Browsing Tag

demenz

Nachts, wenn der Tiger kommt – Fiona McFarlane

Ruth ist eine betagte Frau, die seit dem Tod ihres Mannes ein einsames Leben in einem abgelegenen Strandhaus führt. Doch eines Tages bekommt sie Besuch, eine fremde Frau steht vor der Tür –  angeblich wurde sie vom Staat als Pflegekraft geschickt, doch wer ist Frida wirklich? Von diesem Tag an verliert Ruth zusehends die Kontrolle über ihr eigenes Leben und muss sich irgendwann fragen, wem sie überhaupt noch trauen kann.

“Ich hatte diesen Traum, dass das Meer hierherkam zu uns, hierher auf unseren Hügel. […] Und da waren all diese Boote auf den Wellen – altmodische Boote, wissen Sie, wie man sie manchmal im Fernsehen sieht, einige mit Segeln, andere mit Rauchwolken und riesigen Schornsteinen. Sie kamen genau auf uns zu, hier auf unseren Hügel, und die Leute auf ihnen winkten wie verrückt. Ich konnte nicht sagen, ob sie uns zuwinkten, oder ob sie wollten, dass wir uns in Sicherheit brachten.”

Eines Nachts wird Ruth wach und glaubt, einen Tiger in ihrem Haus zu hören. Nur wenige Tage später steht plötzlich eine fremde Frau vor der Tür. Frida behauptet, dass sie vom Staat als Pflegekraft geschickt wurde. Ruth ist zunächst irritiert und unsicher, ob sie der fremden Frau glauben kann, doch Frida gewinnt Stück für Stück ihr Vertrauen und schon bald genießt Ruth die ungewohnte Aufmerksamkeit und Gesellschaft. Ihr Mann Harry ist erst vor kurzem verstorben, seitdem lebt Ruth zurückgezogen und allein. Ihre beiden erwachsenen Söhne leben schon lange nicht mehr in Australien, Kontakt zu ihrer Mutter halten sie meistens über das Telefon. Ihre Söhne sind vor allem erleichtert, dass sich endlich jemand um die Mutter kümmert, die einen zunehmend verwirrten Eindruck gemacht hat.

Frida gelingt es, sich in Ruths Leben einzuschleichen – sie fängt an, als Pflegekraft zu arbeiten und einmal am Tag vorbeizuschauen, doch bald darauf, bezieht sie bereits ihr eigenes Zimmer in Ruths Haus. Schleichend, aber für den Leser immer offensichtlicher, verändert sich nicht nur Ruth, sondern auch ihre Beziehung zu Frida und die Atmosphäre im Haus. Nachdem sie sich dazu entscheidet, ihre erste große Liebe, für ein Wochenende zu sich einzuladen, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle: Nacht für Nacht, glaubt Ruth, einen Tiger zu hören, den Frida mutig bekämpft. Je verwirrter Ruth wird, desto stärker übernimmt Frida die Kontrolle im Haus und degradiert Ruth zur Zuschauerin dieses Schauspiels, genauso wie den Leser, der atemlos mitverfolgt, was geschieht und sich fragt, was diese seltsame Frau wohl im Schilde führt.

“Ruth fühlte sich so wie früher, als sie noch jünger war, als ihre Füße noch fester auf dem Boden standen und ihre Kinder und ihr Mann schliefen; das Gefühl war wie eine Adresse, zu der sie zurückgekehrt war, und sie fragte sich, warum sie so lange weg gewesen war.”

Fiona McFarlane nähert sich dem Thema Alter aus einer ganz besonderen Perspektive an, denn sie begibt sich mitten hinein in den verwirrten Kopf einer älteren Frau. Es ist der Einzug Fridas, der Ruths Leben nachhaltig durcheinanderwirbelt. Das, was zuvor auf festem Boden stand, gerät nun plötzlich ins Rutschen. Ruth wird von Frida isoliert und bevormundet, sie wird ihrer Mobilität und Eigenständigkeit beraubt und all dies führt dazu, dass die alte Frau in rasender Geschwindigkeit abbaut. Die Realität ist für sie kaum noch auszumachen, sie befindet sich überwiegend in einem Zustand der geistigen Verwirrung. Der Leser ist dazu geneigt, die Situation aus den Augen Ruths zu betrachten, doch während mir Seite für Seite mehr Ungereimtheiten auffielen und ich damit begann, mir immer mehr Fragen zur Rolle Fridas zu stellen, gelingt es Ruth nicht mehr, einen Schritt zurückzutreten und Zweifel an der Situation zu entwickeln. Es gibt Momente, in denen Ruth kurz aufwacht, in denen sie erkennt, dass Frida ein falsches Spiel mit ihr spielt, doch ihr fehlen die körperlichen und psychischen Ressourcen, um sich wehren zu können.

