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Ein Jahr auf dem Land – Anna Quindlen

Wenn man sich das Cover und den Klappentext anschaut, beschleicht einen das Gefühl, vielleicht zu etwas seichter Lektüre gegriffen zu haben. Doch der Roman lässt sich zwar flott lesen, verliert dabei aber nie den literarischen Anspruch und bietet nebenbei auch einigen Stoff zum Nachdenken. Für mich ist Ein Jahr auf dem Land das perfekte Sommerbuch.

Quindlen

Es gab Nächte, da erwachte sie mit einem Stacheldrahtzaun aus leichtem, aber unverkennbarem Schmerz rund ums Herz.

In Amerika ist Ein Jahr auf dem Land unter dem Titel Still life with bread crumbs erschienen und hat bei Kritik und Publikum gleichermaßen für Furore gesorgt – eine viertel Million Mal wurde das Buch verkauft. Ein Blick auf den Klappentext verrät, dass es um Rebecca Winter geht, einer in die Jahre gekommenen Frau, die plötzlich und gezwungenermaßen vor einem Wendepunkt im Leben steht. Von ihrem Mann hat sie sich scheiden lassen, ihr erwachsener Sohn lebt sein eigenes Leben und ihre großen Erfolge als Künstlerin liegen schon lange hinter ihr. Die Tantiemen werden immer geringer und das Ersparte rinnt ihr durch die Finger. Ihr Apartment in New York kann sie irgendwann nicht mehr finanzieren, aber trennen möchte sie sich noch nicht von diesem Leben, das einen so wichtigen Teil ihrer Identität ausmacht. Stattdessen vermietet sie ihre Wohnung unter und zieht in ein leicht ramponiertes und vor allen Dingen günstiges Häuschen fernab der Stadt. Was als unfreiwillige Auszeit vom wirklichen Leben beginnt, nimmt plötzlich eine Entwicklung, die sich Rebecca Winter vorher nie hätte erträumen können. Sie verlässt die alten, ausgetretenen Pfade und findet den Mut, neue Wege zu gehen. Auf diesen Wegen begegnet ihr nicht nur eine neue Liebe, sondern auch längst verloren geglaubte Inspiration.

Kein halbes Jahr später war Rebecca Winter zur feministischen Ikone avanciert, ihre Küchentisch-Serie wurde von Kunstkritikern und Essayisten gleichermaßen als Überhöhung und Verurteilung des weiblichen Lebens und des weiblichen Tätigkeitsfelds gefeiert.

Als Rebecca Winter aus ihrem alten Leben aussteigen muss, ist sie beinahe sechzig Jahre alt. Ihren größten künstlerischen Erfolg hat sie als junge Frau gefeiert: Stillleben mit Brotkrümeln sorgte für ihren Durchbruch. Darüber war sie selbst am meisten überrascht: ihr Mann war ein Bilderbuchmacho, der seine Frau nach durchfeierten Nächten gerne mit dem Geschirr in der Küche allein zurückgelassen hat. Einen solchen Geschirrstapel hat Rebecca – völlig erschöpft und nach einer durchfeierten Nacht – in der Küche fotografiert. Es war ein spontaner Schnappschuss, auch wenn ihr das niemand glauben möchte. Ein Schnappschuss frei von jeglicher Inszenierung. Sie wird mit dem Foto berühmt, auch wenn sich ihre Kritiker um die tiefere Bedeutung der Komposition streiten: ist die Aufnahme als feministisches Statement zu interpretieren oder doch eher als flämische Komposition?

Sie wollten auch alle nicht glauben, dass sie einfach nur fotografiert hatte, was sie vorfand: eine leere Flasche, die auf der Seite lag und an deren geschwungenen Rand noch ein Tropfen Olivenöl schimmerte, eine Handvoll öliger Gabeln, die im Schein der Deckenlampe gänzten, und natürlich, das Bild, das später Stillleben mit Brotkrümeln heißen sollte, eine entfernt flämisch anmutende Komposition aus benutzten Weingläsern, gestapelten Tellern, den abgerissenen Resten zweier Baguettestangen und einem Küchentuch, dessen eine Ecke von der Flamme des Gasherds ein wenig angesengt war. 

Unsere heutigen Lebensstrukturen – es passiert immer seltener, dass man jahrelang denselben Beruf ausübt und auch Scheidungen und Trennungen nehmen zu – bedingen es, dass man gezwungen ist, sich immer wieder neu zu erfinden. Auch Rebecca Winter gerät in diese (finanziell bedingte) Zwangslage, aus der heraus sie in ein neues Leben starten muss. Plötzlich ist sie für ihr Leben ganz allein verantwortlich, nichts wird ihr mehr abgenommen und in dem baufälligen Häuschen ist so einiges zu tun. Doch es gelingt ihr, die neuen Umstände nicht nur anzunehmen, sondern in etwas Positives umzuwandeln: sie fängt plötzlich wieder an zu arbeiten, trifft einen Mann, den sie anziehend findet und legt sich einen zotteligen Vierbeiner zu. Stück für Stick richtet sie sich in diesem unbekannten Leben ein und wandelt ein bitteres Ende in einen verheißungsvollen Neuanfang um.

Wie sollte es weitergehen? Wie und wo sollte sie leben? Womit ihr Geld verdienen? Sie wusste, jeder vernünftige Mensch würde ihr raten, sich zu verkleinern, abzuspecken, die Wohnung zu verkaufen, doch so etwas konnte man nur sagen, wenn man die Wohnung als Immobilie betrachtete und nicht als Zuhause. Wie wollte ihr Zuhause nicht verkaufen. Für sie war es die letzte Verbindung zu dem Ich, das sie einmal gewesen war.

