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Unter uns das Meer – Amity Gaige

Amity Gaige hat einen Roman geschrieben, der es in sich hat: Unter uns das Meer ist eine ungewöhnliche Familiengeschichte über eine Ehe, die sich schon länger in der Krise befindet – und erzählt gleichzeitig auf schmerzhaft anschauliche Weise davon, wie schwer es ist, mit der Trauer weiterzuleben, wenn man zurückgelassen wird.

Geburt und Tod sind Fixpunkte, und die Jahre, um die Vierzig ermöglichen einem einen guten Blick auf beides. Michael hatte davon geträumt, in einem Jahr die gesamte Welt zu umsegeln. Ich wollte lediglich das Jahr überstehen, ohne das Boot eigenhändig zum Kentern zu bringen.

Juliet, ihr Mann Michael und die beiden gemeinsamen Kinder leben ein unauffälliges Vorstadtleben. Es geht ihnen nicht schlecht, aber die Ehe kriselt schon länger. Während Michael mit beiden Beinen im Berufsleben steht, muss sich Juliet von ihren beruflichen Träumen Stück für Stück verabschieden: eigentlich möchte sie eine Doktorarbeit über Bekenntnislyrikerinnen  (auf Englisch wird auch von confessional poetry gesprochen) schreiben, aber die Betreuung der beiden Kinder frisst ihre Energie – statt an ihrer Doktorarbeit zu schreiben, schreibt sie Produktbewertungen in Onlineshops. Auch politisch driften Juliet und Michael zunehmend auseinander, Michael besucht ein Survivaltraining der Prepperszene – und wählt plötzlich republikanisch. Was machst du, wenn du merkst, dass zwischen dir und deinem Mann sich plötzlich kilometerweite Abgründe auftun?

Doch Michael hat einen Plan entworfen, um die Ehe mit Juliet zu retten. Er gibt seinen Job auf, kauft sich eine Segelyacht (für die er eigentlich gar nicht genügend Geld hat) und beschließt, mit seiner Frau und seinen Kindern ein Jahr lang um die Welt zu segeln.

Kann man “vor seinen Problemen davonlaufen”? Natürlich nicht. Man läuft bloß von einem Problem in die Arme eines anderen Problems. Doch was ich vielleicht früher nicht wusste, als ich ein Kind war … gewisse Probleme sind fest in einem selbst verankert. Ich meine Widersprüche. Zum Beispiel, dass in 99% der Zeit unsere Eigeninteressen im Widerspruch stehen zu jeder Art von sozialer Verabredung. Wir sind gepolt auf Betrug & Verrat und hoffen einfach nur, dass diejenigen, die wir lieben, unbeschadet bleiben.

Die Geschichte wird von Amity Gaige aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt: wir erfahren bereits auf der zweiten Seite, dass die Reise nicht gut ausgegangen ist, es sind nur Juliet und die Kinder wieder zurückgekehrt. Dies schadet jedoch nicht der Spannung, weil die Frage, was genau passiert ist, lange ungeklärt bleibt. Juliet erinnert sich zurück an die Vergangenheit, denkt über die Gegenwart nach und liest in den Logbucheinträgen nach, die Michael auf der Segelyacht verfasst hat. All diese Einzelteile setzen sich Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammen.

Deutlich wird dabei auch, dass die Konflikte zwischen Michael und Juliet viel tiefer liegen. Juliet leidet seit der Geburt ihrer Kinder an einer postnatalen Depression, die Bewältigung des gemeinsamen Alltags überfordert sie oft – es ist auch ein Trauma aus ihrer Kindheit, das immer wieder hervorbricht und sie gefangen hält. Michael dagegen weiß oft nicht, wie er mit seiner Frau umgehen soll – oder wie er ihr helfen kann.

Was kann ich tun, hat er mich immer gefragt. Wie kann ich helfen? Wie wär’s, wenn du einfach mal von dir aus eine winzige Kleinigkeit beisteuern würdest? Wie wär’s, wenn du mich eine Dusche nehmen lassen würdest, ohne den Hahn abzudrehen, damit ich das Schreien der Kinder höre? Und wenn du schon nicht in der Lage bist, die Kinder vom Schreien abzuhalten, wenn du nicht in der Lage bist, Nein zu sagen, für sie die Kappen auf die Filzstifte zu tun, Erdbeeren so zu schneiden, wie sie es mögen, oder sie mit Sonnencreme oder Insektenschutz einzureiben, wenn du tatsächlich nicht in der Lage bist, pünktlich nach Hause zu kommen oder meine Gefühle zu verstehen, mich nach meiner Arbeit oder nach meinen Träumen oder meinen Enttäuschungen zu fragen, könntest du dann nicht wenigstens versuchen, dir vorzustellen, was es bedeutet, ich zu sein?

Ich habe Unter uns das Meer sehr gerne gelesen: es ist rasant, spannend und gut erzählt – und es ist tatsächlich das, was ich unter einem klassischen Pageturner verstehe. Ich habe manchmal bis tief in die Nacht gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es mit Juliet, Michael und den Kindern weitergehen wird. Amity Gaige hat einen eleganten und leicht zugänglichen Roman geschrieben, der thematisch jedoch keine leicht verdauliche Kost ist: wie gehen wir damit um, wenn eine Ehe kriselt? Was passiert mit einer Ehe, wenn einer der beiden Partner*innen an einer Depression erkrankt? Wie verarbeiten wir Traumata aus unserer Kindheit? Was machen wir mit all dem, was wir schon unser ganzes Leben lang mit uns herum schleppen?

Wer das passende Buch für den Herbst sucht, der macht mit Unter uns das Meer nichts falsch, ganz im Gegenteil: Amity Gaige hat einen beeindruckenden und mitreißenden Roman geschrieben, der mich noch eine Weile lang beschäftigen wird.

Amity Gaige: Unter uns das Meer. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von André Mumot. Eichborn Verlag, 2020. 380 Seiten, €22.

Trümmergöre – Monika Held

Monika Held legt mit Trümmergöre einen lesenswerten Roman über das Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit vor und erzählt dabei die Geschichte von Jula, die als Trümmergöre im Hamburg der Nachkriegszeit aufwächst und als Erwachsene darüber nachdenkt, in die Vergangenheit zurückzuziehen.

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Böse Geschichten kommen nur zur Ruhe, wenn sie sich irgendwo niederlassen dürfen.

