale Literaturfestival Bremen “poetry on the road” statt. Insgesamt 25 Dichter aus ganz unterschiedlichen Nationen werden an den kommenden Tagen an verschiedenen Orten in Bremen lesen und performen. Das Festival zieht jedes Jahr mehrere tausend Besucher an, die voller Spannung und Freude fremde Dichterstimmen für sich entdecken wollen.

Zu den bekanntesten teilnehmenden Autoren dieses Jahr gehören Bas Böttcher, David Grossman, Eckhard Henscheid, Elke Schmitter, Olga Martynova, Wolf Biermann und Lars Gustafsson. 

“poetry on the road” wird heute eröffnet und morgen erwartet das Publikum bereits das erste Highlight: es werden alle teilnehmenden Autoren und Autorinnen vorgestellt und einige von ihnen werden live lesen und performen. Ich freue mich darauf, als Zuhörerin dabei sein zu können und bin sehr gespannt, was mich erwarten wird.

Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag – Gabriele Goettle

Die Autorin Gabriele Goettle wurde 1946 geboren und hat Bildhauerei, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Seit mehr als zwanzig Jahren schreibt sie Reportagen, die überwiegend in der taz veröffentlicht werden. 1995 wurde sie mit dem Ben-Witter-Preis und vier Jahre später mit dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet. Heutzutage lebt die Autorin in Berlin.

“Der Augenblick” versammelt sechundzwanzig Reportagen der Autorin, deren zentrales und vereinigendes Thema – der Untertitel des Buches deutet bereits darauf hin – eine Reise durch den unbekannten Alltag ist. Gabriele Goettle besucht Frauen, reist durch Deutschland und gewinnt Einblicke in das Leben unterschiedlicher Menschen: einer Buchhändlerin, einer Körperhistorikerin, einer Sozialarbeiterin, einer Arbeitslosen, einer Rechtsmedizinerin. Insgesamt sechsundzwanzig Frauen erzählen authentisch und unverfälscht aus ihrem Leben, ihrem Alltag und dem, was sie in ihrem Beruf erleben. Die Frauen werden in einer kurzen Einleitung vorgestellt, in der ihre wichtigsten Lebensdaten zusammengefasst werden. In den Reportagen kommen die Frauen dann überwiegend selbst zu Wort, unterbrochen lediglich von Eindrücken und Beobachtungen der Autorin, die sich ansonsten jedoch sehr zurücknimmt und die Rolle einer Beobachterin einnimmt.

Als ich das Buch aufschlug, um die erste Reportage zu lesen, war ich überrascht, denn es handelt sich um ein Porträt der Bremer Buchhändlerin Bettina Wassmann. Bettina Wassmann betreibt seit 1969 ihre eigene Buchhandlung Wassmann in der Bremer Innenstadt. Neben ihrer Arbeit als Buchhändlerin ist sie auch als Verlegerin tätig und für die Veröffentlichung mehrere bibliophiler Bücher verantwortlich. Bettina Wassmann war mit Alfred Sohn-Rethel verheiratet, einem marxistischen Philosophen und Wirtschaftssoziologen.

“Der Buchladen von Bettina Wassmann liegt in der Innenstadt Bremens, am Wall, einer sich lang und bogenförmig dahinziehenden Geschäftsstraße, in der neben Kunsthalle, Anwaltsverein und Oberverwaltungsgericht auch Galerien, Mode- und Designgeschäfte, Restaurants, Cafés, Antiquitätenhändler, Bibliotheken und das Friedensbüro für Kriegsdienstverweigerer residieren. Gegenüber der Geschäftsmeile erstreckt sich ein Park, die Wallanlagen, mit ihren im Zickzack der ehemaligen Zitadellenform verlaufenden Wassergräben. Diese unscheinbare Grünanlage übrigens war die erste öffentliche Parkanlage Deutschlands.”