“Frida tat immer, was sie selbst tun wollte. Das wusste Ruth, so wie sie wusste, dass Frida nicht ehrlich war und sie auf irgendeine Weise zum Narren gehalten hatte.”

Das Wort Demenz fällt in diesem Roman an keiner einzigen Stelle, es ist nicht klar, ob Ruth an einer Erkrankung leidet. Die Halluzinationen, das zunehmende Erinnern an die Vergangenheit, die Unfähigkeit, die Realität zu erfassen – all dies könnte auf eine Demenzerkrankung hindeuten. Deutlich ist jedoch, dass die Manipulationen Fridas dazu führen, dass Ruth ein isoliertes Leben führt, in dem sie kaum noch Kontakte nach außen hat, in dem sie kein Korrektiv hat und in dem sie zunehmend den Halt und den Bezug zur Realität verliert.

“Frida hatte die Dinge nicht mehr unter Kontrolle, Frida hatte Angst. Sie hatte den Tiger bekämpft, aber jetzt lehnte sie mit blassem Gesicht am Fensterbrett, weil sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass ihre Beine sie trugen.”

“Nachts, wenn der Tiger kommt” überzeugt durch eine starke Sprache und eine soghafte Erzählung, aber vor allem dadurch, dass es der jungen Autorin gelingt, den Leser mitten hinein in Ruths Kopf zu pflanzen. Aus dieser Perspektive heraus erlebt der Leser ihr langsames Weggleiten aus der Realität, das in einem fürchterlichen Schrecken endet – irgendwo zwischen Phantasie und Wirklichkeit.

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm – Selja Ahava

Selja Ahava wurde 1974 geboren, studierte Dramaturgie an der Theaterhochschule Helsinki und hat zahlreiche Drehbücher für Spielfilme und Fernsehserien geschrieben. Mit “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm”, legte sie in diesem Frühjahr ihren Debütroman vor. Aus dem Finnischen übersetzt wurde er von Stefan Moster, der übrigens nicht nur Übersetzer ist, sondern auch Schriftsteller.

DSC_9909

“Früher musste ich nach ein, zwei Wörtern suchen. Heute kommen mir ganze Gedanken abhanden. Aber ich habe Erinnerungen.”

Anna ist eine Frau, der die Wörter abhanden gekommen sind, die sich ihre Erinnerungen jedoch bewahrt hat. Sie ist mittlerweile eine alte Frau, aber ihr Gedächtnis hat bereits in jungen Jahren angefangen zu leiden. Der plötzliche Verlust ihres Mannes Antti hat ihr den Boden unter ihren Füßen weggezogen, er hat ihre ganze Welt erschüttert, auch ihr Gedächtnis. Mittlerweile sind die Erinnerungslücken immer größer geworden und Ereignisse der Vergangenheit purzeln ohne Zusammenhang durch ihren verwirrten Kopf. Dennoch versucht sie sich an das was war zu erinnern, so gut sie eben kann – den Leser lässt sie an diesen Erinnerungen teilhaben. Es sind ungefilterte und verwirrende Episoden der Vergangenheit.

“Es gab Morgen, an denen Antti in der Stadt war und Anna alleine mit dem Hund aufwachte. Dann kochte sie Kaffee, hörte die Nachrichten, sah auf die Uhr und dachte, noch vierzehn Stunden, und ich kann wieder schlafen gehen. An solchen Morgen saß sie auf der Veranda, schaute vor sich hin und dachte schlicht und einfach: Stein, Birke, Gras, Stuhl. Stein, Birke, Gras, Stuhl.”

Wenn man so will, dann wird in “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” Annas Biographie erzählt, es ist ihr Leben, das hier erzählt wird – ihr Leben aus ihrer eigenen Perspektive, oder dem, was davon noch übrig ist. Das Wort Demenz fällt an keiner Stelle und doch ist die Erkrankung von Anna beinahe offensichtlich, doch bei ihr ist es keine Erkrankung, die im hohen Alter aufgetreten ist, die Wurzeln ihrer Gedächtnisstörung liegen tief in ihrer Vergangenheit begründet – der Auslöser dafür war der Verlust von Antti. Antti, der bei einem schweren Autounfall starb, ist nicht nur plötzlich aus ihrer Welt gefallen, sondern dieser Verlust ließ auch Anna aus jeglichen Zusammenhängen fallen.