Anna Quindlen erzählt in Ein Jahr auf dem Land die Geschichte eines Neuanfangs, sie erzählt von einer Selbstfindungsreise, von einer Befreiungsgeschichte. Und sie erzählt eine Liebesgeschichte, natürlich mit Happy End. Das hört sich möglicherweise alles kitschig an und vielleicht ist es das sogar – ein ganz klein wenig – und dennoch ist dieses Buch mehr als eine leichte und unterhaltsame Lektüre. Es ist ein Buch, das einen nachdenken lässt über die Ausrichtung des eigenen Lebens und es ist ein Buch, das die Angst davor nimmt, dass Dinge manchmal auch zu Ende gehen können. Das, was danach kommt, ist vielleicht sowieso viel besser, viel erfüllter, viel mehr das, was man sich immer gewünscht hat. Anna Quindlen macht Lust auf Neuanfänge und macht Mut, sich zu trauen und auch mal etwas zu wagen. Es mag kitschig klingen, doch eigentlich kann man nur gewinnen, wenn man sich traut, ausgetretene Pfade auch mal zu verlassen.

Ein Jahr auf dem Land ist leicht, unterhaltsam, flott zu lesen und zwischendrin auch noch recht witzig – es ist gleichsam aber auch eine berührende und mutmachende Lektüre, die nie den literarischen Anspruch verliert. Für mich sind das die idealen Bestandteile eines wunderbaren Sommerbuchs.

Anna Quindlen: Ein Jahr auf dem Land. Aus dem Englischen von Tanja Handels. DVA Verlag, München 2015. 320 Seiten, €19,99. Wer mal reinlesen möchte, kann sich hier eine Leseprobe runterladen.

Quindlen Verlosung

Wer jetzt neugierig geworden ist, der hat die Chance, ein Exemplar vom Ein Jahr auf dem Land zu gewinnen. Hinterlasst mir einfach bis zum 3.7. um 24 Uhr einen Kommentar oder schreibt mir eine E-Mail an mara.giese@buzzaldrins.de.

Viel Glück!

Eine strahlende Zukunft – Richard Yates

30 Jahre lang musste das deutsche Publikum auf diesen Roman warten, der im Original 1984 erschien und den Titel “Young hearts crying” trägt, doch nun liegt er endlich in der hervorragenden Übersetzung von Thomas Gunkel vor. “Eine strahlende Zukunft” ist die letzte Veröffentlichung von Richard Yates gewesen, dem die große Anerkennung zu seinen Lebzeiten verweigert wurde. Auch in diesem Roman widmet er sich erneut seinen zentralen Themen: dem Leben, der Vorstadthölle, der Ehe und wie all dies zu Bruch gehen kann, schleichend und doch unaufhaltsam.

“Mit dreiundzwanzig hatte Michael Davenport gelernt, seiner eigenen Skepsis zu trauen. Er hielt nichts von Mythen oder Legenden, nicht einmal in Gestalt allgemeiner Annahmen; er wollte stets zur wahren Geschichte vordringen.”

Richard Yates

Richard Yates seziert in “Eine strahlende Zukunft” das zerbrechliche Konstrukt der Ehe und die Fragilität von Lebensträumen. Im Zentrum des Romans steht der Schriftsteller Michael Davenport, der Gedichte und Theaterstücke schreibt und seine junge Ehefrau Lucy Blaine. Beide haben jung geheiratet, erst nach der Hochzeit erfährt Michael, dass er nicht nur eine Tochter aus gutem Hause geheiratet hat, dies hat er bereits geahnt, sondern dass Lucy über ein Millionenerbe verfügt. Für Michael ist es unvorstellbar, vom Geld seiner Frau zu leben, statt in Saus und Braus zu leben, hausen sie mit ihrer Tochter Laura in ärmlichen Verhältnissen. Es zieht sie immer weiter weg aus New York, von Vorort zu Vorort – immer auf der Jagd nach dem Glück.

“Nichts ist unordentlich, nichts verkorkst, nichts aus den Fugen. Wahrscheinlich will man genau das, wenn man … verheiratet ist und eine Familie und alles hat. Es dürfte Millionen von Menschen geben, die alles dafür geben würden, hier wohnen zu können […].”

Doch Glück stellt sich bei den Davenports irgendwie nicht so wirklich ein. Michael bleibt ein erfolgloser Dichter, die Erfolge, die er feiert, sind klein. Mit seiner Arbeit als Schriftsteller kann er kaum zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Lucy lebt ein Leben im Schatten ihres Mannes, immer auf seinen großen Durchbruch wartend und zunehmend unzufrieden. Sie leidet vor allem unter den zweckmäßigen Wohnverhältnissen, in denen sie leben. Die Unzufriedenheit gipfelt irgendwann in einer Trennung und einer anschließenden Scheidung, das, was sich beide einstmals erhofft hatten, konnte sich nie erfüllen.

“Die Ehe ist wirklich seltsam […]. Man kann jahrelang miteinander leben, ohne zu wissen, mit wem man da verheiratet ist. Das ist doch ein Rätsel.”

Anschließend begleitet Richard Yates das weitere Leben seiner beiden Hauptfiguren: beide bleiben weiterhin auf der atemlosen Suche nach dem großen Glück, ohne eigentlich genau zu wissen, wie dieses große Glück aussehen könnte. Wechselnde Partnerschaften, die meistens in schnellen Trennungen ändern, kennzeichnen den weiteren Lebensweg von Lucy und Michael. Der Moment, in dem beide jung waren und sich Hals über Kopf ineinander verliebten, ist lange her – das Leben ist mittlerweile schal geworden. Beide sind voneinander geschieden, doch ihre Abstürze ähneln einander und werden im Absturz der gemeinsamen Tochter, die zum Hippie mutiert und den Halt im Leben verliert, gespiegelt.

“Ich weiß, was du meinst, aber ich bin nicht deiner Meinung. Ich habe immer schon deine Ansicht zu allem gekannt; das war nie das Problem. Das Problem ist, dass ich nie deiner Meinung war – kein einziges Mal -, und das Entsetzliche ist, dass ich das erst in den letzten Monaten begriffen habe.”