Während sich Monika Held in Der Schrecken verliert sich vor Ort noch mit Auschwitz und dem Holocaust beschäftigt, wendet sie sich in ihrem neuen Roman dem Leben der Nachkriegszeit zu. Jula wächst als Diplomatentochter auf, doch mittlerweile ist sie erwachsen und sucht für sich und ihren Lebenspartner eine gemeinsame Wohnung. Es ist ein Zufall, der sie auf eine ganz besondere Wohnungsanzeige stoßen lässt: das Haus, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, steht zum Verkauf. Es ist das Haus, in dem sie mit ihrer Großmutter gelebt hat. Und es ist das Haus, in dem auch ihr Onkel Hans wohnte. All das liegt schon viele Jahre zurück, doch die zufällig entdeckte Anzeige reicht aus, um das Vergangene sofort wieder zurück in das Gedächtnis zu spülen. Jula beschließt die Wohnung zu besichtigen, doch mit dem Moment, in dem sie das Haus betritt, wird aus der geplanten Wohnungsbesichtigung eine schmerzhafte Reise zurück in die Vergangenheit.

Die Reise in die Zeit beginnt mit einer Kartoffel, einem scharfen Messer und der Zeitung von gestern. Ich schäle die Kartoffel wie meine Großmutter. Von oben nach unten, immer im Kreis herum, ohne das Messer abzusetzen. Am Ende liegen zwischen sandigen Girlanden Wortreste, Buchstaben und Silben, aus denen wir kranke Tiere machten. 

Als Jula vier ist, lässt ihr Vater sie bei der Großmutter zurück, um seiner Arbeit als Diplomat nachzugehen. Doch die Großmutter bewohnt das Haus nicht alleine, denn da gibt es auch noch Onkel Hans, der zwar in einem Haus mit seiner Mutter lebt, doch ansonsten nichts mit ihr zu tun haben möchte. Es gleicht einem bedrückenden Kammerspiel, wenn beide immer wieder umeinander kreisen – im Versuch sich so wenig wie möglich zu begegnen, wenn sie sich doch sehen, sprechen sie nicht miteinander. Nur Jula erhält Zutritt zum Zimmer des Onkels, ab und an nimmt er sie auch mit auf den Gebrauchtwagenplatz – dort arbeitet er. Onkel Hans gibt Jula all das, was ihr von ihrem Vater vorenthalten wird, er hört ihr zu, ist für sie da. Doch dem Leben, das er führt, fehlt die kindgerechte Version. Schnell lernt Jula, dass man nicht alles, was man tagsüber erlebt habe, abends erzählen müsse. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und wer schweigt, kann nicht lügen. Onkel Hans führt sie in eine Welt ein, in der sie auf allerhand seltsame Gestalten trifft, eine Welt mitten im Hamburger Kiez.

Zwei Mal sagte Großmutter streng: Dreh dich um, Rudolf! Tu es für das Kind! Ich flüsterte: Dreh dich um, Vati, du hast mich hier vergessen, bitte dreh dich um. Ich winkte wild mit beiden Händen, das müsste er, dachte ich, im Rücken spüren. Ich schlug die Fäuste gegen die Scheibe. Er verschwand im Schnee, er löste sich vor meinen Augen einfach auf.

Obwohl Jula noch ein kleines Kind ist, als sie ihren Onkel kennenlernt, merkt sie schnell, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Den schönen Erinnerungen an ihre Kindheit haftet ein Schmerz an, für den es kaum Worte gibt. In der Wohnung, in die sie  als junge Frau wieder zurück ziehen möchte, ist sie erwachsen geworden – auf schmerzhafte Art und Weise und viel zu schnell. Monika Held macht deutlich, dass eine Vergangenheit vergangen sein kann, doch manchmal nie ganz vergessen wird. Onkel Hans hat Jula nicht den ersten Schmerz ihres Lebens zugefügt, aber den größten – davon erzählt Monika Held erst sehr viel später, doch das Wissen darum, dass es da eine offene und eitrige Wunde gibt, die nie so ganz verheilen konnte, ist das ganze Buch über präsent.

Lieber Gott, sag ihm, dass er umkehren muss. Wenn er schläft, weck ihn auf. Ich habe noch Schleifen in den Zöpfen und niemand hat mir die Haare gebürstet.

Mit kurzen Sätzen und wenigen Worten gelingt es Monika Held auf beeindruckende Art und Weise die Geschichte von Jula zu erzählen. Es ist eine Geschichte, die mich sehr berührt hat, eine Geschichte, die ich so schnell nicht vergessen werde. Monika Held erzählt nicht einfach nur, sondern schreibt Sätze von einer solchen Kraft und Schönheit, dass sie sich tief in in mein Herz gemeißelt haben. Ihre Figuren sind mit sanften Strichen gezeichnet, man kommt ihnen so nah, dass ihr Schmerz und ihre Verletzlichkeit manchmal nur schwer zu ertragen sind. Jula, ihre Großmutter und Onkel Hans teilen ein Schicksal, ihnen allen wurde Schmerz zugefügt – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Ich glaube, dass Monika Held zu den wichtigsten Autorinnen unserer Zeit gehört – es ist beeindruckend, wie es ihr gelingt, die Schicksale ihrer Figuren mit Leben zu füllen und mit so viel Wärme und Liebe von ihnen zu erzählen.

Monika Held ist mit Trümmergöre ein großartiger Roman gelungen, der mich nicht nur beeindruckt hat, sondern auch tief berührt. Ich hoffe, dass die Geschichte von Jula und ihrem geliebten Onkel Hans noch viele Leser und Leserinnen finden wird. Dieses Buch hätte es verdient.

Der Sturm in meinem Kopf – Horst Sczerba

Was passiert, wenn man die beiden Menschen verliert, die man am meisten geliebt hat? Wie kann man ein solches Unglück überleben? Wie kann man eine solche Katastrophe überstehen, ohne verrückt zu werden? Horst Sczerba erzählt in seinem Romandebüt “Der Sturm in meinem Kopf”, die Geschichte von einem Mann, der sich schon sein ganzes Leben lang auf der vergeblichen Suche nach Gerechtigkeit befindet. Als seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall sterben, dreht er durch und kann nur noch daran denken, Rache zu üben.

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“Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Das dauert ein paar Minuten, dann ist es vorbei, und ich bin wieder der alte Georg Kupinski. Verwirrt reibe ich mir den roten Schleier von den Augen. Mit der Zunge befühle ich die wunden Stellen im Mund, es schmeckt süß, faulig und nach Eisen. Ich habe mich gebissen, was ich da schmecke, ist mein Blut.”

Horst Sczerba, der 1947 geboren wurde, ist eigentlich Autor von Drehbüchern für Film und Fernsehen. Mit “Der Sturm in meinem Kopf” legt er einen späten, dafür aber nicht weniger beeindruckenden, Debütroman vor. Der Klappentext spricht übrigens von einem furiosen Psychogramm zwischen Zärtlichkeit und Mordlust, morbide und albtraumschön, doch im Grunde erzählt Horst Sczerba zunächst einmal eine klassische Liebesgeschichte. Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge. Doch ganz so klassisch geht es bei Georg und seiner großen Liebe Eva dann doch nicht zu. Georg, der als Beamter bei der Mordkommission arbeitet, verliebt sich in einen Engel, in Eva, ein Mädchen aus reichem Hause. Doch der jungen Liebe stellen sich zu Beginn zahlreiche Hindernisse in den Weg: beide schwanken in ihrer Liebe zueinander zwischen Obsession und gegenseitiger Zuneigung. Erst als die gemeinsame Tochter Marie zur Welt kommt, stellt sich so etwas wie Glück ein.

“Manchmal wäre ich gerne eine Fliege. Es ist so einfach: Man kann überall hin, alles kann man sehen, ohne selber gesehen zu werden. Einer Fliege stehen die Geheimnisse der Welt offen. Vor einer Fliege kann sich niemand verstecken.”

An einem Wintertag bringt Eva die gemeinsame Tochter zu einem Kindergeburtstag. Die Bremsscheiben des Autos sind abgefahren, es hat nicht einmal Winterreifen drauf. Georg weiß das, aber Eva weiß das nicht. Georg kann an diesem Tag nicht fahren, weil er beim Tauchen im Schwimmbecken einen Schwächeanfall hatte – es ist der übermäßige Alkoholkonsum, der ihm zugesetzt hat. Wenn er damals weniger getrunken hätte, wenn er damals Marie selbst zum Geburtstag gefahren hätte, wenn er sich um die Bremsen und Reifen rechtzeitig gekümmert hätte – dann würden Frau und Tochter heute noch leben. So sterben beide auf einer Kreuzung, weil das Auto an einer roten Ampel nicht zum Stehen kommt.

“Jetzt, da von meiner Familie keiner mehr übrig geblieben ist, könnte ich die Wahrheit schreiben. Ohne Rücksicht könnte ich meine heimlichen Leidenschaften, Liebschaften, Verbrechen und guten Werke, meine Angst und meinen Zorn niederschreiben.”

Lange soll es dauern, bis Georg Kupinski fähig dazu ist, seine eigene Schuld, sein eigenes Versagen, seine eigenen Fehler anzuerkennen. Vor diesem bitteren Schuldeingeständnis liegt ein zorniger Rachefeldzug, der ihn beinahe alles kostet: seinen Verstand, seinen Beruf, sein Leben. Für Georg Kupinski ist es unbegreiflich, dass es für das Unglück, das sein Leben zerstören sollte, keinen Täter gibt, keinen Schuldigen – der Unfallfahrer wurde freigesprochen.

Erzählt wird diese Geschichte von Horst Sczerba in vielen kleinen Episoden und Rückblenden, sie führt den Leser nicht nur zurück in Georg Kupinskis Kindheit, sondern sogar bis nach Mexiko. Stetig schwankt das Erzählte dabei zwischen Phantasie und Wirklichkeit – die Trennlinie zwischen Wahn und Realität ist hauchdünn. Es ist der Bericht eines Wahnsinnigen, der voller Zorn, voller Wut, voller Verzweiflung und voller Schuld auf ein Leben blickt, das er selbst verpfuscht hat. Erst auf den letzten Seiten weicht der Wahn einer zunehmenden Klarheit. Horst Sczerba verzichtet zwar auf ein klassisches Happy End, doch das Buch endet doch irgendwie positiv – ohne Gefahr zu laufen, kitschig zu werden.

“Ich habe gewusst, wie leicht sie sich von Marie ablenken lässt. Dass sie nachtblind ist und im Dunkeln schlecht sieht. Wenn es dazu noch regnet oder schneit, sieht sie gar nichts. Ich habe gewusst, dass die Bremsbeläge abgerieben waren und dringend erneuert werden mussten. Nicht einmal die Winterreifen habe ich aufziehen lassen, obwohl die Sommerreifen kaum noch Profil hatten. Ich habe die beiden trotzdem fahren lassen.”

Horst Sczerba hat einen Roman über Schuld und Schicksal geschrieben, der von einer Hauptfigur getragen wird, die voller Zorn und Wut ist. Von einer Figur, die ihr ganzes Leben lang nach Schuldigen gesucht hat – überall, nur nicht bei sich selbst. “Der Sturm in meinem Kopf” erzählt von einem Kampf für Gerechtigkeit, der in einem unfassbaren Wahn endet.

Palo Alto – James Franco

James Franco wurde 1978 im kalifornischen Palo Alto geboren. Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Schauspieler, Regisseur, Filmproduzent, Maler und Performancekünstler. Bekannt wurde er durch seine Rollen in Spider Man und Milk, darüber hinaus war er in der Verfilmung Howl und an der Seite von Julia Roberts in Eat Pray Love zu sehen. Für seine Rolle in 127 Hours wurde er für den Oscar als “Bester Hauptdarsteller” nominiert. “Palo Alto” ist sein Debüt als Autor und wurde übersetzt von Hannes Meyer.

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“Wahrscheinlich ist es bei manchen Leuten so, dass ihnen nie einer sagt, was sie sein sollen, also sind sie nichts. Früher wurde man einfach in irgendetwas reingeboren, alles stand schon fest, also war man Bauer, bis man starb, oder man putzte das königliche Klo.”

“Palo Alto” ist eine Sammlung von insgesamt elf Stories, die in zwei Hälften geteilt ist, in Palo Alto I und Palo Alto II. Den Erzählungen vorangestellt ist ein Zitat von Marcel Proust, das dem Buch “Im Schatten junger Mädchenblüte” entstammt: “[…] die Jugend aber ist die einzige Zeit, in der man etwas lernt.” Es ist genau diese Zeit, die auch James Franco in seinen Erzählungen in den Mittelpunkt rückt. Eindringlich und erschütternd berichtet er von einer Generation, die verloren scheint – es ist eine Generation, die sich selbst verloren hat.

“Ich konnte nicht mehr über April reden. Barry hatte mit ihr geschlafen, mit der einen, die ich liebte, und es hatte ihm nichts bedeutet; Tanya würde sterben und es würde allen egal sein; die Erde war voll von Menschen, Milliarden Körper, die alle beerdigt werden und zu Dreck zerfallen; und Picasso war mit sechzehn schon ein Meister, und ich war bloß ein Stück Scheiße.”

Alle Stories sind in der kalifornischen Stadt Palo Alto angesiedelt, die einzelnen Erzählungen sind nicht miteinander verknüpft, doch immer wieder tauchen dieselben Namen auf, so lange, bis ich beim Lesen das Gefühl hatte, das all die Mädchen und Jungs zu einer einzigen Person verschwimmen. “Vor zehn Jahren, in meinem zweiten Jahr auf der Highshool, habe ich an Halloween eine Frau getötet.” James Franco erzählt von Jugendlichen, die eigentlich noch Kinder sind, doch ihre Kindheit viel zu schnell abschütteln mussten, um erwachsen zu werden. Von Jugendlichen, die Alkohol trinken, Drogen nehmen und Bewährungsstrafen erhalten. Er erzählt von Jugendlichen, die Sex haben, um anerkannt zu werden. Die alles dafür tun würden, gesehen zu werden. Jugendliche, die Tiere töten, um sich zu spüren, die Gegenstände zerstören, um am Leben teilzunehmen.

“Komisch, wie manchmal plötzlich neue Tatsachen auftauchen und einen am Guten in der Welt zweifeln lassen. Alle tun so normal, als ob sie deine Freunde wären, aber eigentlich führen sie ein ganz anderes Leben, von dem man nichts weiß. Wenn wir alle immer gefilmt werden würden, könnten wir uns die Filme der anderen ansehen, und dann wüssten wir von allen, wie sie wirklich sind.”

James Franco fängt in seinen Erzählungen ein ganz spezielles Lebensgefühl ein, er fängt die dunklen Seiten des Lebens ein und bannt sie auf Papier. Ohne Rücksicht, ohne Beschönigung – ungefiltert. Das ist bewegend, aber auch immer wieder erschütternd und schockierend. Der Autor tut das in einer nüchternen Art und Weise, wirft den Leser in das Leben seiner Figuren, nur um ihn nach wenigen Seiten wieder hinauszuwerfen. Vielleicht ist dies der einzige Vorwurf, dem man James Franco machen könnte: die Erzählungen entfalten ihre Stärke und Kraft durch die Kürze, doch gleichzeitig hätte ich mir immer wieder gewünscht, tiefer in das Leben der Figuren eintauchen zu können. Alle Geschichten kreisen um die Schwierigkeiten von Kindern, die erwachsen werden. Es sind verlorene Kinder, denn sie haben niemanden um sich, der sich kümmert, der tröstet – keinen Ratgeber, keinen Freund.

“Man kann gegen das Teerbaby nicht ankmäpfen, das will es gerade. Wenn du das Teerbaby schlägst, zieht es dich rein. Sobald es dich in seinen Fängen hat, verliert es seine Form, wird zu einem klebrigen, schwarzen Monster und umhüllt dich ganz und gar. Je mehr du kämpft, an ihm zerrst und reißt, desto mehr verklebt es dich, bis du dich nicht mehr bewegen kannst und nur noch ein Klumpen Teer bist. Und irgendwann bist du das Teerbaby. Nur dass du statt der Knopfaugen echt Augen hast, die unter dem Teer hindurchschauen.”

Die Stories von James Franco erinnern an J. D. Salinger oder auch an Bret Easton Ellis – sie sind frei von Helden und stattdessen bevölkert von Jugendlichen, die fürchterlich einsam und alleine sind und diese innere Leere auch mit Alkohol, Drogen oder Sex nicht füllen können. Die Erzählungen sind mitunter schockierend und verstörend, wie ein Messer schneiden sie einem beim Lesen brutal in das eigene Fleisch und doch konnte ich das Buch zwischendurch kaum noch aus der Hand legen.

“Ich fahre gerne den leeren, dunklen Freeway entlang, der hin und wieder von Lichtern an der Straße erleuchtet wird, und wenn ich diese Lichter sehe, denke ich an die ganzen kleinen Welten da draußen, all die kleinen Tiere, die dort in ihren Revieren leben, und daran, dass wir einfach an der Seite ranfahren und in jeder beliebigen dieser kleinen, vergessenen Ecken der Welt ein Abenteuer erleben könnten, in diesen Nicht-Zonen, den wertlosen Abfallgrundstücken im Kielwasser der großen Freeways, und ich fahre gerne an ihnen vorbei, wenn ich über den Freeway rase wie durch einen Tunnel in die Nacht und dabei trotzdem noch eine ganze Actionszene mit Joe inszenieren kann, und ich denke, das ist das Leben, weil ich Gas gebe und die Zeit mich vorantreibt und nie aufhört, und manchmal hat man eben einen Beifahrer im Wagen, und dann kann man sich zusammen die Landschaft anschauen oder Musik hören, die beiden gefällt, oder ein kleines bisschen mit dem Messer spielen, weil man wissen will, ob der andere auch wirklich da ist.”

In “Palo Alto” fängt James Franco in unnachahmlicher Art und Weise das Lebensgefühl von gestrandeten Jugendliche ein. Es sind brutale Erzählungen, die verstören und schockieren. “Palo Alto” ist kein schönes Buch, es ist dreckig und rau, ich habe mich an den Erzählungen gestoßen und das Buch mit dem Gefühl zugeklappt, von blauen Flecken übersät zu sein und doch habe ich darin auch ein tiefes Gefühl von Menschlichkeit gefunden.

Gefährliche Arten – Svealena Kutschke

Svealena Kutschke wurde 1977 in Lübeck geboren. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetischen Praxis in Hildesheim lebt sie heutzutage als freie Autorin in Berlin. 2008 gewann sie den Open Mike, ein Jahr später wurde ihr vielbeachteter Debütroman “Etwas Kleines gut versiegeln” veröffentlicht. Im vergangenen Literaturherbst erschien im Eichborn Verlag ihr zweiter Roman “Gefährliche  Arten”.

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“Auch wenn ich wusste, dass es nur die Erinnerung an Glück war, fehlte mir im Gegensatz zu den anderen jede ironische Distanz.”

“Gefährliche Arten” beginnt mit einem Moment, der schockiert, entsetzt, verstört. Es ist der Moment in dem Sasha, eine junge Künstlerin, eine obdachlose Frau im Schlaf ermordet, in dem sie ihren Fuß auf ihre Kehle stellt. Während sie mit ihrem nackten Fuß der Frau die Luft zum Atmen abdrückt, telefoniert sie mit ihrer kleinen Tochter Lizzy. Diese Szene ist dem Buch in Form eines Prologs vorangestellt. Es ist ein Prolog, der sich schattengleich auf die Figur von Sasha in allen weiteren Szenen legt, wie ein Abdruck auf der Netzhaut, der sich nicht mehr wegwischen lässt.

“In den nächsten Wochen würde ich Freunden wie Fremden bei der ersten Gelegenheit, auf Partys und in Cafés, im Supermarkt und in der U-Bahn unaufgefordert mitteilen, dass meine Mutter versucht hätte, sich zu erhängen, ertränken, ersticken, erschießen, und die irritierten, peinlich berührten oder auch verärgerten Blick fotografieren.”

Sasha ist Künstlerin. Wenn man so wollen würde, könnte man sie als Konzeptkünstlerin bezeichnen. Das Konzept hinter ihrer Kunst ist der Wunsch danach, zu verstören. Sie möchte Kunst schaffen, die berührt und wenn sie allein dadurch berührt, dass sie verwirrt und schockiert, Entsetzen und Ekel hervorruft oder auch provoziert. Die Kunst ist für Sasha eine Möglichkeit ihr Leben zu verlassen und fremde Welten zu betreten: für ihre Kunstprojekte schlüpft sie in fremde Leben, verkleidet sich als Apothekerin, stempelt als Postangestellte Briefe oder handelt mit ausgestopften Tieren. Ihr Privatleben ist ähnlich turbulent wie ihre Performance-Kunst. Mal schläft sie mit Mo, mal mit Tim, dann mit Jannis. Dabei ist Jannis doch eigentlich mit Sophie zusammen, die wiederum eine Affäre mit Tim hat. Gemeinsam nimmt man Drogen, liebt und streitet sich.

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“Mit Jannis zu reden war wie eine Line zu ziehen, zusammen entwickelten wir Gedanken, die in der Lage waren, Glas zu schneiden.”

Das Leben von Sasha ist spielerisch, nicht spielerisch leicht, aber spielerisch wie ein Abenteuerspielplatz. Als wäre das ganze Leben von Sasha ein Ausstellungsstück ihrer eigenen Konzeptkunst. Nichts ist ernst, nichts bleibt. Doch dann bleibt Jannis, mit dem sie gemeinsam ein Kind bekommt: Lizzy. Doch kaum ist Lizzy auf der Welt, treibt es Sasha und Jannis bereits wieder auseinander: “Dass wir Lizzy zeugten, in dem Moment, wo wir erkannten, dass wir einen Fehler gemacht hatten.” Sasha bricht aus, aus den Erwartungen an sie und aus den Erwartungen die ein Leben mit Kind schüren. Sie setzt sich ab, aufs Land, später nach Nanjing – Lizzy lässt sie bei Jannis zurück.

“Die ganze Wohnung kam mir vor, als wäre sie eine Kulisse. Auch Jannis und Lizzy blieben zweidimensional, wenn auch eine beunruhigend echte Körperwärme von ihnen ausging.”

Sasha gerät in einen Strudel, aus dem sie nicht herausfindet. Während Jannis die Geburt seiner Tochter zum Anlass nimmt, die wilden Zeiten zurückzulassen und ein ruhigeres Leben zu beginnen, stürzt Sasha ab. Die Drogen, die sie nimmt, führen irgendwann dazu, dass sie selbst kaum noch zwischen Kunst und Leben, zwischen Wahn und Realität, zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden kann.  Sie beginnt Liebe die vergeht, mit Hass zu verwechseln. Sie wird gemein, perfide, zeigt ihr hässliches Gesicht und ist zu Dingen fähig, von denen man im Prolog des Romans eine Ahnung erhält.

“Die Liebe kann doch nicht mehr gut schmecken. Da steckt doch schon der Dreck von Generationen drin. Tränen, gebrauchte Kondome, Judith Butler, Alice Schwarzer, Marquise de Sade und Don Juan. Eheringe oder Goldkronen, macht doch keinen Unterschied. Ist es nicht egal, was ich mir im Kino schaue? Einen Porno oder Himmel über Berlin. Ist es nicht egal?”

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“Gefährliche Arten” ist ein schmales Büchlein, doch den Eindruck, ein leichtes Lesevergnügen vor sich zu haben, der täuscht. Svealena Kutschke schreibt über die Liebe und unsere heutige Generation, doch “Gefährliche Arten” ist ganz sicherlich weit entfernt von einer Liebesgeschichte oder gar von einem Wohlfühlroman. Man fühlt sich in diesem Roman nicht wohl. Ganz im Gegenteil: ich habe mich abgestoßen gefühlt, angeekelt, frustriert, verwirrt, verstört. Einen roten Faden zu finden ist schwer, zusammengehalten wird die Geschichte durch die Schockmomente. Der rote Faden ist der schleichende Absturz von Sasha, es ist ein Sturz in die Bodenlosigkeit – an einen Ort, wo Wahn und Realität eins zu werden scheinen. An diesem Punkt kann der Roman überzeugen: Svealena Kutschke pflanzt uns hinein in den Kopf einer Figur, die irgendwann einen Zustand erreicht hat, an dem sie nicht mehr weiß, ob sie das, was sie gerade getan hat, wirklich getan hat. Auch sprachlich überzeugt die Autorin mit Sätzen, die wie Rasierklingen in weiße helle Haut schneiden. Es gibt wunderbare Sätze, die man am Liebsten für immer im Kopf behalten möchte. Und doch! Und doch, und doch, und doch hat mir der vielbeschworene rote Faden gefehlt. Das Garn, was all diese bestürzenden Momente und wunderbaren Sprachbilder zusammennähen könnte, das fehlt. Leider. Das führt dazu, dass “Gefährliche Arten” an vielen Stellen ein fragmentarisches Leseerlebnis bleibt.

Svealena Kutschke legt mit “Gefährliche Arten” einen gefährlichen Roman vor, der rau, hart und derb ist, voller Ecken und Kanten, an denen man sich beim Lesen stoßen kann. Beworben wird das Buch als Generationenroman, doch mich habe ich in dieser Generation nicht wiederfinden können. Gelesen habe ich stattdessen einen Roman über die Macht der Kunst, die Kraft der Bilder und die dreckigen und verdorbenen Seiten der Liebe.

Haus aus Erde – Woody Guthrie

Woody Guthrie wurde am 14. Juli 1912 in Oklahoma geboren und starb am 3. Oktober 1967 in New York. Zwar war er mir bisher unbekannt, sowohl als Autor, als auch als Musiker, doch er gilt für viele als die Ikone der amerikanischen Folkszene. Dazu beigetragen hat sicherlich sein Song “This Land is your Land”, der zur inoffiziellen Nationalhymne des anderen Amerikas wurde. Genau diesem anderen Amerika wollte Woody Guthrie auch in seinem Roman “Haus aus Erde” eine Stimme geben. Entstanden ist dieser bereits zwischen 1940 und 1947, doch erst vor kurzem wurde er in einer Schublade entdeckt und veröffentlicht. Für die Veröffentlichung verantwortlich ist der Verlag Infinitum Nihil, der von dem Schauspieler Johnny Depp und dem Historiker Douglas Brinkley gegründet wurde. Übersetzt wurde “Haus aus Erde” von Hans-Christian Oeser, der bereits William Faulkner, Scott Fitzgerald und Mark Twain übersetzt hat.

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“Das Leben ist ganz schön hart … Man hat Glück, wenn man’s überlebt.” – Woody Guthrie

“Haus aus Erde” ist ein Buch, das einer besonderen Zeit entsprungen ist: wir müssen uns zurückversetzen in ein Amerika der dreißiger Jahre. Am 14. April 1935 fegt ein besonders schlimmer Sturm aus Staub über Texas hinweg, ein dust bowl. Woody Guthrie wohnt in Pampa und erlebt diese verheerende Naturkatastrophe hautnah mit: es gibt zahlreiche Todesopfer und ganze Felder, Ackerböden und Häuser sind zerstört. Es ist vor allem das Eigentum der Menschen betroffen, die sowieso wenig besitzen. Menschen, deren Boden der Bank gehört und deren Häuser klapprig und modrig sind. Menschen, die ihr Hab und Gut und ihre ganze Lebensgrundlage verlieren, ohne, dass die Regierung ihnen einen Cent zurückzahlt. Dieses Ereignis sollte Woody Guthrie nachhaltig prägen; es hat auf jeden Fall die Konzipierung des vorliegenden Romans beeinflusst.

“Über die Halme der trockenen Riedgräser sang der Wind der Upper Plains sein einsames Hohelied. Was nicht niet- und nagelfest war, bewegte sich mit dem Wind, der Staub aber blieb dicht am Boden.”

“Haus aus Erde” erzählt die Geschichte von Tike und Ella. Beide haben kaum Ansprüche an ihr Leben, doch sie hätten gerne Ackerboden und ein sturmfestes Haus. Doch das Land auf dem sie leben, gehört nicht ihnen, sondern der Bank und der Traum ein Haus aus Lehm zu bauen, bleibt lediglich ein unerfüllter Wunsch. Der Gegensatz von Holz, das genauso vermodert, wie die Träume der einfachen Menschen und Adobe, die ungebrannten Lehmziegel, die wie eine unerreichbare Utopie erscheinen, prägt den Roman. Neben Tike und Ella treten noch die Krankenschwester Blanche und ein Inspektor des US-Landwirtschaftsministerium auf. Dieser Inspektor steht sinnbildlich für die Regierungen und Großgrundbesitzer, die Agrarindustrie und Politiker auf der ganzen Welt, die den armen Menschen Hilfe und Unterstützung beim Kampf gegen Naturkatastrophen verweigern.

“Eine Welt nah an der Sonne, noch näher am Wind, an Wolkenbrüchen, Überschwemmungen, feinem Schlamm, trockenen und staubigen Dingen, die in dieser Welt den Halt verlieren und, wie die Steppenhexe, dahinwehen und -rollen, Drahtzäune überspringen und im Nordwind zu ihrem letzten staubigen Sprung ansetzen, von den Upper Plains des Nordens hinab in die sandigeren, baumwollbepflanzten Plains westlich von Clarendon.” 

Woody Guthrie hat mit “Haus aus Erde” einen Roman für die Menschen geschrieben, die nichts besitzen, außer Schulden und deshalb gerne von allen anderen übersehen werden. Doch “Haus aus Erde” ist nicht nur ein politischer Roman, sondern auch ein Liebesroman. Es ist die Liebe, die Tike und Ella hilft, die Schwere und Unsicherheit in ihrem Leben aushalten und ertragen zu können. Es ist die Liebe, die die Sorgen und Schmerzen verstummen lässt – zumindest für eine kurze Zeit. Für die damalige Zeit ist der Roman auch erstaunlich erotisch. Es gelingt Woody Guthrie in einer bemerkenswerten Art und Weise, das Gefühl der Zweisamkeit zwischen Ella und Tike einzufangen und auf Papier zu bannen.

“[…] die Hütten schauen auf die größeren Häuser und verfluchen sie, heulen, weinen und fragen nach Fäulnis, Schmutz, Schmerz, Elend, dem Verfall von Land und Familien.” 

In all dem Düsteren, das es in dieser Welt der Benachteiligten und Verarmten gibt, leuchtet die Liebe von Ella und Tike wie ein strahlender Stern. Vielleicht ist diese Liebe das Schönste dieses Romans, denn sie überdauert bis in die heutige Zeit. Die politische Situation hat sich mittlerweile verändert, doch die Kraft, die einem die gegenseitige Liebe geben kann, um hoffnungslose Momente überleben zu können, die kann auch heute und immer noch gültig sein.

“Warum muss es immer was geben, was einen umhaut? Warum is dieses Land voller Sachen, die man nich sehen kann, voller Sachen, die einen umhauen, umstoßen, umschmeißen und einem die letzte Hoffnung rauben? Warum muss mich, sobald ich auf ein kleines Dies oder ein kleines Das hoffe, immer, aber auch immer diese irrwitzige Dieberei umhauen? […] Nie hab ich mich nach was anderem gesehnt als nach ner anständigen Ort zum Wohnen und nem anständigen ehrlichen Leben. Warum gelingt uns das nicht?”

Sprachlich ist der Roman davon geprägt, dass Woody Guthrie sich darum bemüht, den Dialekt einer Bevölkerungsschicht einzufangen und abzubilden, die sich ganz unten befindet. Seinen Figuren legt er eine häufig einfache Ausdrucksweise in den Mund und schafft mit diesem Slang eine gewisse Form der Authentizität.  Dem Übersetzer Hans-Christian Oeser gelingt es zauberhaft, die Redewendungen und idiomatischen Ausrufe ins Deutsche zu übertragen, die Sprache der Figuren wirkt weder aufgesetzt noch übertrieben.

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Woody Guthrie hat einen Sturm aus Staub selbst überlebt, der als Vorlage für diesen Roman fungiert. Erstaunlicherweise wird der Sturm selbst in der Geschichte kaum erwähnt, doch die über allem schwebende Angst vor der nächsten Naturkatastrophe ist im Roman immer präsent. “Haus aus Erde” porträtiert am Beispiel von Ella und Tike die Menschen, die trotz aller widrigen Umstände dageblieben sind und sich dem drohenden Sturm ausgesetzt haben. Der Roman porträtiert die Menschen, die sich nicht vertreiben lassen und ihr Leben aufs Spiel setzen, um das Wenige, was ihnen gehört, zu verteidigen. Bessere und klügere Worte, als sie Douglas Brinkley und Johnny Depp in ihrer lesenswerten Einleitung für den Roman finden, finde ich nicht, deshalb kann ich lediglich zitieren:

“Wenn man Guthrie liest, hört man die vielen Stimmen der Leute, seiner Leute, der hart arbeitenden Menschen in den Great Plains, Menschen, die keine Plattform hatten, um ihrer großen Not Gehör zu verschaffen. Seine Stimme ist die des verlorenen, des unterdrückten, des vergessenen Amerikaners, der im Landesinneren sein Leben fristet.”

Was bleibt mir noch zu sagen übrig? Für die Literatur und ihre Leser ist es großartig, dass dieses Buch entdeckt und verlegt wurde: “Haus aus Erde” ist eine Zeitreise zurück in ein Amerika der dreißiger Jahre, zurück in eine Hütte aus Holz, die dem tosenden Sturm ausgesetzt ist. “Haus aus Erde” ist eine Liebesgeschichte und ein literarisches Denkmal für die Menschen, denen niemand sonst eine Stimme geben würde. “Haus aus Erde” ist ein Roman, wie ein Folksong: melodiös und eingängig. Man möchte nur noch auf Repeat drücken.

Sarah Stricker im Gespräch!

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Sarah Strickers Roman „Fünf Kopeken“ war einer der Überraschungserfolge in diesem Herbst. Ich hatte die Möglichkeit die Autorin auf der Buchmesse in Frankfurt zu treffen und mit ihr, nicht nur über ihren Debütroman, zu sprechen.

Du lebst seit 2009 in Israel – wie ist es dazugekommen?

Ursprünglich bin ich mit einem Journalisten-Stipendium nach Israel gekommen, um für die größte Nachrichtenseite dort zu arbeiten. Eigentlich sollte ich zwei Monate bleiben. Aber es hat genau zwei Wochen gedauert, bis ich wusste: hier will ich nicht mehr weg. Warum ich mich zum Bleiben entschieden habe? Natürlich gab es Gründe, und ich könnte jetzt lang und breit darüber erzählen, wie ich mich die Mentalität der Israelis verliebt habe, oder dass es einfach keinen Ort auf der Welt gibt, an dem ich so gut schreiben kann, wie auf meinem Balkon in Tel Aviv. Aber im Endeffekt ist es wie in jeder Liebesbeziehung: Genauso wie man es tunlichst unterlässt, den Partner zu fragen, ob er einen noch liebt, empfiehlt es sich auch nicht, zu fragen, „warum liebst du mich eigentlich?“. Was man da hört, ist entweder unglaublich banal. Oder so schmierig von all dem Pathos, dass es einem durch die Finger flutscht. Die Antwort liegt wahrscheinlich irgendwo im toten Winkel des Denkens. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich in Israel sehr glücklich bin.

Kannst du denn sagen, was dir an deinem Leben in Tel Aviv besonders gefällt? Was du vielleicht am meisten schätzt?

Wahrscheinlich, dass es schier unmöglich ist, zu vereinsamen. Als ich noch in Berlin gelebt habe, hatte ich manchmal das Gefühl, völlig von meiner Umgebung abgeschlossen zu sein, gerade in intensiven Schreib-Phasen, wo man ja doch schnell zum Einsiedler wird. In Deutschland kann man einen ganzen Tag durch die Welt gehen, ohne mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Selbst in Geschäften schiebt man einfach das Geld über den Tresen, bekommt die Ware und geht wieder, ohne dass man ein Wort miteinander gewechselt hätte. In Tel Aviv redet jeder mit jedem und das pausenlos. Man schafft es gar nicht durch den Supermarkt, ohne sofort in ein Gespräch verwickelt zu werden – was natürlich manchmal auch sehr nervtötend sein kann. Aber wenn ich auf meinem Balkon sitze und die lachenden und streitenden und, wie gesagt, pausenlos redenden Menschen höre, hab ich eher das Gefühl, Teil der Welt zu sein, in der ich lebe. Unabhängig davon habe ich in Tel Aviv aber auch einfach tolle Freunde gefunden. Das ist ja eigentlich immer der ausschlaggebende Grund dafür, dass man sich an einem Ort wohl fühlt: weil da Menschen sind, mit denen es irgendwie passt. Die hätte ich theoretisch natürlich auch woanders finden können, aber sie waren nun mal in Tel Aviv.

Was sind für dich die größten Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und dem Leben in Israel?

Israelis sind viel direkter, machen sich weniger Gedanken darum, was Leute über sie denken könnten und halten nicht besonders viel von Regeln. Vor allem aber nehmen sie sich selbst nicht so ernst – was auf mich wahrscheinlich einen ganz guten Einfluss hat. Israel ist einfach ein Land, das größere Probleme hat, als Schreibkrisen. Rumgejammer, weil man mal einen Tag lang keinen gescheiten Satz hinbringt, wird einem dort ganz schnell abtrainiert. Wahrscheinlich hat es genau deshalb mit dem Roman in Tel Aviv so gut funktioniert. Ich habe das Gefühl, die Spitzen meiner Persönlichkeit wurden ein bisschen abgestumpft: sich wegen Kleinigkeiten verrückt machen, das Gefühl, immer irgendetwas müssen zu müssen, die Unfähigkeit, einfach mal nichts zu tun, ohne von schlechtem Gewissen zerfressen zu werden… all diese ja doch sehr deutschen Verhaltensweisen vertragen sich nicht besonders gut mit Kreativsein. Israel hat mich da bestimmt ein bisschen lockrer gemacht – was nicht heißt, dass ich mir nicht noch immer ca. einmal die Woche die Haare raufe, weil die Worte mal wieder nicht so wollen wie ich.

Wie hat dein Umfeld auf deine Entscheidung reagiert in Israel zu bleiben? Gab es unter den Reaktionen auch Sorge oder Angst?

Als ich angefangen habe, mich für Israel zu interessieren, war meine Mutter alles andere als begeistert. Für sie war Israel einfach eine einzige Kriegszone, und als letztes Jahr dann wirklich die Sirenen über Tel Aviv geheult haben, hat sie schon sehr gelitten. Ich glaube, sie hat es mir richtig übel genommen, dass ich nicht einfach zurück nach Deutschland geflogen bin und ihr schlaflose Nächte bereitet habe. Aber allmählich steckt meine Familie die Sorgen ganz gut weg, sie merken einfach, wie gut es mir geht, seitdem ich in Israel lebe. Natürlich wäre es ihnen lieber, wenn ich in ihrer Nähe wäre. Aber bevor ich nach Israel gezogen bin, habe ich in Berlin gewohnt. Das war auch sieben Stunden von meinem Heimatort entfernt. Länger dauert es jetzt auch nicht.

Israel wird in Deutschland vor allem als Krisenregion wahrgenommen. Bekommst du in deinem alltäglichen Leben in Tel Aviv überhaupt etwas davon mit?

Klar, ich bin ja ursprünglich Journalistin und auch so ein sehr politischer Mensch, ich lese Nachrichten, ein paar meiner Freunde sind in der Politik, es gibt keine Woche, in der ich nicht mit irgendjemandem in einen Streit gerate. Aber natürlich blendet man das im Alltag ein Stück weit aus. Ich habe keine Angst. Vorhin wurde ich gefragt, ob ich denn auch Bus fahre: klar, klar fahre ich Bus! Da denke ich auch nicht zweimal drüber nach.

Wie sieht deine weitere Lebensplanung aus, möchtest du irgendwann in deine Heimat zurückkehren?

Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, aus Israel weg zu gehen. Ich vermisse es auch ganz schnell. So spannend die Buchmesse und der ganze Presserummel rund um die „Fünf Kopeken“ sind – nach ein, zwei Wochen in Deutschland zieht es mich schon wieder nach Tel Aviv. Aber wenn du mich fragst, was meine Zuhause ist, muss ich ganz ehrlich sagen: Für mich ist mein Zuhause am ehesten die Sprache. Ich fühle mich da daheim, wo ich schreiben kann. Und das klappt in Tel Aviv nun mal am besten. Versteh mich nicht falsch, ich hab einen riesen Spaß hier, aber ich freu mich einfach darauf, wieder an meinen Schreibtisch zu kommen und mich an den zweiten Roman zu machen. Die Ideen kommen allmählich zusammen. Aber leider ist es gerade ziemlich schwer, Zeit zu finden, um konzentriert zu arbeiten. Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn ich mir einen Tag freischaufle, kommt eine neue Interviewanfrage. Das ist natürlich toll! Ich jammere hier auf hohem Niveau. Aber ich merke auch, dass es mir nicht gut tut, wenn ich länger nicht schreibe – ich werde dann einfach ein grantig.

Inwiefern hat Israel dein Schreiben verändert?

Es hat mir gut getan, weit weg zu sein. Auch weit weg von aller Konkurrenz oder allen Stimmen, die einem sagen könnten, ob das, was man da fabriziert, eigentlich gut ist oder nicht. Ich war nie Teil einer „Szene“, weder habe ich im Literaturinstitut studiert, noch war ich in irgendwelchen Schreibworkshops. In Israel hatte ich ganz automatisch die Distanz, die ich brauchte, weil ich abgeschnitten von der deutschen Sprache im Hebräischen eingeschlossen war, sodass ich mich ganz auf mein Eigenes konzentrieren konnte. In Deutschland kamen mir immer wieder Stimmen von außen in die Quere. Aber natürlich ist es auch einfach so, dass Sonnenschein am Morgen sehr hilft, den eigenen Schweinehund zu bekämpfen.

Im Herbst dieses Jahres ist dein Debütroman „Fünf Kopeken“ erschienen – was hat es mit dem ungewöhnlichen Titel auf sich?

Vor ein paar Jahren hab ich mal ein Weilchen Russisch gelernt, und da hat mir jemand erzählt, dass in der Sowjetunion die fünf die beste Note war und es offenbar den Brauch gab, Kindern vor wichtigen Prüfungen ein Fünf-Kopekenstück unters Kopfkissen zu legen. Die Geschichte hatte ich längst wieder vergessen, als ich eines Sonntagmorgens in Berlin eine fürchterliche Schreibkrise hatte. Um mich abzulenken bin ich auf einen Flohmarkt gegangen, und da ist mir die Münze sprichwörtlich in die Hände gefallen. Als ich sie gesehen habe, ist mir nicht nur diese Anekdote wieder eingefallen – plötzlich haben sich auch die ganzen Ideen, die mir bis dahin so im Kopf rumgespukt sind, zu einer Geschichte zusammengefügt, die ich unbedingt aufschreiben wollte.

Eines der zentralen Themen ist Schönheit und Hässlichkeit – wie bist du auf diese Themen gekommen und warum war es dir wichtig darüber zu schreiben?

„Meine Mutter war sehr hässlich“, der erste Satz des Romans, ist bereits ein Tabu. Ich habe das Gefühl, dass Leser diesen Satz nie einfach stehen lassen können. Entweder sie denken, das Buch sei autobiographisch und ich würde einfach auf hundsgemeinem Weg versuchen, meiner Mutter eins auszuwischen. Oder sie wittern eine Finte und gehen davon aus, dass die Mutter doch in irgendeiner Weise attraktiv sein könnte. Das fand ich sehr spannend! Warum ist das so? Warum kann das niemand akzeptieren? Die ersten Ideen zu dem Thema kamen mir bereits während der Schulzeit: einer meiner besten Freunde hatte seine Mutter verloren und nur ganz selten darüber geredet. Wenn er doch mal über sie sprach, sagte er: „Sie war wunderschön.“ So bewegend ich das damals auch fand, so empfand ich es doch immer auch als seltsam, dass er ausgerechnet dieses Klischee wählte. In Memoiren oder Erinnerungen sind Mütter ja immer schön, auch die hässlichen. Das muss einfach so sein. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die meisten von uns ihre Eltern nur sehr oberflächlich betrachten. Würde man seine Eltern als richtige Personen wahrnehmen, aus Fleisch und Blut, mit eigenen Bedürfnissen, die nichts mit unseren eigenen zu tun haben, würden sie auch zur Konkurrenz. Wer will schon riskieren, herauszufinden, dass die eigenen Eltern vielleicht viel krasser unterwegs waren, als man selbst. Den meisten ist es deshalb lieber, wenn ihre Mutter und ihr Vater einfach nur „die Mama“ und „der Papa“ bleiben. Die Fahrstuhlmusik für das eigene Auf und Ab. Eigentlich wissen wir überhaupt nicht, wer unsere Eltern sind. Deshalb war es mir auch wichtig, dass die Mutter den ganzen Roman über keinen Namen bekommt.

Dein Roman wurde in der Presse sehr euphorisch besprochen, hattest du mit diesem Erfolg gerechnet oder zwischendurch auch gezweifelt?

Ich hatte Zweifel, habe nach wie vor Zweifel und glaube, wenn man nicht immer am Zweifeln ist, sollte man es mit dem Schreiben lieber lassen. Als ich mit dem Roman angefangen habe, hatte ich weder eine Agentur, noch einen Verlag. Ich habe geschrieben, weil ich den Roman schreiben wollte.

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