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Machandel – Regina Scheer

Machandel ist das Romandebüt von Regina Scheer, in dem sie nicht nur einen Teil der ostdeutschen Geschichte wieder zum Leben erweckt, sondern gleichzeitig auch eine weitverzweigte Familiengeschichte erzählt. Eine Familiengeschichte voller Träume und Hoffnungen, voll von Freundschaft und Verrat.

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Man muss nicht in einer großen Stadt leben. Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen.

Regina Scheer macht einen verwunschenen Sommerkaten und ein kleines mecklenburgisches Dorf zum Zentrum ihres Romans. Das Dorf ist fiktiv, liegt nur zwei Stunden von Berlin entfernt in nördlicher Richtung und trägt den Namen Machandel. Ein Name, der nicht zufällig gewählt wurde, sondern auf die uralte Geschichte des Machandelbooms zurückgeht. In den unterschiedlichen Kulturkreisen wird diese Geschichte immer wieder anders erzählt: in dem Märchen der Brüder Grimm begräbt Marlene unter dem Machandelbaum die Knochen ihres Bruders, der anschließend in der Gestalt eines Vogels wieder aufersteht und davon singt, dass er ermordet wurde – durch die eigene Stiefmutter. Das Märchen bildet das Fundament des Romans – im übertragenen Sinne sagt es, dass man die Erinnerung zulassen muss, da in ihr das Geheimnis der Vergebung und Erlösung liegt. Nur wer sich erinnert, dem kann verziehen werden.

Früher. Ich bin schon wie die alten Frauen, die in dem Dorf wohnten, als wir hierherkamen; sie lebten mit Menschen, die nicht mehr da waren, das längst Vergangene gehörte zu ihrer Gegenwart. So geht es mir auch, wenn ich an meinen Katen denke, ein schönes Haus mit einem Badezimmer und großen grünen Kachelöfen, die geölten Fenster aus Lärchenholz, das Fachwerk innen und außen mit Lehm verputzt.

Doch worum geht es eigentlich? Machandel ist ein so weit verzweigter Familienroman und ein so umfassendes Zeitmosaik – Regina Scheers Erzählung umfasst mehr als neunzig Jahre -, dass es nicht ganz leicht fällt, die Handlung zusammenzufassen. 1985 begleitet Clara ihren Bruder Jan in das mecklenburgische Dorf Machandel. Der vierzehn Jahre ältere Jan steht kurz vor der Ausreise aus der DDR, er wurde im Schloss von Machandel geboren und ist in diesem märchenhaften Dorf aufgewachsen. Doch mittlerweile möchte er nur noch weg. Als Clara mit Jan und ihrem Mann damals nach Machandel reiste, entdeckte sie dort einen Sommerkaten. Einen verwunschenen Ort – scheinbar perfekt für die kleine Familie. Ihren Bruder verliert sie – er flüchtet aus der Republik, doch dafür erhält sie einen Platz im Ort seiner Kindheit. Der Sommerkaten wird von Clara zu einem Wochenendhaus hergerichtet, der ihr und ihrer Familie immer wieder Zuflucht gewährt. Schon ihr Vater, der von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, ist Jahrzehnte zuvor nach Machandel geflüchtet. Der flüchtende Vater, der damals Kommunist gewesen ist, wird nach dem Krieg zum Staatsdiener. Aus dem Kommunisten wird ein erfolgreicher Minister, doch seine eigenen Kinder wenden sich ab: Jan stellt einen Ausreiseantrag und Clara schließt sich Bürgerbewegungen an. Die Mutter verfällt dem Alkohol.

Aber jetzt ahnte ich, dass ich hier an diesem Ort etwas finden könnte, was wie ein verlorenes Verbindungsstück zu ihm wäre. Und vielleicht auch zu unseren Eltern. 

Regina Scheer lässt ihre Geschichte abwechselnd von fünf unterschiedlichen Stimmen erzählen: drei Männer und zwei Frauen kommen zu Wort und als Leser wird man Teil ihrer Lebensgeschichten. Machandel wird dabei zu einem Knotenpunkt. Eigentlich reist Clara in das Wochenendhäuschen, um an ihrer Dissertation zu arbeiten (über das Märchen Von dem Machandelbloom), doch stattdessen streift sie immer wieder durch das Dorf – es ist ein Streifzug durch die Vergangenheit, ein Streifzug auf der Suche nach Antworten. Ähnlich wie Marlene, die die Knochen ihres Bruders aufsammelt, um sich an ihn zu erinnern und ihn damit wieder zum Leben erweckt, sammelt auch Clara Erinnerungen auf: es sind Erinnerungssplitter, Erinnerungsbilder Erinnerungstrümmer, Erinnerungsbruchstücke. Sie erinnert an die Flüchtlinge aus dem Osten, die nach Machandel kamen – in der Hoffnung dort Unterschlupf zu finden. Sie erinnert an eine russische Zwangsarbeiterin, die im Dorf ein neues Zuhause fand. Sie erinnert an ein junges Mädchen, das in eine Anstalt eingeliefert wurde. Sie erinnert an ihren Vater, der schwerverletzt im Schloss von Machandel gesund gepflegt wurde und sich dabei verliebte.

Ich spürte und wusste allmählich, dass an diesem Ort, in unserem eigenen Haus, etwas geschehen war, das nicht vergessen war, das sich jederzeit plötzlich zeigen konnte, als ein Schmerz in Nataljas Gesicht, als ein Verstummen im Gespräch der Frauen am Bus, in der Geste, mit der sie sich kaum merklich von Wilhelm abwandten. Dieses Ungesagte verwob sich für mich mit dem Märchen vom Machandelbloom, es machte mich traurig. Dennoch fuhren wir so oft wie möglich nach Machandel, als würden wir nur an diesem Ort festhalten können, was uns allmählich verloren ging.

Regina Scheer legt mit Machandel einen Roman vor, der einem Kaleidoskop gleicht – einem Mosaik. Es ist kaum möglich, dieses märchenhafte Panorama aus einzelnen Schicksalen, geschichtlichen Entwicklungen und sozialen Strömungen zusammenzufassen. Es ist erst recht nicht möglich, diesem Panorama auch noch gerecht zu werden. Dem Leser werden ganz viele unterschiedliche Stimmen und Töne geboten, die allesamt von Glaubwürdigkeit und Authentizität getragen werden. Auch von ganz unterschiedlichen Schicksalen wird erzählt: manche der Figuren überstehen alles unbeschadet, andere wiederum nehmen Schaden – manchmal sogar schweren Schaden. Kein Schicksal hat mich unberührt gelassen, denn Regina Scheer erzählt mit so viel Wärme und Zuneigung von ihren Figuren, dass ich mich als Leserin dem nicht entziehen konnte. Geschichte um Geschichte verbirgt sich in diesem großartigen Roman, der dennoch nie überladen wirkt: die Erinnerungsbilder fügen sich Seite für Seite zu einem Ganzen, bis deutlich wird, wie wichtig es ist, Erinnerungen zu bewahren, um weiterleben zu können. Machandel erzählt von der Kraft der Erinnerung und der Einsamkeit im Exil des Vergessens. Von geplatzten Träumen, zerstörten Hoffnungen, von politischen Gräueltaten und schweren Schicksalsschlägen. Der Roman erzählt aber auch von drei starken Frauen, von Liebe und von grenzenloser Hilfsbereitschaft.

Machandel ist ein großartiges und wichtiges Buch, dem ich so viele Leser und Leserinnen wie möglich wünsche.

Nachts, wenn der Tiger kommt – Fiona McFarlane

Ruth ist eine betagte Frau, die seit dem Tod ihres Mannes ein einsames Leben in einem abgelegenen Strandhaus führt. Doch eines Tages bekommt sie Besuch, eine fremde Frau steht vor der Tür –  angeblich wurde sie vom Staat als Pflegekraft geschickt, doch wer ist Frida wirklich? Von diesem Tag an verliert Ruth zusehends die Kontrolle über ihr eigenes Leben und muss sich irgendwann fragen, wem sie überhaupt noch trauen kann.

“Ich hatte diesen Traum, dass das Meer hierherkam zu uns, hierher auf unseren Hügel. […] Und da waren all diese Boote auf den Wellen – altmodische Boote, wissen Sie, wie man sie manchmal im Fernsehen sieht, einige mit Segeln, andere mit Rauchwolken und riesigen Schornsteinen. Sie kamen genau auf uns zu, hier auf unseren Hügel, und die Leute auf ihnen winkten wie verrückt. Ich konnte nicht sagen, ob sie uns zuwinkten, oder ob sie wollten, dass wir uns in Sicherheit brachten.”

Eines Nachts wird Ruth wach und glaubt, einen Tiger in ihrem Haus zu hören. Nur wenige Tage später steht plötzlich eine fremde Frau vor der Tür. Frida behauptet, dass sie vom Staat als Pflegekraft geschickt wurde. Ruth ist zunächst irritiert und unsicher, ob sie der fremden Frau glauben kann, doch Frida gewinnt Stück für Stück ihr Vertrauen und schon bald genießt Ruth die ungewohnte Aufmerksamkeit und Gesellschaft. Ihr Mann Harry ist erst vor kurzem verstorben, seitdem lebt Ruth zurückgezogen und allein. Ihre beiden erwachsenen Söhne leben schon lange nicht mehr in Australien, Kontakt zu ihrer Mutter halten sie meistens über das Telefon. Ihre Söhne sind vor allem erleichtert, dass sich endlich jemand um die Mutter kümmert, die einen zunehmend verwirrten Eindruck gemacht hat.

Frida gelingt es, sich in Ruths Leben einzuschleichen – sie fängt an, als Pflegekraft zu arbeiten und einmal am Tag vorbeizuschauen, doch bald darauf, bezieht sie bereits ihr eigenes Zimmer in Ruths Haus. Schleichend, aber für den Leser immer offensichtlicher, verändert sich nicht nur Ruth, sondern auch ihre Beziehung zu Frida und die Atmosphäre im Haus. Nachdem sie sich dazu entscheidet, ihre erste große Liebe, für ein Wochenende zu sich einzuladen, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle: Nacht für Nacht, glaubt Ruth, einen Tiger zu hören, den Frida mutig bekämpft. Je verwirrter Ruth wird, desto stärker übernimmt Frida die Kontrolle im Haus und degradiert Ruth zur Zuschauerin dieses Schauspiels, genauso wie den Leser, der atemlos mitverfolgt, was geschieht und sich fragt, was diese seltsame Frau wohl im Schilde führt.

“Ruth fühlte sich so wie früher, als sie noch jünger war, als ihre Füße noch fester auf dem Boden standen und ihre Kinder und ihr Mann schliefen; das Gefühl war wie eine Adresse, zu der sie zurückgekehrt war, und sie fragte sich, warum sie so lange weg gewesen war.”

Fiona McFarlane nähert sich dem Thema Alter aus einer ganz besonderen Perspektive an, denn sie begibt sich mitten hinein in den verwirrten Kopf einer älteren Frau. Es ist der Einzug Fridas, der Ruths Leben nachhaltig durcheinanderwirbelt. Das, was zuvor auf festem Boden stand, gerät nun plötzlich ins Rutschen. Ruth wird von Frida isoliert und bevormundet, sie wird ihrer Mobilität und Eigenständigkeit beraubt und all dies führt dazu, dass die alte Frau in rasender Geschwindigkeit abbaut. Die Realität ist für sie kaum noch auszumachen, sie befindet sich überwiegend in einem Zustand der geistigen Verwirrung. Der Leser ist dazu geneigt, die Situation aus den Augen Ruths zu betrachten, doch während mir Seite für Seite mehr Ungereimtheiten auffielen und ich damit begann, mir immer mehr Fragen zur Rolle Fridas zu stellen, gelingt es Ruth nicht mehr, einen Schritt zurückzutreten und Zweifel an der Situation zu entwickeln. Es gibt Momente, in denen Ruth kurz aufwacht, in denen sie erkennt, dass Frida ein falsches Spiel mit ihr spielt, doch ihr fehlen die körperlichen und psychischen Ressourcen, um sich wehren zu können.

“Frida tat immer, was sie selbst tun wollte. Das wusste Ruth, so wie sie wusste, dass Frida nicht ehrlich war und sie auf irgendeine Weise zum Narren gehalten hatte.”

Das Wort Demenz fällt in diesem Roman an keiner einzigen Stelle, es ist nicht klar, ob Ruth an einer Erkrankung leidet. Die Halluzinationen, das zunehmende Erinnern an die Vergangenheit, die Unfähigkeit, die Realität zu erfassen – all dies könnte auf eine Demenzerkrankung hindeuten. Deutlich ist jedoch, dass die Manipulationen Fridas dazu führen, dass Ruth ein isoliertes Leben führt, in dem sie kaum noch Kontakte nach außen hat, in dem sie kein Korrektiv hat und in dem sie zunehmend den Halt und den Bezug zur Realität verliert.

“Frida hatte die Dinge nicht mehr unter Kontrolle, Frida hatte Angst. Sie hatte den Tiger bekämpft, aber jetzt lehnte sie mit blassem Gesicht am Fensterbrett, weil sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass ihre Beine sie trugen.”

“Nachts, wenn der Tiger kommt” überzeugt durch eine starke Sprache und eine soghafte Erzählung, aber vor allem dadurch, dass es der jungen Autorin gelingt, den Leser mitten hinein in Ruths Kopf zu pflanzen. Aus dieser Perspektive heraus erlebt der Leser ihr langsames Weggleiten aus der Realität, das in einem fürchterlichen Schrecken endet – irgendwo zwischen Phantasie und Wirklichkeit.

Leben, Denken, Schauen – Siri Hustvedt

In Siri Hustvedts lesenswertem Essayband gibt es einen Essay, der den Titel “Ausflüge zu den Inseln der Wenigen” trägt, in dem die Autorin das Prinzip ihres eigenen Buches erklärt: sie spricht dort über unsere Kultur des Hyperfokus und Expertentums – jeder ist nur noch Experte auf seiner eigenen abgeschotteten Insel, ohne Blick für die Schönheiten rechts und links. Siri Hustvedt ist Literatin, Künstlerin, doch sie macht sich mutig auf, zu den Inseln der Kunsttheroie, der Neurowissenschaften, der Psychoanalyse. Es sind Reisen, die sie für immer verändert haben.

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“Große Bücher sind solche, die eindrücklich und lebensverändernd sind, solche, die dem Leser Kopf und Herz öffnen.”

Die Essays, die in “Leben, Denken, Schauen” versammelt sind, wurden über einen Zeitraum von sechs Jahren geschrieben und sie alle vereint, dass Siri Hustvedt in ihnen über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinausblickt. Sie legt keinen literatur- oder geisteswissenschaftlichen Essayband vor, sondern bedient sich vielerlei Theorien aus anderen Disziplinen. Fündig wird sie dabei vor allen Dingen in den Naturwissenschaften. Es verwundert nicht, dass sich die erfolgreiche Autorin auch lange vorstellen konnte, als Psychoanalytikerin zu arbeiten.

Die hier versammelten Essays sind nicht alle auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, neben dem klassischen Essay gibt es auch Beiträge für Fachzeitschriften oder auch Mitschriften von Vorträgen. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte in gemeinschaftlicher Arbeit von Uli Aumüller und Erica Fischer.

“Beim nochmaligen Lesen der in diesem Band gesammelten Essays wurde mir klar, dass sie, obwohl sie eine ganze Reihe von Themen behandeln, durch die beständige Neugier, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, miteinander verbunden sind. Wie sehen, erinnern, fühlen wir, wie gehen wir mit anderen um? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort selbst gebrauchen?”

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Leben, Denken, Schauen. Unter dem Schlagwort Leben versammelt Siri Hustvedt die wohl persönlichsten Essays dieses Bandes. Vater und Mutter finden Erwähnung, genauso wie ihre skandinavische Herkunft und ihre Liebe für die dänische Schriftstellerin Inger Christensen. Denken ist die Überschrift für diejenigen Essays, in denen die Autorin sich mit theoretischen Rätseln und Fragen beschäftigt. Viele dieser Rätsel wurzeln in der Literatur. Es geht um die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Schreiben von Erinnerungsliteratur und dem romanhaften Erzählen. Es geht um die Sprache in der Politik, eine Sprache, die ein Klima der Angst erzeugen kann – etwas, das vor allem George Bush beherrscht hat. Klug und besonnen zeigt Siri Hustvedt auf, wie dieser durch ständige Wiederholungen, ein Wort wie Freiheit entwertet und ausgehöhlt hat. Es geht aber auch um die Frage nach Phantasie und Imagination und um die Psychoanalyse. In vielen Essays vermischen sich die Theorien – warum auch nicht, warum sollte man nicht die neurowissenschaftliche Forschung heranziehen, um eine literarische Frage zu beantworten?

“Meine Essays sind eine Form von geistigen Reisen, von einem Zugehen auf Antworten, wobei ich mir intensiv dessen bewusst bin, dass ich nie ans Ende der Straße gelangen werde.”

Im letzten Abschnitt des Buches, der den Titel Schauen trägt, beschäftigt sich Siri Hustvedt mit Fragen der Bildenden Kunst. All diesen Fragen geht eine ursprüngliche Begeisterung für Kunst und Künstler voraus, Erwähnung finden Louise Bourgeois, Kiki Smith, Gerhard Richter, Annette Messager, Goya oder auch Richard Allen Morris. Kunst ist ein Bereich, der Siri Hustvedt seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt und den sie immer wieder auf neuen Wegen versucht zu entdecken und zu beschreiben.

“Jedes Buch ist für jemanden. Der Akt des Schreibens mag einsam sein, er ist aber immer eine Hinwendung zu einer anderen Person – einer Einzelperson -, da jedes Buch allein gelesen wird. Die Schriftstellerin weiß nicht, für wen sie schreibt. Das Gesicht des Lesers oder der Leserin ist unsichtbar, und doch stellt jeder zu Papier gebrachte Satz ein Angebot dar, Kontakt aufzunehmen, und eine Hoffnung darauf, verstanden zu werden. Die Essays in Leben, Denken, Schauen wurden in diesem Geist geschrieben. Sie wurden für Sie geschrieben.”

Allen Essays gemein ist der unbändige Entdeckergeist und Forscherwille von Siri Hustvedt. Hier schreibt keine von ihrem Alltag gelangweilte Literatin, die gerne mal ein bisschen in die Psychologie hinein schnuppern will. Hustvedt erschließt sich all die fremden Inseln mit unbändigem Wissensdurst, Fleiß und Ausdauer. Sie nimmt regelmäßig teil an monatlichen Vorträgen über Neurowisschenschaft und ist als einzige Künstlerin Mitglied einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Sie veröffentlicht in psychologischen Fachzeitschriften und leitet einen Schreibkurs an einer Psychiatrie. Dieses stete Interesse an der naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Leben liegt sicherlich auch in der eigenen Erkrankung Hustvedts begründet, die an schweren und häufig monatelangen Migräneschüben leidet.

“Das Lesen hat in unserer Kultur so nachgelassen, dass jetzt alles Lesen für ‘gut’ gehalten wird. Kinder werden ermahnt, überhaupt zu lesen, so als wären alle Bücher gleich, doch ein mit Binsenweisheiten und Klischees, mit formelhaften Geschichten und einfachen Antworten auf schlecht gestellte Fragen aufgeblähtes Gehirn ist kaum das, worum wir uns bemühen sollten.”

Auf die Frage danach, wer wir sind und wie wir so geworden sind, gibt es keine einfachen oder gar allgemeingültigen Antworten, doch Siri Hustvedt gelingt es, kleine Impulse zu geben, interessante Perspektiven aufzuzeigen und zu neuen Denkanstößen anzuregen. Ihre wichtigste Anregung ist sicherlich die, mal über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken – mit einem Blick, der offen sein sollte und immer darauf ausgerichtet, Neues zu entdecken.

Rezept für ein Herz in Aufruhr – Viola Ardone

Viola Ardone wurde 1974 in Neapel geboren und hat Literaturwissenschaften und klassischen Tanz studiert. Zehn Jahre lang war sie als Redakteurin in einem Verlag tätig, heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin an einem Gymnasium in Neapel und legt mit “Rezept für ein Herz in Aufruhr” ihren ersten Roman vor. Dieser wurde von Verena von Koskull übersetzt.

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“Lässt sich ein Problem lösen, ist es kein Problem. Lässt es sich nicht lösen, ist es kein Problem mehr, hatte ihr Vater einmal gesagt.”

Dafne arbeitet als Architektin in Mailand, ihr Leben ist geordnet, sie ist eine selbstsichere Frau. Seit sie zehn Jahre alt ist, führt sie ein Tagebuch, voller Spalten und Zahlen – angeordnet in einer Excel-Tabelle, denn eins hat sie von ihrer frühen Kindheit an gelernt: eine äußere Ordnung, kann das innere Chaos besänftigen. Doch trotz all der Ordnung und trotz aller Sicherheit fehlt Dafne etwas im Leben, sie spürt einen nagenden Mangel, ein Loch in sich, das sie nicht füllen kann. Das Loch ist dort, wo eigentlich ihre Gefühle sein sollten. Die junge Frau hat nie gelernt, sich fallen zu lassen, sie hat nie gelernt, zu lieben, sie durfte es sich nie erlauben, jemanden Zutritt zu ihrem Leben zu gewähren. Statt zu fühlen, rechnet Dafne ihre Empfindungen in geometrische Daten und Formeln um. Diese Unfähigkeit hat ihre Wurzeln in Dafnes Kindheit, höchstwahrscheinlich, denn so wirklich erinnert sich Dafne nicht an die Zeit, in der sie Kind gewesen ist. Die Vergangenheit hat sie verdrängt, schön säuberlich weggepackt und in Excel-Listen abgelegt, so gut abgelegt, dass sie kaum noch einen Zugriff darauf hat.

“Die Mathematik der Gefühle hatte klare, strenge Regeln: Liebe war unteilbar und ließ sich nur multiplizieren. Ihr Zeichen war das Mal. Die Zeit war ein Plus, sie ließ sich nur addieren. Entscheidungen waren immer Subtraktion, ein Minus.”

Erst als Dafne den Mut dafür findet zurückzublicken, bekommt sie endlich auch die Möglichkeit zu sich selbst zu finden. Sie blick zurück auf das Mädchen, das sie gewesen ist, auf Dafne, wie sie als Kind gewesen ist. Der Blick zurück ist durchzogen mit einer zarten Traurigkeit. Die erwachsene Dafne gibt dem Kind eine Stimme, sie gibt dem Kind eine Sprache. Das, was das Mädchen zu erzählen hat, ist manchmal ergreifend, manchmal traurig, doch ab und an sind die Erinnerungen auch von einer fröhlichen Heiterkeit. Sie erinnert sich zurück an die Momente, in denen ein schweres Schweigen über der Familie lag, aber auch an fröhliche Momente, an gemeinsame Spiele und an ihren Lieblingsort, das Wasser. Das Wasser war immer ein Schutzraum für Dafne, ein Ort an dem sie nichts hören muss, ein Ort, an dem niemand sie finden kann. Die gleiche Schutzfunktion hat für sie die Geometrie, die die junge Frau wie eine Art Blase umschließt.

“Mein Zuhause ist anders. Alle Zuhauses sind gleich, nur meines nicht, das ist anders. Alles ist am falschen Platz. Meine Mama hat gesagt, wir seien originell. Aber Papa hat gesagt, er würde einfach nicht begreifen, wieso wir uns nicht benehmen können, wie andere Christenmenschen. Er ist nämlich ganz dick mit Gott befreundet.”

Mit der Männerwelt steht sie – es mag kaum überraschen – auf Kriegsfuß, doch dann ist Dafne plötzlich schwanger und wird zum ersten Mal von Gefühlen überflutet, die ihre ganzen Schutzmechanismen zum Wanken bringen … gemeinsam mit ihrer Psychologin Dottoressa Lorenzi begibt sie sich mutig und voller Zuversicht auf die Reise in ihre Vergangenheit.

Viola Ardone erzählt mit “Rezept für ein Herz in Aufruhr” einen dreigeteilten Roman: es gibt nicht nur die Ebene der Gegenwart, sondern auch die Erinnerungen an die Kindheit, diese Kindheitserinnerungen sind unvollständig, als würde ein Schleier über dem liegen, an das sich die junge Frau auf keinen Fall erinnern darf. Der Erzählstil dieser Erinnerungen ist kindlich, doch ich habe diesen kindlichen Ton immer als authentisch empfunden, nie als aufgesetzt oder unglaubwürdig. Schnell wird offensichtlich, dass Dafne sich Zugang zu diesem Ort verschaffen muss, den sie irgendwo in sich verschlossen hat, um in der Gegenwart endlich fühlen und leben zu können. Darüber hinaus gibt es immer wieder Passagen aus Dafnes Geometrie der Gefühle. Bei dieser Geometrie handelt es sich um eine Art Sammlung an Lebensweisheiten und amüsante Regeln zur Lebensführung.

“Während meine Mama isst und schweigt, denke ich, wenn nicht alles am falschen Platz wäre und jemand nicht was Falsches gesagt hätte, würden sie und ich jetzt zusammen spielen und sie würde mir sagen, ich solle aufhören, mit dem Saft zu blubbern und die Fischstäbchen zu zerpflücken.”

“Rezept für ein Herz in Aufruhr” klingt – wenn man allein den Titel betrachtet – nach einer seichten Liebesschnulze, doch dieser erste Eindruck täuscht zum Glück. Viola Ardone legt mit ihrem Romandebüt eine lesenswerte Reise in die Vergangenheit vor. Es geht um Gefühle, Erinnerungen und an das, was mit uns geschehen kann, wenn wir Dinge einfach nur verdrängen – irgendwann kommt alles wieder zurück und trifft dann mitten hinein in unser eigentlich so stabiles Leben. Ich habe mit “Rezept für ein Herz in Aufruhr” ein lesenswertes Romandebüt verschlungen, dem ich möglichst viele Leser wünsche!

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm – Selja Ahava

Selja Ahava wurde 1974 geboren, studierte Dramaturgie an der Theaterhochschule Helsinki und hat zahlreiche Drehbücher für Spielfilme und Fernsehserien geschrieben. Mit “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm”, legte sie in diesem Frühjahr ihren Debütroman vor. Aus dem Finnischen übersetzt wurde er von Stefan Moster, der übrigens nicht nur Übersetzer ist, sondern auch Schriftsteller.

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“Früher musste ich nach ein, zwei Wörtern suchen. Heute kommen mir ganze Gedanken abhanden. Aber ich habe Erinnerungen.”

Anna ist eine Frau, der die Wörter abhanden gekommen sind, die sich ihre Erinnerungen jedoch bewahrt hat. Sie ist mittlerweile eine alte Frau, aber ihr Gedächtnis hat bereits in jungen Jahren angefangen zu leiden. Der plötzliche Verlust ihres Mannes Antti hat ihr den Boden unter ihren Füßen weggezogen, er hat ihre ganze Welt erschüttert, auch ihr Gedächtnis. Mittlerweile sind die Erinnerungslücken immer größer geworden und Ereignisse der Vergangenheit purzeln ohne Zusammenhang durch ihren verwirrten Kopf. Dennoch versucht sie sich an das was war zu erinnern, so gut sie eben kann – den Leser lässt sie an diesen Erinnerungen teilhaben. Es sind ungefilterte und verwirrende Episoden der Vergangenheit.

“Es gab Morgen, an denen Antti in der Stadt war und Anna alleine mit dem Hund aufwachte. Dann kochte sie Kaffee, hörte die Nachrichten, sah auf die Uhr und dachte, noch vierzehn Stunden, und ich kann wieder schlafen gehen. An solchen Morgen saß sie auf der Veranda, schaute vor sich hin und dachte schlicht und einfach: Stein, Birke, Gras, Stuhl. Stein, Birke, Gras, Stuhl.”

Wenn man so will, dann wird in “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” Annas Biographie erzählt, es ist ihr Leben, das hier erzählt wird – ihr Leben aus ihrer eigenen Perspektive, oder dem, was davon noch übrig ist. Das Wort Demenz fällt an keiner Stelle und doch ist die Erkrankung von Anna beinahe offensichtlich, doch bei ihr ist es keine Erkrankung, die im hohen Alter aufgetreten ist, die Wurzeln ihrer Gedächtnisstörung liegen tief in ihrer Vergangenheit begründet – der Auslöser dafür war der Verlust von Antti. Antti, der bei einem schweren Autounfall starb, ist nicht nur plötzlich aus ihrer Welt gefallen, sondern dieser Verlust ließ auch Anna aus jeglichen Zusammenhängen fallen.

“Von der Eiszeit glatt geschliffener Fels, von der Sauna weiche Haut. Sommersprossen und Froschteiche. Anna war mit Antti so fest verwachsen wie die Kiefer mit dem Felsen.”

Wir erfahren von ihrem Neuanfang mit Thomas, mit dem sie in England lebt, weit weg von dem Leben, das sie in Finnland gelebt hat, weit weg von den Erinnerungen an Antti, die immer stärker verblassen, doch immer noch da sind. Bereits da werden ihre Schwierigkeiten im Alltag sichtbar, manchmal verliert sie die Orientierung, vergisst, wo sie sich befindet, vergisst, mit wem sie zusammenlebt. Sie erhält Besuch, von ihren sechs Kindern, die im ersten Moment so wirklich erscheinen, dass ich einige Zeit brauche, bevor ich verstehe, dass es sich bei ihren Kindern um Phantasiegestalten handelt. Später erhält sie Besuch von Gott und von einer Bärenfamilie. Beim Blick zurück wird deutlich, wie das Leben von Anna Stück für Stück immer weiter auseinander bricht und aus den Fugen gerät. Der Wal, den sie eines Tages in London zu sehen glaubt, den hat es aber scheinbar wirklich gegeben – immerhin.

“Antti kannte die Erlen am Ufer und wusste sofort, um welche von ihnen es sich handelte. Er erinnert sich an die Aussicht dahinter, an die Steine des Riffs und an die kleine Möweninsel, an die Markierung der Fahrrinne und den Marinekai und konnte sich vorstellen, wie der umgestürzte, kaputte Baum aussah. Es tut gut, sich eine Landschaft zu teilen. Es tat gut, eine Sache nach der anderen auszusprechen, zu sagen, was man zwischen den Erlen jetzt sah. Für niemanden sonst wäre das von Bedeutung gewesen, aber Anna und Antti konnten gemeinsam auflisten: Riff, kleine Felsinsel, Untiefenmarkierung, Möweninsel, Kai.”

Selja Ahava erzählt in ihrem Debütroman eine außergewöhnliche Geschichte. Romane über Demenz gibt es mittlerweile viele, doch das ungewöhnliche an diesem Roman ist seine Perspektive: Anna und ihre schwindenden Erinnerungen werden nicht von außen beschrieben, sondern von innen – aus ihrem Kopf heraus. Natürlich fehlt es der Geschichte manchmal an Zusammenhängen, an Klarheit, manchmal fehlte mir das Verständnis dafür Situationen begreifen zu können. Selja Ahava pflanzt den Leser erbarmungslos hinein in Annas Kopf. Durch diesen literarischen Kniff wird die zunehmende Verzweiflung, die Anna aufgrund ihres Gedächtnisverlusts spüren muss schmerzhaft greifbar.

Im Klappentext wird “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” als ein Roman über die Kraft der Wörter und der Fantasie beschrieben. Auch ich habe diese Kraft in dem Roman gefunden, trotz der zunehmenden Wortverluste, bleibt Sprache ein wichtiges Instrument für Anna, sie versucht ihre Vergangenheit immer wieder auf neuen Wegen zu beschreiben. Doch der Roman ist nicht nur poetisch und märchenhaft, für mich stand dagegen viel mehr die authentische Abbildung einer Gedächtniserkankung im Vordergrund. Trotz aller Fantasie erzählt Selja Ahava eine tieftraurige Geschichte über eine Frau, der die Realität Stück für Stück entgleitet – “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” ist vor allem eine schmerzhafte Lektüre.

“Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen, dachte Anna. Dann könnte man den Winter über davon zehren. Es gab genug solcher Augenblick für den ganzen Winter.”

“Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” ist ein Roman über die Kostbarkeit des Lebens, in dem vieles unausgesprochen bleibt. Vielleicht haben diese leeren Stellen mich ganz besonders berührt. Getragen wird die Geschichte von Anna, die ich in all ihrer Verzweiflung, ihrer Angst und ihrer tiefen Traurigkeit ins Herz geschlossen habe. Als Leser muss man dazu bereit sein, sich auf die ungewöhnliche Perspektive einzulassen, damit der Roman funktioniert – ich hoffe, es finden sich noch ganz viele, die dazu bereit sind.

Tolstoi und der lila Sessel – Nina Sankovitch

Nina Sankovitch wurde 1962 in Evaston als Tochter polnischer Einwanderer geboren und studierte Jura in Harvard. Von Oktober 2008 bis Oktober 2009 las die Ehefrau und Mutter von vier Söhnen täglich ein Buch und besprach es auf ihrem Blog. In “Tolstoi und der lila Sessel” erzählt Nina Sankovitch davon, wie diese Erfahrung ihr Leben verändert hat. Übersetzt wurde das Buch gemeinsam von Anke Carolin Burger und Susanne Höbel.

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“Ich habe überall nach Glück gesucht, aber ich habe es nirgends gefunden außer in einem Eckchen mit einem kleinen Büchlein.” – Thomas von Kempen

Im September 2008, während eines Urlaubs mit ihrem Mann in Long Island, fasst Nina Sankovitch einen Beschluss, der ihr Leben verändern sollte. Sie beschließt, ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen. Ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen, hört sich zunächst einmal anstrengend und stressig an und als würde so ein Leseprojekt die Gefahr bergen können, den Spaß am Lesen zu verlieren. Mit diesem Vorhaben verbunden ist jedoch erstaunlicherweise der Wunsch nach Ruhe und Erholung, der Wunsch danach, sich einfach einmal hinzusetzen und mit einem Buch andere Welten zu betreten. Drei Jahre zuvor ist ihre Schwester Anne-Marie gestorben. Zwischen der Diagnose Gallengangkrebs und ihrem plötzlichen Tod liegen nur wenige Monate. Statt sich der Trauer zu stellen und einen Weg zu finden, mit ihr umzugehen, verbringt Nina Sankovitch die nächsten Monate damit, “wie eine Wahnsinnige herumzurennen, mein Leben und das meiner ganzen Familie mit Aktivitäten und Plänen zu füllen.”

“Doch soviel ich auch in unser Leben hereinzwängte, sosehr ich mich abhetzte, der Trauer und dem Schmerz entkam ich nicht.”

Mit einer gehörigen Portion Humor und viel lockerer Leichtigkeit zeichnet Nina Sankovitch ihren Lebenslauf als begeisterte Leserin nach, die in allen Lebenslagen zu Büchern greift. Diese Liebe wird durch das Büchermobil bereits früh in ihrem Leben geweckt und in der Folge sind Bücher, die ihr Trost und Hoffnung spenden können, ein ständiger Begleiter durch ihr Leben. Drei Jahre nach dem schmerzhaften Verlust ihrer ältesten Schwester wendet sich Nina Sankovitch auf der Suche nach Antworten also fast zwangsläufig erneut der Literatur zu. Im Oktober 2008 beginnt sie mit ihrem Leseprojekt, bei dem sie sich zum Ziel setzt, jeden Tag ein Buch zu lesen. In den Büchern hofft sie Antworten zu finden auf ihre drängendsten Fragen: warum hat sie überlebt und wie soll sie ohne ihre Schwester weiterleben?

“Den Ausweg würde ich nur finden, wenn ich die Bücher ganz oben auf meine Prioritätenliste setzte. Es gibt immer Staub, der gewischt, und Wäsche, die zusammengelegt werden muss; immer muss Milch gekauft und Geschirr gespült werden. Doch ein Jahr lang würde mich nichts von alledem vom Lesen abhalten. Ich schenkte mir ein Jahr, in dem ich nicht rennen, nicht planen, nicht versorgen würde.”

Nina Sankovitch möchte nicht nur lesen, sondern auch über das Gelesene schreiben – sie tut das auf dem Blog, den sie dafür ins Leben ruft. Einen alten und stockfleckigen lila Sessel erklärt sie zu ihrem neuen Lesesessel, in dem sie in den kommenden 365 Tagen die ein oder andere Lesestunde verbringen möchte.

“Worte sind Zeugen des Lebens. Sie zeichnen auf, was geschehen ist, und lassen es lebendig werden. Worte erschaffen Geschichten, die in die große Geschichte eingehen und unvergesslich werden. Auch Romane bilden die Realität ab – gute Romane sind Wahrheit. Erzählungen von erinnertem Leben helfen uns, zurückzuschauen und weiterzugehen.”

In “Tolstoi und der lila Sessel” erzählt Nina Sankovitch von ihrem ungewöhnlichen Leseprojekt (das sie selbst als Jahr des magischen Lesens bezeichnet), von dem Verlust ihrer Schwester, von ihrer eigenen Biographie als Leserin und von den Erinnerungen an ihre Eltern und Großeltern. Sie erzählt aber auch von den gelesenen Büchern, in denen sie Anteilnahme und Orientierung findet, in denen sie Trost findet und Hoffnung darauf, dass ein glückliches Leben ohne den Verstorbenen möglich sein kann. In den Büchern, die sie liest, findet sie Anleitung für ihr eigenes Leben. Sie ist auf der Suche nach Antworten darauf, wie man mit einem schmerzhaften Verlust umgehen kann, wie man Erinnerungen am Leben erhält, ohne an ihnen zu ersticken und wie man gleichzeitig nach vorne und zurück blicken kann. Fragen nach Erinnerung und Trauer – aber auch nach Liebe und dem gemeinsamen Leben als Paar – werden Nina Sankovitch in Büchern beantwortet.

“Mein Pfad in die Zukunft lag deutlich vor mir: Es war ein Pfad, der von Worten erleuchtet war, die sich zu Sätzen und Absätzen, Kapiteln und Büchern verbanden. Mein Pfad war mit Büchern gepflastert.”

“Tolstoi und der lila Sessel” erzählt eine herzergreifende Geschichte und ist angefüllt mit so vielen literarischen Reflexionen und Zitaten, dass bibliophile Herzen bei diesem Buch höher schlagen müssen. Lesen als Lebenshilfe ist ein Gedanke, mit dem ich mich identifizieren kann. Auch für mich können Bücher gleichzeitig meine besten Freunde, Ratgeber und Seelentröster sein. Als Leser wird man Teil einer wunderbaren Reise quer durch die Literatur, die bei Nina Sankovitch ein Spektrum umfasst, das anspruchsvolle Bücher einschließt, aber auch triviale Kriminalliteratur, die die Autorin verspeist, als wäre es lebensrettende Schokolade. Die Leseliste, mit der das Buch auf den letzten Seiten abschließt, ist für mich eine Quelle der Inspiration und Neuentdeckung, genauso wie die bibliophilen Zitate, die jedem Kapitel vorangestellt sind.

“So viele Bücher warten noch darauf, gelesen zu werden, so viel Glück will noch gefunden werden, so viel zum Staunen will entdeckt werden.”

Nina Sankovitch hat ein Buch für Leseratten geschrieben, die ihre Bücher nicht nur im Regal stehen haben, sondern auch in ihrem Herzen. “Tolstoi und der lila Sessel” ist eine berührende und inspirierende Lektüre über das Glück des Lesens und über all das, was wir in Büchern finden und entdecken können …

Nina Sankovitch: Tolstoi und der lila Sessel. Roman. Graf Verlag, München 2012, 288 Seiten, € 16,99.

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen – Melitta Breznik

Melitta Breznik wurde 1961 in der Steiermark geboren und lebt heutzutage in Basel und Zürich. Im Luchterhand Verlag sind bereits einige viel beachtete Bücher von ihr erschienen, zuletzt im Jahr 2010 ihr Roman “Nordlicht”. Im vergangenen Herbst erschien ihr neuester Roman “Der Sommer hat lange auf sich warten lassen”.

Collage Breznik

Margarethe ist eine starke Frau, auch wenn sie bereits über neunzig Jahre alt ist. Ihr Leben im Altersheim empfindet sie wie das Leben in einer Zelle, in der sie selbst lediglich eine Insassin ist. Lang hat Margarethe an der Seite ihres zweiten Mannes Alexander ein selbstständiges Leben geführt. Ihr Alterswohnsitz war das “Grüne Haus” – ein Gemeinschaftsprojekt mehrere Freunde, die ein Haus renoviert haben, um sich dort niederzulassen. Doch Alexander ist nach einem Schlaganfall verstorben und Margarethe sah sich nicht länger dazu in der Lage, alleine zu leben. Ihre Selbstständigkeit hat sie mittlerweile gegen die Trägheit des Alters getauscht, die immer mehr Besitz von ihr ergreift. Doch Margarethe beschließt, bevor es ganz mit ihr zu Ende geht, noch einmal alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte zu sammeln und sich auf eine letzte Reise zu begeben. Sie flieht aus dem Altersheim, um an den Ort ihrer Kindheit zu reisen. Dort möchte sie sich mit ihrer Tochter Lena treffen, die bereits seit vielen Jahren in London lebt. Mutter und Tochter haben sich über zahlreiche Zerwürfnisse entfremdet, zwischen ihnen herrscht meistens Schweigen – ein Schweigen, das schwer ist von Ungesagtem und Vorwürfen. Reicht den beiden die gemeinsame Zeit, um sich versöhnen zu können?

“Dieser Krieg, der ständig unter der intakt anmutenden Oberfläche zum Vorschein kam.”

Die Reise an den Ort ihrer Kindheit nützt Margarethe zur Reflexion und erinnert sich zurück an die Vergangenheit. An ihr Aufwachsen nach dem Ersten Weltkrieg, das voller Entbehrungen gewesen ist. An ihren ersten Ehemann Max, der als Kind während der Kriegswirren in die Sowjetunion verschickt wurde, als er heimkehrte, kehrte er zu einer völlig veränderten Mutter zurück und in ein Leben, das nicht im Entferntesten dem glich, was er zuvor zurück gelassen hatte. Max und Margarethe lernten sich vor dem Zweiten Weltkrieg kennen und lieben, doch als Max in Kriegsgefangenschaft gerät und nach Griechenland verschleppt wird, kehrt er verändert und traumatisiert nach Deutschland zurück. Es wird ihm nie gelingen, die Erinnerungen an das, was er im Krieg erlebt hat, abzuschütteln – sie verfolgen ihn, Tag und Nacht. Auch Margarethe bewahrt Erinnerungen und Bilder in sich auf, wie in einem geschlossenen Gefäß; nicht einmal Max kann sie sich anvertrauen.

“Ich sehe die Bilder aus der Entfernung von fast siebzig Jahren an mir vorüberziehen und möchte nicht wieder in die Haut von damals schlüpfen und fühlen müssen, wie es wirklich war. Davor habe ich Angst, daran will ich nicht erinnert werden, aber ich weiß, all das liegt in meinem Körper begraben.”

Margarethe steht zwar im Zentrum des Romans, denn die Geschichte kreist um ihre Erinnerungen, doch Melitta Breznik lässt auch Max und Lena zu Wort kommen. Jedes Kapitel ist mit einem Ort und einer Jahreszahl überschrieben: die Handlung springt von Basel und London im Sommer 2011, in das Wien der sechziger Jahre und bis ganz zurück an den Anfang, nach Kapfenberg im Jahr 1934. Dadurch, dass der Roman um die Perspektiven von Max und Lena erweitert wird, entsteht ein vollständiges Panorama einer vom Krieg versehrten Familie. Die Erinnerungen der drei stimmen nicht immer überein, jeder von ihnen hat ein anderes Erleben der Vergangenheit.

“In den letzten Jahren habe ich versucht, Mutter besser zu verstehen, und die Geschichte ihrer und letztendlich auch meiner Familie kommt mir wie die Chronik eines schleichenden Verlusts vor, angefangen mit dem Tod ihrer Eltern, über den sie nie sprach, ich vermute, sie vermied es, um nicht hemmungslos losweinen zu müssen.”

Collage Breznik 1

“Der Sommer hat lange auf sich warten lassen” erzählt eine Geschichte des Krieges. Es ist eine Geschichte darüber, dass Kriege ganze Familie entzweien und zerreisen können. Es ist eine Geschichte darüber, dass Kriege eine Wunde sind, die sich vielleicht irgendwann schließt, die jedoch nie ganz heilen wird. Es ist eine Geschichte der Vergangenheit und der Erinnerungen. Erinnerungen, die immer noch bis hinein in unserer heutige Zeit wirken. Genau das ist vielleicht das Tragischste an diesem Roman: Lena hat den Krieg nicht erlebt, doch sie trägt schwer an den unausgesprochenen Erinnerungen ihrer Eltern, die wie eine Hypothek auf ihrem jungen Leben lasten. Ruth Klüger sagte einmal, dass Familien entweder zu viel oder zu wenig über den Krieg sprechen. Margarethes Familie hat zu wenig gesprochen, dadurch ist jeder von ihnen mit seinen Erinnerungen alleine geblieben. Wenn der Roman von Melitta Breznik eines zeigt, dann ist dies die Tatsache, dass wir sprechen müssen, um zu überleben.

“Nichts hatte ich Max vom Ende des Krieges erzählt, wozu erzählen, was mich seither innerlich verstummen hat lassen, was mich beim Gedanken die Fingernägel in meine Haut hat krallen lassen, um die Erinnerung zu verscheuchen, auszutreiben, die Schüsse, das Krachen, die Schatten, das Getümmel, meine Schreie.”

Melitta Breznik erzählt in “Der Simmer hat lange auf sich warten lassen” eine leise Geschichte, voller Feinfühligkeit und Sensibilität. Mit sanften Pinselstrichen zeichnet sie die Lebenswege ihrer Protagonisten nach und erzählt von deren Schicksalen. Es sind Schicksale, die vollgesogen sind mit Schwere und unausgesprochenen Vorwürfen, doch Melitta Breznik gelingt es aufzuzeigen, dass es möglich sein kann, sich ganz am Ende mit dem eigenen Leben und den eigenen Erinnerungen auszusöhnen.

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