Richard Yates widmet sich in “Eine strahlende Zukunft” den alltäglichen kleinen Dramen: “Eine strahlende Zukunft” ist Ehe- und Lebensroman, der Titel enthält dabei eine feine Ironie, denn das Strahlen der Zukunft von Michael und Lucy verblasst schnell. Lucys geerbte Millionen, sind ein strahlendes Versprechen, das verblasst und nie eingelöst wird, da Michael zu stolz ist, als dass er von dem Geld seiner Frau leben möchte. Das Bild der strahlenden Zukunft suggeriert eine Sehnsucht, die im Leben von Lucy und Michael nie eingelöst werden kann. Richard Yates legt mit “Eine strahlende Zukunft” aber auch einen Künstlerroman vor, denn Lucy und Michael bewegen sich beide im Künstlermilieu und umgeben sich mit Künstlerfreunden. Michael ist Schriftsteller und auch Lucy probiert sich im Schreiben und im Malen aus, doch bei beiden Tätigkeiten findet sie nicht die Anerkennung, die sie sich wünscht. Als sich Michael und Lucy auf den letzten Seiten des Romans nach vielen Jahren wiedertreffen, stoßen sie mit einem Glas Wein an und kommen zu dem Schluss: “Scheiß auf die Kunst.” 

“Scheiß auf die Kunst, okay? Ist es nicht witzig, dass wir ihr ein Leben lang nachgejagt sind? Dass wir unbedingt all denen nahestehen wollten, die sie zu begreifen schienen, als könnte uns das weiterhelfen; dass wir nie aufhörten, uns zu fragen, ob sie nicht hoffnungslos unseren Horizont übersteigt – oder vielleicht gar nicht existiert?”

Wenn man sich den Lebensweg von Richard Yates anschaut, dann überkommt einem das Gefühl, dass hier nicht nur eine von seinen Hauptfiguren spricht, sondern vielleicht auch der Autor selbst, der ein Leben lang als Schriftsteller um Anerkennung gekämpft hat. Vielleicht ist es kein Zufall, dass dies der letzte Roman von Richard Yates gewesen ist.

“Eine strahlende Zukunft” ist eine großartige Nahaufnahme des Scheiterns von Ehen und Träumen, die Sprache ist nüchtern und legt gleichzeitig die Wünsche und Sehnsüchte der Figuren schonungslos offen. Richard Yates ist für mich ohne Frage einer der besten amerikanischen Schriftsteller und auch nach diesem Roman ist es für mich unbegreiflich, wie lange dieser Autor unbekannt und unentdeckt bleiben konnte. Die Anerkennung wurde ihm zu Lebzeiten verweigert, doch lesen kann man Richard Yates immer noch. Lesen muss man Richard Yates immer noch.


Yats

Nachts, wenn der Tiger kommt – Fiona McFarlane

Ruth ist eine betagte Frau, die seit dem Tod ihres Mannes ein einsames Leben in einem abgelegenen Strandhaus führt. Doch eines Tages bekommt sie Besuch, eine fremde Frau steht vor der Tür –  angeblich wurde sie vom Staat als Pflegekraft geschickt, doch wer ist Frida wirklich? Von diesem Tag an verliert Ruth zusehends die Kontrolle über ihr eigenes Leben und muss sich irgendwann fragen, wem sie überhaupt noch trauen kann.

“Ich hatte diesen Traum, dass das Meer hierherkam zu uns, hierher auf unseren Hügel. […] Und da waren all diese Boote auf den Wellen – altmodische Boote, wissen Sie, wie man sie manchmal im Fernsehen sieht, einige mit Segeln, andere mit Rauchwolken und riesigen Schornsteinen. Sie kamen genau auf uns zu, hier auf unseren Hügel, und die Leute auf ihnen winkten wie verrückt. Ich konnte nicht sagen, ob sie uns zuwinkten, oder ob sie wollten, dass wir uns in Sicherheit brachten.”

Eines Nachts wird Ruth wach und glaubt, einen Tiger in ihrem Haus zu hören. Nur wenige Tage später steht plötzlich eine fremde Frau vor der Tür. Frida behauptet, dass sie vom Staat als Pflegekraft geschickt wurde. Ruth ist zunächst irritiert und unsicher, ob sie der fremden Frau glauben kann, doch Frida gewinnt Stück für Stück ihr Vertrauen und schon bald genießt Ruth die ungewohnte Aufmerksamkeit und Gesellschaft. Ihr Mann Harry ist erst vor kurzem verstorben, seitdem lebt Ruth zurückgezogen und allein. Ihre beiden erwachsenen Söhne leben schon lange nicht mehr in Australien, Kontakt zu ihrer Mutter halten sie meistens über das Telefon. Ihre Söhne sind vor allem erleichtert, dass sich endlich jemand um die Mutter kümmert, die einen zunehmend verwirrten Eindruck gemacht hat.

Frida gelingt es, sich in Ruths Leben einzuschleichen – sie fängt an, als Pflegekraft zu arbeiten und einmal am Tag vorbeizuschauen, doch bald darauf, bezieht sie bereits ihr eigenes Zimmer in Ruths Haus. Schleichend, aber für den Leser immer offensichtlicher, verändert sich nicht nur Ruth, sondern auch ihre Beziehung zu Frida und die Atmosphäre im Haus. Nachdem sie sich dazu entscheidet, ihre erste große Liebe, für ein Wochenende zu sich einzuladen, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle: Nacht für Nacht, glaubt Ruth, einen Tiger zu hören, den Frida mutig bekämpft. Je verwirrter Ruth wird, desto stärker übernimmt Frida die Kontrolle im Haus und degradiert Ruth zur Zuschauerin dieses Schauspiels, genauso wie den Leser, der atemlos mitverfolgt, was geschieht und sich fragt, was diese seltsame Frau wohl im Schilde führt.

“Ruth fühlte sich so wie früher, als sie noch jünger war, als ihre Füße noch fester auf dem Boden standen und ihre Kinder und ihr Mann schliefen; das Gefühl war wie eine Adresse, zu der sie zurückgekehrt war, und sie fragte sich, warum sie so lange weg gewesen war.”

Fiona McFarlane nähert sich dem Thema Alter aus einer ganz besonderen Perspektive an, denn sie begibt sich mitten hinein in den verwirrten Kopf einer älteren Frau. Es ist der Einzug Fridas, der Ruths Leben nachhaltig durcheinanderwirbelt. Das, was zuvor auf festem Boden stand, gerät nun plötzlich ins Rutschen. Ruth wird von Frida isoliert und bevormundet, sie wird ihrer Mobilität und Eigenständigkeit beraubt und all dies führt dazu, dass die alte Frau in rasender Geschwindigkeit abbaut. Die Realität ist für sie kaum noch auszumachen, sie befindet sich überwiegend in einem Zustand der geistigen Verwirrung. Der Leser ist dazu geneigt, die Situation aus den Augen Ruths zu betrachten, doch während mir Seite für Seite mehr Ungereimtheiten auffielen und ich damit begann, mir immer mehr Fragen zur Rolle Fridas zu stellen, gelingt es Ruth nicht mehr, einen Schritt zurückzutreten und Zweifel an der Situation zu entwickeln. Es gibt Momente, in denen Ruth kurz aufwacht, in denen sie erkennt, dass Frida ein falsches Spiel mit ihr spielt, doch ihr fehlen die körperlichen und psychischen Ressourcen, um sich wehren zu können.

“Frida tat immer, was sie selbst tun wollte. Das wusste Ruth, so wie sie wusste, dass Frida nicht ehrlich war und sie auf irgendeine Weise zum Narren gehalten hatte.”

Das Wort Demenz fällt in diesem Roman an keiner einzigen Stelle, es ist nicht klar, ob Ruth an einer Erkrankung leidet. Die Halluzinationen, das zunehmende Erinnern an die Vergangenheit, die Unfähigkeit, die Realität zu erfassen – all dies könnte auf eine Demenzerkrankung hindeuten. Deutlich ist jedoch, dass die Manipulationen Fridas dazu führen, dass Ruth ein isoliertes Leben führt, in dem sie kaum noch Kontakte nach außen hat, in dem sie kein Korrektiv hat und in dem sie zunehmend den Halt und den Bezug zur Realität verliert.

“Frida hatte die Dinge nicht mehr unter Kontrolle, Frida hatte Angst. Sie hatte den Tiger bekämpft, aber jetzt lehnte sie mit blassem Gesicht am Fensterbrett, weil sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass ihre Beine sie trugen.”

“Nachts, wenn der Tiger kommt” überzeugt durch eine starke Sprache und eine soghafte Erzählung, aber vor allem dadurch, dass es der jungen Autorin gelingt, den Leser mitten hinein in Ruths Kopf zu pflanzen. Aus dieser Perspektive heraus erlebt der Leser ihr langsames Weggleiten aus der Realität, das in einem fürchterlichen Schrecken endet – irgendwo zwischen Phantasie und Wirklichkeit.

Tage zwischen gestern und heute – Andreas von Flotow

Andreas von Flotow wurde 1981 in Dannenberg geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat als Dramaturgieassistent gearbeitet, unter anderem am Maxim Gorki Theater Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Daneben war in einer Kunstbuchhandlung tätig, sowie als Lektor. Mit “Tage zwischen gestern und heute” legt Andreas von Flotow, der heutzutage als freier Dramaturg arbeitet, seinen Debütroman vor.

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Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen Roman vor, dessen Handlung in unserer heutigen Gegenwart wurzelt, dessen Ich-Erzähler sich jedoch bereits im Jahr 2031 befindet. Der Erzähler, der namenlos bleibt, begibt sich zurück in seine Kindheitserinnerungen, versetzt sich zurück in den Jungen, der er gewesen ist. Zweimal ist das Leben des Jungen zerbrochen, in so viele Einzelteile, dass es kaum noch zusammenzufügen ist. An dem Tag, an dem er zehn Jahre alt wird, werden seine Eltern von seinem Onkel erschossen. Der Vater stirbt sofort, die Mutter befindet sich fünf Jahre lang in einer Art Wachkoma – in einem Schwebezustand, zwischen Bewusstsein und Schlaf, aus dem sie niemand mehr herausholen kann. Sie stirbt, als der Erzähler fünfzehn Jahre alt ist.

“Meine erste Erinnerung, wenn ich an die frühe Kindheit denke: Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es besonders laut oder lärmend um mich herum gewesen wäre.”

Die Erinnerungen an den Unglückstag, der alles verändern sollte, sind schwammig und vage, doch der Erzähler versucht sich hinein zu begeben in das Leben, das er als Kind geführt hat. Er versucht die Erinnerungsfetzen, die ihm geblieben sind, zu erforschen, zu untersuchen und zusammenzusetzen. Er begibt sich zurück in die Zeit vor dem Unglück, in die Zeit danach, als er bei seiner ungeliebten Großmutter leben muss, die er Tante Eve nennt.

Der Erzähler erlebt eine behütete Kindheit, auch wenn seine Eltern häufig abwesend sind. Mit seiner Mutter, die eine berühmte Sängerin ist, lebt er in Amerika, der Vater hält sich häufig in Frankreich auf. Wenn er doch einmal bei seiner Familie ist, versinkt er immer wieder in der Welt der Bücher, liest und schreibt kleine Zettelchen voller Notizen, die er zwischen die Buchseiten legt. Helen, das Kindermädchen, ist ein wichtiger Teil der Familie – sie ist diejenige, die die wohl engste und liebevollste Beziehung zu dem Erzähler hat.

“Der Tag, an dem meine Mutter starb, ist für mich im selben Augenblick Traum und Wirklichkeit; einerseits eine traumhaft logische, aber leider nur spürbare Folge unzähliger Ereignisse, andererseits eine exakte und greifbare Nachbildung der Vergangenheit vor meinem geistigen Auge.”

Der Blick zurück in die Vergangenheit ist gleichzeitig auch ein Blick auf die Eltern, die immer irgendwie da waren, denen der Erzähler jedoch nie nahe gekommen ist. Der Blick zurück auf das, was geschehen ist, ist auch ein Versuch, sich dem Kind anzunähern, das man gewesen ist und dabei die Eltern zu ergründen, die nur viel zu kurz Teil des eigenen Lebens gewesen sind.

“Im Jahr 2005 sind meine Eltern Opfer eines Anschlags geworden, den mein Onkel, ein Halbbruder meiner Mutter, verübt hat. Er feuerte dreizehn Schüsse ab, mein Vater war sofort tot, meine Mutter starb fünf Jahre später. Die folgende Erzählung ist eine kurze, hier und da bebilderte Chronologie meiner Kindheit bis zum Tod meiner Mutter. Sie ist durchwoben mit den Daten meines Lebenslaufes und stellt vermutlich den entscheidenden Teil des geistigen Fundamentes dar, auf dem ich als fünfzehnjähriger Junge stand. ich erzählte der Reihe nach und behalte die Natur der Ordnung im Hinterkopf: Sie ist ein Phänomen der Oberfläche, darunter ist es wüst und leer.”

“Tage zwischen gestern und heute” ist ein Roman, der so kurz ist, das er schon fast eine Novelle sein könnte. Der Text lässt mich zwiespältig und mit vielen offenen und unbeantworteten Fragen zurück. Die Chronologie der Kindheit liest sich vielmehr als Steinbruch, als ein Trümmerhaufen der Erinnerungen. An vieles erinnert sich der Erzähler nicht mehr, vieles ist ihm unklar. Vieles bleibt dadurch auch dem Leser verborgen, wir tauchen zwar ein in diese Bruchstücke einer Kindheit, doch auf viele Fragen gibt es keinerlei Antworten. Die drängendste Frage war für mich die Frage nach dem warum? Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Antwortversuche auf diese Frage gibt es nur spärlich.

Der Blick zurück auf die Kindheit, ist ein Blick, über den ich in vielen Romanen gestolpert bin zuletzt. Doch in diesem Roman funktioniert die gewählte Perspektive für meinen Geschmack nicht wirklich. Über der Kindheit des Erzählers liegt ein dunkler Schleier, der nur stellenweise Licht durchlässt. Vieles bleibt unklar, vieles bleibt schwammig. Ich fühle mich beinahe schon verloren in dieser Erzählung, die bereits vorbei ist, bevor sie eigentlich so wirklich begonnen hat. Andreas von Flotow deutet an, dass er erzählen kann, er deutet an, dass er Charaktere entwerfen und Szenen gestalten kann, doch all diesem fehlt dann doch ein verbindendes Element. Nach dem Zuklappen der letzten Seite gibt es nicht vieles, das von dieser Lektüre in mir zurückbleibt. Am meisten beeindruckt hat mich vielleicht die Bücherliebe des Vaters, die er an seinen Sohn weiterreicht. Es sind die Bücher, die dem Erzähler helfen, in Kontakt zu sich selbst und zu seiner Mutter zu kommen. Die Bücher des toten Vaters ziehen irgendwann im Zimmer des Sohnes ein und werden für ihn zu einer Art Rettungsanker, nicht unbedingt, weil er sie alle liest, sondern allein durch ihre Präsenz.

“Am liebsten würde ich hier jedes einzelne Buch meines Vaters mit einem Satz erwähnen, wenigstens etwas darüber sagen. Nicht unbedingt über den Inhalt, eher über ein paar wiederkehrende Gedanken, über das Gefühl, das diese Bücher in mir wecken, wenn ich mir nur die Titel in Erinnerung rufe. Aber ich schweige lieber. Über die wichtigsten Sachen lässt sich am wenigsten sagen.”

Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen schmalen Roman vor, der mich leider nicht überzeugen konnte. Die Grundidee hat mich noch begeistern können, doch dem Autor gelingt es leider nicht wirklich, diese Idee auch mit Inhalt zu füllen. Vieles in diesem Roman bleibt deshalb leider Stückwerk, gute Ansätze sind dabei zwar immer wieder zu erkennen, mehr aber leider auch nicht.

Frauen und Bücher. Eine Leidenschaft mit Folgen – Stefan Bollmann

Stefan Bollmann wurde 1958 geboren und schloss sein Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie mit einer Promotion über Thomas Mann ab. Damals schrieb er also sehr wohl noch über Männer, mittlerweile hat sich Stefan Bollmann vor allem weiblichen Themen zugewandt: “Frauen, die lesen, sind gefährlich” und “Frauen, die lesen, sind gefährlich und klug” avancierten in den vergangenen Jahren zu Bestsellern. Im Zentrum beider Bücher steht ein Wandel der Lesekultur. In seiner neuesten Veröffentlichung, “Frauen und Bücher. Eine Leidenschaft mit Folgen”, begibt sich Stefan Bollmann auf die Suche nach den Ursprüngen des weiblichen Lesens.

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“Frauen lesen, um zu leben, nicht selten auch, um zu überleben.”

“Lesen ist mein Lebensglück.” “Ein Buch gibt mich nicht wieder, es definiert mich neu.” “Ich möchte lesen, bis ich schwarz werde.” “Ich vertrockne seit einiger Zeit, weil alle meine Bücherquellen sich verstopfen.” Bei all diesen Sätzen handelt es sich um Zitate von lesewütigen Bücherliebhaberinnen: Elke Heidenreich, Jeanette Winterson, Virginia Woolf, Caroline Schlegel-Schelling. An den Namen der ausgewählten Leserinnen wird deutlich, dass Stefan Bollmann sich nicht nur auf unsere Gegenwart beschränkt. Seine Beobachtungen umfassen einen Zeitrahmen vom 18. Jahrhundert bis hinein in unsere heutige Zeit: vom Beginn der Leselust, bis zu einer modernen Form der Lesepartizipation, bei der aus Fanfiction ganz neue Literatur entsteht.

Ist Lesen weiblich?, diese Frage wird gleich zu Beginn des Buches gestellt. Eine klare und eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es höchstwahrscheinlich nicht und doch spricht aus den obigen Zitaten nicht nur Begeisterung für das Lesen, sondern eine allumfassende Begeisterung, eine intensive Begeisterung, eine tiefergehende Begeisterung. Frauen fühlen sich durch ihre Lektüre nicht vom Leben entfremdet, sondern auf eine ganz neue Art und Weise verbunden: das Lesen wird zu einem zweiten Leben, zum Lebensglück und zu einer wichtigen geistigen Nahrung. Bücher werden nicht mehr studiert, sondern konsumiert: Frauen verschlingen das was sie lesen, um es sich einzuverleiben. Bücher werden Teil des weiblichen Lebens. Maryanne Woolf, eine Leseforscherin, bezeichnet weibliches Lesen auch als “deep reading“, andere sprechen etwas abwertend von “Vielleserei” und Lesewut”.

“Die Geschichte, wie es dazu kam, dass die Frauen diese Art des Lesens für sich entdeckten, und die vielen weiblichen Lese- und Lebensgeschichten, die dadurch möglich wurden, erzählt dieses Buch.”

“Frauen und Bücher” ist eine Kulturgeschichte des weiblichen Lesens, die einen besonderen Schwerpunkt auf den Wandel legt, dem das Lesen unterworfen ist. Stefan Bollmann geht ganz zurück ins 18. Jahrhundert, das Jahrhundert, das für ihn den Beginn der Leselust datiert. Von dort aus tastet sich der Autor behutsam vor, beschreibt die zunehmende Macht des Lesens im 19. Jahrhundert, stellt berühmte Bücherfrauen des 20. Jahrhunderts vor und schließt mit einer Betrachtung der Gegenwart – zwischen Fanfiction und Shades of Grey. Auf der Reise durch die Jahrhunderte begegnen dem Leser faszinierende Bücherfrauen, im Gedächtnis geblieben sind mir Caroline Schlegel-Schelling, Mary Wollstonecraft, Jane Austen, Virginia Woolf, später folgen dann Marilyn Monroe und Susan Sontag. Doch auch die Männer bleiben nicht ganz außen vor: James Joyce und F.G. Klopstock sind nur zwei der Männer, die einem während der Lektüre begegnen.

“Männer lesen nicht mehr Romane, außer um sie zu rezensieren. Wer Romane schreibt, muss an die Dame denken, wenn er gelesen sein will. Sie herrschen schon jetzt.”

Besonders die Anfänge der weiblichen Lesewut lesen sich beeindruckend und werden von Stefan Bollmann so authentisch und typisch für ihre Zeit beschrieben, dass man glaubt, mit Haut und Haaren in die weit zurückliegenden Jahrhunderte einzutauchen. Während heutzutage der Großteil der weiblichen Bevölkerung Zugriff auf Literatur und Bücher hat, war die Möglichkeit des Lesens im 18. Jahrhundert noch etwas, was nicht vielen offen stand. Dementsprechend wurde das Lesen von den Frauen nicht nur als Freizeitbeschäftigung betrieben, sondern war ihnen ein grundeigenes Bedürfnis und häufig die einzige Möglichkeit, sich von ihrem Stand und ihrer Herkunft befreien zu können. Für Mary Wollstonecraft, die erste Literaturkritikerin, die vor allem für ihre harschen Verrisse bekannt war, war die Lektüre von Romanen ein Weg für Frauen zu mehr Unabhängigkeit.

“Die Lektüre von Literatur verlieh den Frauen eine Stimme und einen sozialen Status. Und der war nicht gänzlich, aber doch weitgehend unabhängig von ihrer Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht und akademischer, für Frauen in der Regel unerreichbarer Bildung. Lesen verschaffte ein Stück Unabhängigkeit und eröffnete neue Wege, das Leben zu genießen.” 

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Im 19. Jahrhundert wurden lesende Frauen nicht mehr belächelt, sondern als Gefahr empfunden. Kann das Lesen von Büchern Revolutionen auslösen? Manche Männer glaubten das, zumindest wenn Frauen die falschen Bücher lasen. Dieser Glaube und die gleichzeitige Furcht, wurde durch Romanfiguren wie Emma Bovary noch verstärkt und darauf bezieht sich auch der Untertitel von Bollmanns Kulturgeschichte des Lesens: Eine Leidenschaft mit Folgen … Die Macht der bücherlesenden Frauen führte im 20. Jahrhundert dazu, dass diese Frauen den Schritt in das Verlagswesen wagten, Buchhandlungen eröffneten oder sogar – wie Sylvia Beach – verbotene Romane druckten.

“Lesen, bis zum 18. Jahrhundert eine männliche, mit Tradition, Gelehrsamkeit und Religion verbundene Lebensform, ist restlos weiblich geworden.”

Stefan Bollmann schickt den Leser mit “Frauen und Bücher” auf eine spannende Zeitreise durch drei Jahrhunderte, in denen einem faszinierende Leserinnen und Bücherfrauen begegnen. Beim Blick zurück ist mir noch einmal klar geworden, wie schade es ist, dass man sich in der heutigen Bücherwelt häufig ausschließlich auf Neuerscheinungen konzentriert. Friedrich Schlegel wird mit dem Ausspruch zitiert, dass man neuen Büchern “ungesäumt auf den Fersen sein muss”, zumindest dann, wenn man nicht Gefahr laufen möchte, Bücher zu besprechen, die nicht mehr existieren – außer in verstaubten Bibliotheksregalen. Wie sehr habe ich mich als bloggende Literaturkritikerin darin wiederfinden können: die Jagd auf neue Bücher verschleiert manchmal den Blick auf das, was es bereits gibt. Meine Leseliste an Autorinnen, die ich schon lange einmal lesen wollte, wurde nach “Frauen und Bücher” in schwindelnde Höhen erweitert: Susan Sontag, Virgina Woolf, Jane Austen.

“Ein Buch hat einen Körper, den man berühren muss, um darin zu lesen. Und nicht nur das, man schlägt es auf, blättert es durch, wobei die Seiten ein knisterndes oder klackerndes Geräusch machen (je nach Papierbeschaffenheit). […] Bücher sind eben keine bloßen Gefäße für Gedanken, keine Konservendosen für die beste Qualität intellektueller Ernten. Ein Buch war für Virgina Woolf eine körperlich-seelisch-geistige Gesamtheit, zu der seine Stofflichkeit und Gestalt genauso gehörte wie die Stimmung, in die es seinen Leser versetzt, und der Geist, der ihn bei der Lektüre ergreift.”

“Frauen und Bücher. Eine Leidenschaft mit Folgen” ist ein wunderbares Buch. Stefan Bollmanns Streifzug durch die Kulturgeschichte des Lesens ist eine faszinierende Reise durch drei Jahrhundert und sicherlich nicht nur interessant für begeisterte Leserinnen, sondern natürlich auch für die männlichen Leser. Ich habe mich wiedergefunden, in allen möglichen Ecken und Winkeln dieses Buches und ich fühle mich nun weniger alleine mit meiner leidenschaftlichen Begeisterung für Bücher und für die Welt der Literatur.

Was wir Liebe nennen – Jo Lendle

Jo Lendle ist in den heutigen Tagen vielen wahrscheinlich als neuer Verleger vom Hanser Verlag bekannt. Jo Lendle verlegt jedoch nicht nur Bücher, sondern schreibt auch selber welche. “Was wir Liebe nennen” ist bereits sein vierter Roman und erschien im vergangenen Herbst bei der Deutschen Verlagsanstalt.

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“Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt, aber daran erinnert, beizeiten nach etwas zu suchen, das uns wärmt.”

Lambert ist Zauberer, aus seinem eingefahrenen Leben heraus zaubern, kann er sich aber nicht. Oder vielleicht doch? Die Entscheidung Zauberer zu werden, wurde von Lambert nicht wirklich getroffen. Es hat sich halt so ergeben. Doch das, was er eigentlich machen möchte, ist es eigentlich nicht. Auch an seiner Beziehung für Andrea zweifelt er. Überhaupt: sein ganzes Leben scheint sich im Moment überhaupt nicht mehr passend und richtig anzufühlen. Da fühlt sich die Tatsache, dass Lambert erst vor kurzem seinen Vater beerdigen musste, beinahe wie eine Nebensächlichkeit an. Die Einladung zum Kleinkunstfestival nach Montreal kommt ihm deshalb gerade recht; es ist eine Verschnaufpause, eine Abwechslung vom Alltag und vielleicht auch eine Flucht. Doch das Unrunde in seinem Leben scheint sich auch auf seiner Reise fortzusetzen, die ziemlich turbulent ist und zunächst mit einer Notlandung endet. Bei seiner Ankunft in Montreal wird Lambert, der Held der Geschichte mit dem seltsamen Namen, schließlich angefahren. Alles nicht so schlimm, zumindest körperlich – darüber hinaus hat dieser Zusammenstoß jedoch lebensverändernde Auswirkungen – zumindest zeitweise.

“Was wir Liebe nennen, ist zu viel und zu wenig. Es ist Mangel und Fülle, Ungenügen und Überfluss, auch wenn die Sehnsucht beim besten Willen nicht weiß, woran hier Überfluss bestehen soll, außer an der Liebe selbst. Nur was uns fehlt, wissen wir immer.”

Die Verursacherin der kleinen Kollision ist Felicitas Touchbourn, oder kurz gesagt: Fe. Fe ist Paläobiologin, sie erforscht ausgestorbene Arten und sie ist mit ihrem Pferdetransporter Lambert in die Kniekehlen gefahren. Bei Lambert ist es Liebe auf den ersten Blick, eine rettungslose Liebe – ohne Seil und doppelten Boden. Während Andrea im gemeinsamen Zuhause auf eine Nachricht ihres Freundes wartet, wird Fe mit Lamberts rettungsloser Liebe konfrontiert. Doch liebt er wirklich Fe oder reizt ihn die Möglichkeit, durch sie ein neues Leben zu beginnen und aus seinem alten, das sich anfühlt wie ein zu klein gewordener Anzug, auszubrechen? Lambert, der das Gefühl hat, in seinem ganzen bisherigen Leben falsche Entscheidungen getroffen zu haben, muss sich plötzlich nicht nur zwischen zwei Frauen entscheiden, sondern zwischen zwei Leben, zwischen zwei Welten. Da möchte man sich doch am liebsten verdoppeln, um keine Entscheidung treffen und niemanden enttäuschen zu müssen.

“Es hieß immer, man könne nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. Aber wer sagte das, und warum sollte es nicht gehen, zumindest für ein Tänzchen?”

Fe und Lambert haben eine gemeinsame Nacht, die ihnen bleibt. Es ist eine magische Nacht, der ein besonderer Zauber inne wohnt: an dieser Stelle verlässt Jo Lendle die Pfade der realen Wirklichkeit und betritt eine Welt der Magie. Lambert möchte alle seine Fähigkeiten als Zauberer aufbieten, um die Entscheidung, die er treffen muss, hinauszuzögern und in einer Welt zu leben, in der er beides haben kann: Andrea, die zu Hause auf ihn wartet und das neue und aufregende Leben an der Seite von Fe. Zumindest für ein paar Stunden oder Tage. Lambert wünscht sich übersinnliche Kräfte, er wünscht sich die Kraft Flugzeuge zum Umkehren zu zwingen und einen Vulkan zum Ausbruch zu bringen. Und dann greift Jo Lendle noch zu einem ganz besonderen Trick …

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“Was wir Liebe nennen, lässt alle auf uns los: Dopamin, Endorphin, Adrenalin.”

Jo Lendle legt mit “Was wir Liebe nennen” einen heiter beschwingten Roman vor, der dennoch Tiefgründigkeit besitzt. Er kreist um die Frage, ob es klüger ist, klare Entscheidungen zu treffen und wie es sich in dem Vakuum vor einer Entscheidung lebt. Der Titel des Romans ist auch für den Inhalt Programm: es geht um die Liebe, es geht um das gegenseitige Kennenlernen, es geht um den Moment, in dem zwei Menschen miteinander kollidieren und wie dieser ein ganzes bisheriges Leben aus den Fugen bringen kann. All das wird von Jo Lendle solide erzählt, häufig untermalt von einer heiter-amüsanten Note. Es ist der ausgeprägte Humor, der die Geschichte davor bewahrt, in den Kitsch abzugleiten. Das, was den Roman für mich besonders gemacht hat, war der Moment, in dem Jo Lendle die soliden Pfade des Erzählens hinter sich lässt und verspielt wird. Die Magie, die sich dadurch, dass Lambert ein Zauberer ist, von Anfang an andeutet, zieht zunehmend in den Text hinein.

“Was wir Liebe nennen” ist ein wunderbarer Roman, der mich beim Lesen verzaubert hat. Jo Lendle erzählt eine magische Liebesgeschichte, doch nicht nur das, er erzählt auch von Entscheidungen und von neuen und alten Leben. Er erzählt von dem Moment, in dem sich alles urplötzlich ändern kann. Leicht, heiter und gleichzeitig verzaubernd poetisch ist “Was wir Liebe nennen” ist ein Roman, der mir ans Herz gewachsen ist.

Wir Tiere – Justin Torres

Das Autorenbild von Justin Torres erinnert entfernt an Clemens Meyer, zumindest die tätowierten Arme. Der 1980 geborene Autor gilt als einer der interessantesten Stimmen der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur. Er hat einen kunterbunten Lebenslauf und nicht nur als Lehrer für kreatives Schreiben gearbeitet, sondern auch als Landarbeiter, Hundeausführer und Buchhändler. “Wir Tiere” ist ein schmaler, aber eindrücklicher Debütroman, der weltweit begeisterte Kritiken erhalten hat. Peter Torberg hat den Roman ins Deutsche übertragen.

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“Wir waren sechs schnappende Hände, sechs trampelnde Füße; wir waren Brüder, Jungs, drei kleine Könige im Kampf um mehr.”

“Wir Tiere” ist ein schmales Büchlein; auf gerade einmal 170 Seiten erzählt Justin Torres die Geschichte von drei Brüdern. Der namenlose Erzähler wächst gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Manny und Joel auf. Ihre Eltern – der Vater ist Puerto Ricaner, die Mutter weiß – sind selbst noch Kinder, als sie schon eigene Kinder bekommen. Niemand hatte ihnen gesagt, dass dies passieren könnte. Sie wurden ins Leben der Erwachsenen gestoßen, als sie selbst noch lange nicht erwachsen waren. Die drei Brüder bewegen sich durch eine Kindheit, die weit ab der Norm liegt – es ist eine ungewöhnliche Kindheit, die geprägt ist von Armut und Gewalt, doch die drei wissen sich zu helfen: aus Müllsacken basteln sie Drachen; mit einem Gummihammer hauen sie auf eine Tomate ein. Paps und Ma schreien sich manchmal an, dann verstecken die drei sich – manchmal lieben sich die Eltern auch, dann schauen die Kinder leicht befremdet weg.

“Aber es gab auch Zeiten, ruhige Augenblicke, wenn unsere Mutter schlief, nachdem sie zwei Tage lang nicht geschlafen hatte und jedes Geräusch, jede knarzende Treppenstufe, jedes Türklappern, jedes unterdrückte Lachen, jede Stimme sie vielleicht aufschreckte, kristallklare Vormittage, wenn wir sie, diesen verwirrten Vogel von einer Frau, beschützen wollten, diese stolpernde Schwärmerin mit ihren Rückenschmerzen, ihrem Kopfweh und ihrer ganzen müden, müden Art, dieses entwurzelte Geschöpf aus Brooklyn, sie, die Tacheles mit einem redete, immer voller Tränen, wenn sie uns sagte, sie würde uns lieben, ihre verworrene Liebe, ihre bedürftige Liebe, ihre Wärme […].”

Das Haus der Familie pulsiert, trotz der widrigen Umstände ist die gegenseitige Wärme und Liebe spürbar. Doch neben all der Liebe füreinander, existiert auch eine dunkle Seite: die Eltern enttäuschen und verletzen sich gegenseitig, aber auch ihre Kinder. Mal verschwindet der Vater für mehrere Wochen, mal flüchtet die Mutter gemeinsam mit ihren drei Söhnen. Und doch: die Familie bleibt miteinander verbunden, als gäbe es irgendwo zwischen ihnen ein unsichtbares Band, das alle immer wieder zusammenführt. Gegen alle Enttäuschungen, gegen alle erlittenen Verletzungen.

“Wir schauten zu; sie sahen einander in die Augen, neckten und lachten; ihre Worte waren warm und weich, und wir schmiegten uns an die Sanftheit ihrer Unterhaltung. Wir alle waren zusammen im Bad, in diesem Augenblick, und nichts war falsch. Meine Brüder und ich waren sauber und satt und hatten keine Angst vor dem Großwerden.”

Die schrecklichste Szene des Romans ist ein Moment, in dem der Vater seinem Sohn das Schwimmen beibringen will und ihn in schwärzester Nacht im tiefen Wasser zurücklässt. Er lässt den Erzähler los und schwimmt davon. Ich habe selten zuvor etwas gelesen, das mich so intensiv berührt hat, wie dieser grausame Moment. In Szenen wie dieser zeigt Justin Torres vor allem auch literarisch, warum er zu den interessantesten Stimmen der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur gehört.

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“Wir schlugen immer weiter; wir durften sein, was wir waren, verängstigt, rachsüchtig – kleine Tiere, die sich an das krallten, was brauchten.”

Die drei Brüder – Manny, Joel und der namenlose Erzähler – sind eine Einheit, die in all dem Ungewissen, in dem sie aufwachsen, zusammenhält. Doch irgendwann wird das, was vorher eng gewesen war, auseinander gerissen. Es ist der Erzähler, der aus dem Gespann ausbricht – während seine älteren Brüder Gefahr laufen, von der Schule geworfen zu werden, ist der Erzähler ein wissbegieriger Schüler, der gerne lernt und Interesse an vielem hat. Er bricht aus seiner Familie aus, weil er einen Hang zur Sprache entwickelt – er führt Tagebuch, etwas, worauf seine Brüder angewidert und neidisch reagieren, aber irgendwie sind sie auch ein bisschen stolz. Diese Entwicklung des Erzählers scheint den Roman zu spalten und förmlich in zwei Teile zu teilen. Zuvor las sich “Wir Tiere” wie ein Coming of Age Roman über drei Brüder, die unter widrigen Umständen aufwachsen. Später scheint der Roman immer mehr zu einer Aufarbeitung der eigenen Geschichte von Justin Torres zu werden.

“Wir Tiere” ist ein wilder Roman. Justin Torres erzählt die intensive Geschichte einer Familie in all ihren Facetten: er erzählt von Liebe, Enttäuschungen und Verletzungen und davon, was passieren kann, wenn einer aus dem familiären Gefüge ausbricht. Ich habe “Wir Tiere” als einen zutiefst autobiographischen Roman gelesen; je autobiographischer er wurde, desto wilder und ungezügelter las sich auch der Text. Ich habe das Gefühl, mit Justin Torres eine außergewöhnliche literarische Stimme entdeckt zu haben und bin gespannt darauf, was wir von ihm in den nächsten Jahren noch lesen werden.

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