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In dem Porträt, das unter dem Motto “Hand- und Kopfarbeiterin”  steht, spricht Bettina Wassmann über ihre Arbeit als Buchhändlerin. Ihre Buchhandlung musste mittlerweile verkleinern, nachdem sie sich zu Beginn noch über zwei Etagen erstreckte. Überhaupt beklagt sie, dass sich die Zeiten seit der Eröffnung des Buchladens geändert haben. Früher hatte sie noch Kunden, wie den ehemaligen Werdertrainer Otto Rehhagel oder die Leiterin des Bremer Tanztheaters, heutzutage ist das alles schwieriger geworden und Bettina Wassmann muss sich diesen modernen Entwicklungen anpassen und “flexibel” bleiben.

“600 Euro habe ich hier, und noch mal 600 Euro zu Hause. Also, machen wir uns nichts vor, die Zeiten sind ganz schwierig. Wir müssen wirklich immer sehen, wie wir es packen. Ganz viele Läden mußten hier raus. Mit dem Verlag – naja, Verlag in dem Sinn ist es ja nicht, es ist eine Buchladenedition – , das habe ich einfach im Moment eingestellt.”

Ich habe es als unheimlich spannend empfunden, nicht nur von der Arbeit einer Buchhändlerin und Verlegerin zu lesen, sondern mich mit dem Buch in der Hand auf den Weg machen zu können und die Orte zu besuchen, die im Buch beschrieben werden. Auch wenn ich zeit meines Lebens in Bremen wohne, habe ich diese Buchhandlung zuvor nicht gekannt – zu versteckt liegt sie zwischen Bettengeschäften und Designermöbelläden. Am Tag meines Besuches hatte die Buchhandlung leider bereits geschlossen, doch es wird wohl nicht mein letzter Abstecher dorthin gewesen sein.

Auch die anderen Reportagen von Gabriele Goettle sind sowohl spannend, als auch lebensnah geschildert. Sie porträtiert die bekannte Körperhistorikerin Barbara Duden, aber auch ganz unbekannte Menschen und deren Berufe. Einige der vorgestellten Berufe und unbekannten Alltage, waren mir sehr fremd, beispielsweise das Porträt von Ingrid Distler, die Weltmeisterin im Bodybuilding ist und über Körperfett, ihren Hüftumfang, ihre Taille und ihren Bizeps spricht. Bei Beispielen wie diesem fiel es mir schwer, mich auf die Lebenswelt dieser Menschen einzulassen.  Gabriele Goettle taucht dagegen scheinbar ohne Vorbehalte und Vorurteile ab in die Lebensentwürfe von ihr fremden Menschen, auch wenn diese auf den ersten Blick noch so abwegig oder fremd erscheinen mögen. Das habe ich bei der Lektüre als sehr bewundernswert empfunden. Sie widmet sich auch schwierigen Themen, besucht eine Rechtsmedizinerin, die auf Kindesmisshandlungen spezialisiert ist, eine Bestatterin oder auch eine Sozialarbeiterin. Am berührendsten und eindrücklichsten empfand ich das Porträt einer Altenpflegerin, die eine Demenz-WG gegründet hat.

“Der Augenblick” von Gabriele Goettle ist ein vielschichtiges Buch, in dem es vieles zu entdecken gibt. Sie befragt ausschließlich Frauen, die sie in ihrer Lebens- und Berufswelt porträtiert. Dabei sind eindrückliche Gespräche und Momentaufnahmen gelungen, die ich sehr gerne gelesen habe. Eine Empfehlung, nicht nur für Frauen!

Vea Kaiser hat Bremen zum Lachen gebracht!

Am 30. Januar las Vea Kaiser in der Storm Buchhandlung aus ihrem Debütroman “Blasmusikpop” vor. Es sollte eine der unterhaltsamsten und vergnügtesten Lesungen werden, die ich bisher erlebt habe.

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Zu Beginn betonte Vea Kaiser ihre gute Beziehung zu Bremen, die vor allem im Fußball begründet ist. Weil es bei ihrer Lieblingsmannschaft Rapid Wien im Moment nicht so gut läuft, hat sie sich Werder Bremen zugewendet. Werder Bremen wird in der Fußballszene auch als “little Austria” bezeichnet wird, weil dort viele österreichische Fußballer spielen. Vea Kaiser war an diesem Abend jedoch nicht nur gekommen, um über Fußball zu fachsimpeln, sondern auch, um aus ihren skurrilen und vor Ideen sprühenden Debütroman “Blasmusikpop” vorzulesen.

Vea Kaiser hat die zahlreichen Zuhörer sehr sympathisch in die Geschichte ihres Buches und in die Handlung des Romans eingeführt. Vorweg hat sie amüsiert darüber berichtet, dass sich nach der Veröffentlichung ihres Romans 26 Gemeinden bei ihr gemeldet haben, um zu beweisen, dass der fiktive Handlungsort St. Peter am Anger ihrem eigenen Dorf ähneln müsse. Ein Bürgermeister eines Dorfes aus der Schweiz analysierte mögliche Ähnlichkeiten in einem fünf Seiten langen Brief: die Bewohner seines Dorfes lebten genauso abgeschottet, die Blaskapelle treffe auch nur jeden zweiten Ton und der Bürgermeister sei genauso fett …

Im Anschluss an die Lesung, bei der viel gelacht wurde, war Vea Kaiser bereit, Fragen zu beantworten – alle Fragen, “bis auf die Frage, wie das Buch ausgeht”. Offen und ausgesprochen sympathisch erzählte Vea Kaiser – immer gerne mit einer Anekdote untermalt – über ihr Buch, ihre Liebe zum Altgriechischen und die Verfilmung des Romans.

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Vea Kaiser schrieb “Blasmusikpop” in einer Quarterlife Crisis – ihr Freund hatte sich von ihr getrennt und sie wollte endlich mal ein Projekt beginnen, was sie auch zu Ende führt, denn ihr bisheriges Leben war von Hobbys geprägt, die sie meistens nach einem halben Jahr wieder abgebrochen hat, um etwas Neues zu beginnen. Für das Schreiben ihres Debütromans brauchte Vea Kaiser knappe zwei Jahre. Die Zuhörer der Lesung beeindruckt sie damit, dass sie auf den Tag genau das Datum nennen konnte, an dem sie anfing zu schreiben und an dem sie den Roman beendete. Thematisiert wurde auch Vea Kaisers Leidenschaft für Griechisch und ihre Begeisterung für das Fußball spielen. Die Schule, die sie besuchte war das Gymnasium der englischen Fräulein und die Jungs der Fußballmannschaft mussten mit einem Trikot auflaufen, auf dessen Rückseite die Worte “englische Fräulein” standen. Als sich die Jungs weigerten in diesem Trikot Fußball zu spielen, war dies die Chance für die Mädchen – ihre Fußballkarriere gab Vea Kaiser dann jedoch nach einem gebrochenen Fuß wieder auf. Während derVerletzungspause hatte sie zu viele andere interessante Hobbys gefunden. Scherzhaft bemerkt sie, dass das ja im Rückblick schade sei, denn ansonsten hätte sie ja vielleicht doch etwas Vernünftiges gelernt. Ihr Griechischstudium bezeichnet sie als “studieren wie im 19. Jahrhundert”. Sie studiert mit 35 Kommilitonen, von denen 17 bereits in Pension sind. Jeder hat auf seine Weise einen Schuss weg und Vea Kaiser nimmt sich selbst dabei auch nicht aus.

Vea Kaiser hat bereits eine neue Idee, die ihr auf einer Zugfahrt nach Prag eingefallen ist. Der neue Roman spielt in einer griechischen Schaumstofffabrik, die geschlossen werden muss. Hauptfigur wird Jannis sein, der ein unverbesserlicher Optimist ist – wir können uns also auf etwas Neues freuen. Ganz am Ende verrät sie auch, dass “Blasmusikpop” verfilmt wird. Ihr einziger Wunsch bei der Produktion ist ein Undercoverauftritt: als Mutter, mit dickem Plastikbusen, Schweißbändern und Nordic Walking Stöcken …

Die Lesung von Vea Kaiser war witzig, humorvoll, unterhaltsam und unheimlich mitreißend. Viele Zuschauer haben sich im Anschluss ihr Buch gekauft und ich kann an dieser Stelle meinen Aufruf aus meiner Besprechung nur noch einmal wiederholen: lest Vea Kaiser! Lest “Blasmusikpop”.

Ich hatte die Chance, Vea Kaiser im Vorfeld der Lesung zu einem Interview zu treffen, mehr darüber lest ihr hier.

Die Stimme versagt – Marica Bodrožić in Bremen

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© Peter von Felbert

Im Rahmen der LiteraTour Nord las Marica Bodrožić am gestrigen Sonntag im Café Ambiente aus ihrem neusten Roman “kirschholz und alte gefühle”.  Marica Bodrožić wurde 1973 in Kroatien, in der Nähe der Stadt Split, geboren. 1983 zog sie nach Deutschland, machte ihr Abitur in Hessen und studierte anschließend Kulturanthropologie und Slawistik. Heutzutage arbeitet sie als freie Schriftstellerin, darüber hinaus hat sie in das Filmgeschäft hineingeschnuppert und war als Gastdozentin für Creative Writing in den USA.

Zentrales Thema ihres neuen Romans “kirschholz und alte gefühle”, ist die Erinnerung und das Gedächtnis. Marica Bodrožić stellt in ihrem Roman die Erinnerung als etwas Flüchtiges dar, das bei jedem Rückblick eine andere Färbung erhält.

In seiner Einführung kündigt der Moderator Gert Sautermeister an, dass besondere Umstände es erfordern, dass die Lesung in verteilten Rollen stattfinden müsste. Marica Bodrožić erklärt krächzend, dass dies ein ganz schwerer Moment für sie sei, da sie ihre Stimme verloren hat, aber zur Lesung gekommen ist, um zu zeigen, dass sie willens ist. Morgens habe sie noch in Oldenburg gelesen, aber am Nachmittag sei ihre Stimme weggebrochen, trotz des Ingwertees, den sie getrunken hat. So sind wir Zuschauer in den Genuss einer ganz ungewöhnlichen Lesung gekommen, da zwei Stellvertreter gelesen haben, um die Autorin nicht weiter zu belasten: Gert Sautermeister und ein Zuschauer, der sich spontan bereit erklärt hat, haben jeweils einen Teil aus dem Roman übernommen.

Im anschließenden Gespräch, das aufgrund der krankheitsbedingten Umstände kurz gehalten wurde, konnte Marica Bodrožić einige kurze aber überaus interessante Antworten auf Fragen aus dem Publikum geben. Die belagerte Stadt, die im Buch namenlos bleibt, ist natürlich Sarajewo. Der Name wird nicht genannt, um deutlich zu machen, dass es auch anderswo Terror, Belagerung und Barbarei gibt, dass überall Menschen, die Shakespeare lesen, auch andere Menschen umbringen können. Marica Bodrožić macht in ihrem Buch deutlich, dass Kriege in Europa immer noch stattfinden, denn viele Menschen in Deutschland denken bei Krieg als erstes an den 2. Weltkrieg. Sie weist auf ihr Erstaunen über die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten hin, der sagte, dass es seit 60 Jahren keinen Krieg mehr in Europa gegeben habe. Und was ist mit Jugoslawien, fragt Marica Bodrožić?

Die Figur aus ihrem Buch, die ihr am stärksten ans Herz gewachsen ist, ist der Jude Mischa, denn Mischa sei ein Mensch, der die Sprache seiner Kindheit nicht hassen kann. Stattdessen versucht er über die Liebe und Freude einen Weg zurückzufinden in ein besseres Leben. Im realen Leben ist ihr Hannah Arendt ein leuchtendes Vorbild, weil sie unbestechlich geblieben ist. Dies hat Hannah Arendt nicht immer sympathisch gemacht, aber genau das bewundert Marica Bodrožić,  dass man bereit ist, alles zu verlieren und nicht weiß, was man dafür bekommt. Eine ähnliche Figur, die sich aller Eindeutigkeit verweigert, ist Arik, die männliche Hauptfigur ihres Romans. Arik ist rätselhaft und nicht unbedingt sympathisch, aber die Erzählerin des Romans lernt so viel durch ihn: “Der Stein, über den ich stolpere ist der, von dem ich etwas lernen kann.”

Ich glaube, dass Marica Bodrožić selbst gestern Abend am stärksten unter ihrer Sprachlosigkeit gelitten hat: “Ich bin Löwin und rede sehr gerne. Ich leide, weil ich das heute nicht tun kann.” Dennoch habe ich gestern eine sympathische und überaus interessante Autorin kennengelernt, von der ich gerne noch mehr entdecken möchte.

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