“Von der Eiszeit glatt geschliffener Fels, von der Sauna weiche Haut. Sommersprossen und Froschteiche. Anna war mit Antti so fest verwachsen wie die Kiefer mit dem Felsen.”

Wir erfahren von ihrem Neuanfang mit Thomas, mit dem sie in England lebt, weit weg von dem Leben, das sie in Finnland gelebt hat, weit weg von den Erinnerungen an Antti, die immer stärker verblassen, doch immer noch da sind. Bereits da werden ihre Schwierigkeiten im Alltag sichtbar, manchmal verliert sie die Orientierung, vergisst, wo sie sich befindet, vergisst, mit wem sie zusammenlebt. Sie erhält Besuch, von ihren sechs Kindern, die im ersten Moment so wirklich erscheinen, dass ich einige Zeit brauche, bevor ich verstehe, dass es sich bei ihren Kindern um Phantasiegestalten handelt. Später erhält sie Besuch von Gott und von einer Bärenfamilie. Beim Blick zurück wird deutlich, wie das Leben von Anna Stück für Stück immer weiter auseinander bricht und aus den Fugen gerät. Der Wal, den sie eines Tages in London zu sehen glaubt, den hat es aber scheinbar wirklich gegeben – immerhin.

“Antti kannte die Erlen am Ufer und wusste sofort, um welche von ihnen es sich handelte. Er erinnert sich an die Aussicht dahinter, an die Steine des Riffs und an die kleine Möweninsel, an die Markierung der Fahrrinne und den Marinekai und konnte sich vorstellen, wie der umgestürzte, kaputte Baum aussah. Es tut gut, sich eine Landschaft zu teilen. Es tat gut, eine Sache nach der anderen auszusprechen, zu sagen, was man zwischen den Erlen jetzt sah. Für niemanden sonst wäre das von Bedeutung gewesen, aber Anna und Antti konnten gemeinsam auflisten: Riff, kleine Felsinsel, Untiefenmarkierung, Möweninsel, Kai.”

Selja Ahava erzählt in ihrem Debütroman eine außergewöhnliche Geschichte. Romane über Demenz gibt es mittlerweile viele, doch das ungewöhnliche an diesem Roman ist seine Perspektive: Anna und ihre schwindenden Erinnerungen werden nicht von außen beschrieben, sondern von innen – aus ihrem Kopf heraus. Natürlich fehlt es der Geschichte manchmal an Zusammenhängen, an Klarheit, manchmal fehlte mir das Verständnis dafür Situationen begreifen zu können. Selja Ahava pflanzt den Leser erbarmungslos hinein in Annas Kopf. Durch diesen literarischen Kniff wird die zunehmende Verzweiflung, die Anna aufgrund ihres Gedächtnisverlusts spüren muss schmerzhaft greifbar.

Im Klappentext wird “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” als ein Roman über die Kraft der Wörter und der Fantasie beschrieben. Auch ich habe diese Kraft in dem Roman gefunden, trotz der zunehmenden Wortverluste, bleibt Sprache ein wichtiges Instrument für Anna, sie versucht ihre Vergangenheit immer wieder auf neuen Wegen zu beschreiben. Doch der Roman ist nicht nur poetisch und märchenhaft, für mich stand dagegen viel mehr die authentische Abbildung einer Gedächtniserkankung im Vordergrund. Trotz aller Fantasie erzählt Selja Ahava eine tieftraurige Geschichte über eine Frau, der die Realität Stück für Stück entgleitet – “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” ist vor allem eine schmerzhafte Lektüre.

“Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen, dachte Anna. Dann könnte man den Winter über davon zehren. Es gab genug solcher Augenblick für den ganzen Winter.”

“Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” ist ein Roman über die Kostbarkeit des Lebens, in dem vieles unausgesprochen bleibt. Vielleicht haben diese leeren Stellen mich ganz besonders berührt. Getragen wird die Geschichte von Anna, die ich in all ihrer Verzweiflung, ihrer Angst und ihrer tiefen Traurigkeit ins Herz geschlossen habe. Als Leser muss man dazu bereit sein, sich auf die ungewöhnliche Perspektive einzulassen, damit der Roman funktioniert – ich hoffe, es finden sich noch ganz viele, die dazu bereit sind.

%d bloggers like this: