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Saša Stanišić im Gespräch!

Acht Jahre mussten wir auf den zweiten Roman von Saša Stanišić warten, aber das Warten hat sich gelohnt – “Vor dem Fest” ist eine großartige Lektüre. Ich habe mich mit dem Autor getroffen, um über das Schreiben, die deutsche Sprache, Heimat und Heimweh zu sprechen.

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Du bist 1992 nach Deutschland gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Wie hast du dir die neue Sprache und das neue Land vertraut gemacht?

Am Anfang war das eine soziale Notwendigkeit, so schnell wie möglich die Sprache zu beherrschen. Ich war vierzehn Jahre alt, war mitten in der Pubertät und ich glaube, ich habe ganz schnell verstanden, dass die Sprache mir helfen wird, diese Zeit gut zu überstehen. Dass ich durch die Sprache nicht nur zu den Menschen einen Zugang finden werde, sondern auch in der Schule besser sein kann und mich leichter zurechtfinden werde in dieser kleinen, neuen Umwelt. Am Anfang habe ich sehr bewusst Deutsch lernen wollen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Ich habe gelernt und gelernt. Zusätzlich hatte ich Glück, dass ich auf einer Schule war, auf der verstärkt Deutsch für Ausländer unterrichtet wurde. Das hat mich beflügelt und mir zusätzlich geholfen, die Sprache schnell zu erlernen. Später habe ich dann wahnsinnig viel gelesen.

Wie würdest du mittlerweile dein Verhältnis zur deutschen Sprache bezeichnen?

Die Sprache ist auf eine sehr banale Art und Weise Material für mich. Damit meine ich tatsächlich eine formbare, spielbare, veränderbare Masse, aus der ich versuche den in diesem Moment bestmöglichen Satz auf Papier zu bringen. Mir ist bewusst, was mir durch die Sprache möglich ist, was erlaubt ist und was nicht, wo Regeln gebrochen werden dürfen und wo nicht. Ich weiß auch den rein strukturellen Umgang mit Sprache zu schätzen, treibe es in meinen Texten aber auch gerne auf die Spitze, damit eben nicht alles nur banal erzählt wird, oder von a nach b. Mir ist es – glaube ich – wichtig, immer in solchen Gesprächen zu betonen, dass das Deutsche für mich eine ganz flexible Sprache ist. Damit meine ich, man kann – wenn man sich ein bisschen Mühe gibt – alles mit ihr anstellen, was Geschichten und Texte angeht. Es ist also ein liebendes Verhältnis zur deutschen Sprache. Ich mag dieses Material, ich mag, wie es beschaffen ist, ich mag aber auch die Grenzsprengung, die ich durch sprachliche Spielereien erreichen kann.

Für deinen neuen Roman bist du in die Uckermark gereist. Wie hast du dir diesen Ort angeeignet und ist dir die Uckermark zwischendurch eine neue Heimat geworden?

Nein, nicht so richtig! Die Uckermark ist mir nach wie vor, genauso wie Hamburg oder Berlin, auf eine gewisse Art und Weise nicht vertraut. Für mich bedeutet es zu Hause zu sein, wenn man sich an einem Ort wirklich auskennt. Mit auskennen meine ich, wirklich an einem Ort zu sein, mit den Dingen und Menschen zu arbeiten und sich mit ihnen zu beschäftigen, sich darauf einlassen und versuchen, diesen Ort zu verstehen – durch die Geschichte hinweg, aber vor allen Dingen auch, was das Jetzt betrifft. Dadurch, dass ich so viel reise und mal in Bosnien bin, mal in Deutschland, habe ich diesen Zustand des Auskennens noch nicht erreicht. Es reicht immer nur für die fiktionale Auseinandersetzung, aber ich bin nie so wirklich irgendwo. In gewisser Hinsicht ist das sogar ganz gut, denn mich begeistert vieles und nicht eine Sache mehr als etwas anderes. Ich fühle mich häufig wohl, ich kann mich überall wohlfühlen und nicht an einem Ort wohler als an einem anderen. Deshalb ist der Heimatbegriff bei mir sehr dehnbar und manchmal ist schon das Gespräch mit einem netten Menschen für mich Heimat.

Sich eine neue Heimat anzueignen, bedeutet auch immer, eine alte zu verlassen – hattest du Heimweh als du nach Deutschland gekommen bist?

Vielleicht ganz am Anfang, ja. Das lag vor allem daran, dass wir aus einem sehr intakten Leben geflüchtet sind. Ich hatte das Gefühl, dass da etwas gesprengt wird, was unheimlich intakt gewesen ist und gut getan hat. Mein Heimweh resultierte nicht unbedingt aus dem Umzug, sondern aus dem Gefühl heraus, dass etwas gerade verloren geht und niemals wieder genauso sein wird. Dieses Gefühl kann man vielleicht gar nicht als Heimweh bezeichnen, ich hatte einfach ein starkes Gefühl von Traurigkeit.

Wenn man nach dir recherchiert, stößt man schnell auf Begriffe wie Migrationskultur oder Integration – spielt das für dein eigenes Selbstverständnis überhaupt irgendeine Rolle?

Nein, überhaupt nicht! Ich finde diese Labels immer ganz schwierig. Junger deutschsprachiger Autor ist genauso ein Label, genauso banal  wie das Migrantenlabel oder das Label des postmodernen Autors. Das klebt man einfach irgendwo dran, es sagt aber überhaupt nichts über das aus, was ich eigentlich mache. Solche Labels haben für mich tatsächlich keine Wertigkeit für das Buch und ich beschäftige mich auch nicht damit. Ich frage mich lediglich, warum es solche Schubladen geben muss. Mich macht neugierig, was das über die Menschen aussagt, die diese Schubladen aufmachen. Was will man mit dem Versuch bewirken, Dinge zu strukturieren und in eine Ordnung zu bringen, wo keine Ordnung ist? Wo Autoren zu mannigfaltig sind, wo wir von überall her kommen und hier gelandet sind und dabei aus ganz unterschiedlichen familiären Konstellationen kommen. Ich frage mich dann immer, warum es solche Sortierungen außerhalb des Textes geben muss. Einmal hat man auch über mich gesagt, dass ich ein Vorbild für gelungene Integration sei – da habe ich mich wirklich aufgeregt, weil ich das als eine Vereinnahmung empfinde, im Grunde schon fast als Diskriminierung. Das finde ich einfach lächerlich, denn genau das will ich nicht sein. Ich will auch anecken!

Wann ist bei dir überhaupt der Wunsch entstanden, zu schreiben?

Das ist eine Geschichte, die ich schon oft erzählt habe. Meine Eltern hatten ein Sofa, das man aufklappen konnte und darunter war ein Kasten und da kam normalerweise Bettwäsche rein, aber meine Eltern haben mir dort stattdessen eine Art Sofabibliothek eingerichtet. Wenn man das Bett aufgeklappt hat, waren dort Bücher drin. Wenn ich aus der Schule gekommen bin, habe ich mich in diese Bücher hineingelegt – ich war damals acht oder neun Jahre alt und habe es mir darin gemütlich gemacht. Hinter mir war die Schräge des Sofadeckels, neben mir war ein Tisch und für mich war das wie ein kleines Versteck, wie ein kleines Zelt. Dort lag ich dann und habe wahnsinnig viel gelesen. Aus diesem für mich schönsten Gefühl, zu Hause zu sein und aus diesen Büchern zu schöpfen, ist der Anfang meines Schreibens entstanden.

Deine literarischen Texte schreibst du auf Deutsch, wie ist diese Entscheidung gefallen?

Das war eine absolut bewusste Entscheidung. Als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich nach wie vor geschrieben, aber zunächst noch auf Bosnisch. Irgendwann habe ich angefangen, meine bosnischen Texte ins Deutsche zu übersetzen und später habe ich dann die ersten Texte direkt auf Deutsch geschrieben. Davon bin ich auch nicht mehr abgewichen. Deutsch ist meine Sprache, ich bin darin auch sicherer, als im Bosnischen.

Du hast das Leipziger Literaturinstitut besucht, hat das Studium dort dein Schreiben in irgendeiner Form verändert oder beeinflusst?

Ja, beides – aber nur eingeschränkt. Ich habe nicht unbedingt durch das Studium selbst etwas gelernt, was mein Schreiben verändert hat, aber ich habe sehr viele interessante Leute kennengelernt, mit denen ich in Werkstattgesprächen an ihren oder auch meinen eigenen Texten arbeiten konnte. Für mich war es eine Mischung aus dem theoretischen Gespräch über Texte und dem privaten Austausch, aus dem eine Art Werkstattarbeit entstanden ist. Diese Arbeit hat mich wirklich sehr stark beeinflusst. Ich habe dabei erkannt, was funktioniert und was nicht funktioniert. Auch durch das Vertiefen in fremde Texte kann man viel über das eigene Schreiben lernen. Dort waren Leute wie Thomas Pletzinger, Katharina Adler oder auch Clemens Meyer und es war einfach ein ständiges Lernen. Ich habe gelernt, was einen guten Text ausmacht und habe dadurch gelernt, was ich besser machen kann.

Ein wichtiger Bestandteil eines Schreibstudiums ist auch immer die gegenseitige Kritik, wie gehst du heutzutage mit Kritik um?

Bei meinem neuen Roman hatte ich mir eigentlich vorgenommen, keine Besprechungen zu lesen und habe das auch sehr lange durchgehalten. Jetzt musste ich aber doch welche lesen, weil ich ein paar Mal von Leuten moderiert wurde, die eine Besprechung geschrieben haben. Ich lese aber viel im Internet, ich lese dort eigentlich fast alles und versuche zu verfolgen, was dort über mein Buch geschrieben wird. Mich interessiert die Einzelmeinung von sogenannten Laien, die ich immer nicht als Laien empfinde, sondern als sehr fleißige und gute Leser. Ich habe das Gefühl, dass ich dort auf eine unauffällig Art und Weise reagieren kann, um z.B. Fragen zu beantworten. Wenn ich eine Rezension in einer Zeitung lese, dann fehlt mir diese Möglichkeit. Ich könnte einen Leserbrief schreiben, aber damit würde ich mich total lächerlich machen. In einem Blog jedoch habe ich die Möglichkeit mich zu Wort zu melden, manchmal tue ich das dann auch und habe den Eindruck, dass dadurch für den Rezensenten ein Gefühl der Zusammenarbeit entsteht. Ich finde, dass das ein schönes Gefühl ist. In Rezensionen werden ja oft Fragen gestellt, Verwunderung geäußert oder auch Unverständnis formuliert und da habe ich die Gelegenheit, Dinge zu erklären und zu verdeutlichen. Das finde ich total grandios!

Dein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ erschien 2006 und war gleich erfolgreich. Anschließend haben wir acht Jahre auf deinen zweiten Roman warten müssen. Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?

Die Füße hochgelegt! Nein, mir kommt es gar nicht so vor, als wären wirklich acht Jahre vergangen. Nach dem ersten Roman habe ich mir eine Auszeit genommen, denn ich hatte eigentlich nie vor, Schriftsteller zu werden. Das klingt komisch, aber ich dachte, ich werde immer nur dann schreiben, wenn ich wirklich etwas zu schreiben habe. Mit dem bisschen Geld, das ich damals verdient habe, habe ich dann ganz egoistisch beschlossen, auf Reisen zu gehen. Das war meine Chance! Ich bin drei Jahre lang fast permanent unterwegs gewesen und habe mir die Welt angeschaut. Erst als ich von meinen Reisen wieder zurückgekehrt bin, habe ich mich an neue Stoffe und Ideen gesetzt.  Dieses Mal soll es aber nicht so lange dauern, ich hoffe, dass im nächsten Jahr bereits ein neues Buch erscheinen wird.

Mit deinem zweiten Roman hast du im März den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. War diese positive Rückmeldung wichtig für dich?

Ja, solche Rückmeldungen sind schon wichtig, ich glaube aus zweierlei Gründen: einmal habe ich gemerkt, dass solche Auszeichnungen mir Mut machen, weiterzuarbeiten. Mut ist vielleicht das falsche Wort, aber sie spornen mich an, fordern mich auf, jetzt nicht wieder aufzuhören. Solche Rückmeldungen geben mir das Zeichen, dass das, was ich mache, etwas zählt. Grundsätzlich muss das aber nichts mit einem Preis zu tun haben, der Preis ist nur die von außen in die Medien getragene Auszeichnung, die etwas über das Buch sagt, aber nicht viel sagen muss. Genauso wichtig sind mir andere Dinge, die nebenbei laufen, z.B., dass Leute während der Lesung auf mich zukommen und sagen, dass das Buch sie sehr berührt hat. Diese Rückmeldungen geben mir das Zeichen, dass das, was ich tue, anderen Leuten etwas gibt – und sie sinngemäß sagen: mach mal weiter. Der andere Aspekt ist natürlich auch das Finanzielle. 15.000€ bedeutet für mich, dass ich für das nächste halbe Jahr ein Polster habe und keinen Nebentätigkeiten nachgehen muss, sondern wirklich versuchen kann, Autor zu sein. Ich möchte diesen Versuch jetzt mal wagen und die nächsten zwei, drei Jahre nur schreiben.

Vor dem Fest – Saša Stanišić

“Vor dem Fest” ist ein zweifach prämierter Roman. Bevor er überhaupt fertiggestellt wurde, wurde er mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Im Frühjahr dieses Jahres erhielt er dann schließlich den prestigeträchtigen Preis der Leipziger Buchmesse. Preise sagen selten etwas über die Qualität des Inhalts aus, in diesem Fall aber schon, denn der Inhalt ist mehr als preiswürdig. Saša Stanišić erzählt humorvoll, poetisch und voller Warmherzigkeit die Geschichte eines Dorfes.

“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.”

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Während Saša Stanišić in “Wie der Soldat das Grammofon repariert” noch eine Geschichte des Krieges erzählt hat, verschlägt es ihn in seinem zweiten Roman in die tiefste Provinz Deutschlands. Nach Fürstenfelde, in die Uckermark. Mitten in der brandenburgischen Einöde. “Es gehen mehr tot, als geboren werden.” Die Jungen verlassen das Dorf, auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist, als das, was ihre Heimat ihnen bieten kann. Die Alten werden immer älter und sterben einsam vor sich hin. Auch der Fährmann ist tot und niemand in Sicht, um diese Lücke zu füllen.

“Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die dritten sagen: Der Fährmann ist tot, es lebe der Bootsverleih.”

Der Titel des Romans ist programmatisch, denn Saša Stanišić erzählt in seinem Roman von einer einzigen Nacht. Von der Nacht vor dem Fest, dem traditionellen Annenfest. Das ganze Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen. Da gibt es Lada, den man Lada nennt, weil er mit dreizehn Jahren mit dem Lada seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist. Da gibt es Frau Kranz, die schon neunzig Jahre alt ist und die ihr ganzes Leben lang gemalt hat. Gekannt hat sie dabei nur ein einziges Motiv: Fürstenfelde, in allen denkbaren Variationen. Für die Auktion des diesjährigen Festes möchte sie endlich eine Nachtaufnahme von Fürstenfelde malen, denn Fürstenfelde bei Nacht, das hat sie noch nie gemalt.

“Sie möchte einmal nicht die Wirklichkeit gemalt haben, sondern etwas, das später wirklich geworden ist. Aber wie geht das? Sie möchte malen, was niemand weiß. Sie möchte das Böse malen in uns, aber wie geht das? Sie möchte das Durchhalten malen, aber wie geht das? Das Hindern, aber wie?”

Da gibt es Ulli, der die Männer in Fürstenfelde in seiner Garage mit Alkohol bewirtet und an seinem Kühlschrank einen Kalender mit nackten Polinnen hängen hat – “halb wegen Ironie, halb wegen Ästhetik”. Da gibt es die dicke Frau Schwermuth, die von ihrem Sohn nur Mu genannt wird und sich so tief in die Heimatgeschichte ihres Dorfes eingegraben hat, dass sie den Weg zurück ins Jetzt kaum findet. Da gibt es Herrn Schramm, ehemaliger NVA-Soldat und Witwer, der so wenig Rente bekommt, dass er sich schwarz etwas dazu verdienen muss und Johann, der eine Ausbildung zum Glöckner macht.

“Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.”

Vom ersten Satz an hatte ich als Leser das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes, mit seinen schrulligen Bewohnern, zu sein. Die Warmherzigkeit, mit der sich Saša Stanišić seinen Figuren annimmt, ist beeindruckend. Er bevölkert seinen Roman nicht nur mit Figuren, sondern erweckt diese wirklich zum Leben. Die Schrulligkeiten der Dorfbewohner werden mit sehr viel Zuneigung, Einfühlungsvermögen und Feingefühl beschrieben. Doch neben den Figuren ist es vor allen Dingen die Sprache, die diesen Roman zu einer ganz besonderen Lektüre macht: dem Autor gelingt es auf eine höchst charmante Art und Weise, mit der deutschen Sprache zu spielen. Da wird nicht nur gerappt und gereimt, sondern es werden auch Sagen und Geschichten der Fürstenfelder Dorfchronik des 16. Jahrhunderts erzählt – so, wie sie damals erzählt und aufgeschrieben wurden. Stanišić nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die dennoch mit dem Hier und Jetzt in Fürstenfelde verknüpft bleibt. Es gibt auch typographische Spielereien, genauso wie Worterfindungen (im Gedächtnis geblieben ist mir das Wort durcherinnern). Darüber hinaus zeichnet sich der Roman durch ganz viel Humor aus. Obwohl es mit einem Todesfall beginnt, ist die Erzählung auch immer hochkomisch und es gibt zahlreiche wunderbare Pointen. Dabei neigt der Autor dazu, zu verzerren und zu überzeichnen, doch in der Verzerrung steckt auf den zweiten Blick auch viel Wahrheit.

“Und jetzt fängt auch noch die Zieschke sie vor der Bäckerei beschwingt ab, Herrgott noch mal, ist doch viel zu früh für Heiterkeit, aber die Zieschke ist so eine mit Strähnchen, solche schlagen emotional in alle Richtungen extrem aus.”

“Vor dem Fest” ist ein wunderbarer Roman! Er ist prall gefüllt mit so vielem, mit Poesie, mit Humor, mit Sprachspielen und mit einem herrlich skurrilen Dorf und seinen Bewohnern. Obwohl Saša Stanišić nur von einer einzigen Nacht erzählt, geht es doch um so viel mehr: “Vor dem Fest” ist nicht nur eine Chronik eines entvölkerten Dorfes, sondern auch ein großartiger Roman der Geschichten wie Schichten aufeinander stapelt und von Heimat und Erinnerungen erzählt, von der Vergangenheit, zerbrochenen Träumen und der drückenden Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Große Liebe – Navid Kermani

Zuletzt machte Navid Kermani weniger als Literat Schlagzeilen, als durch seine beeindruckende und wichtige Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetz. Auch seine letzte Buchveröffentlichung hatte primär eine politische Dimension, denn in “Ausnahmezustand” bereiste er Länder, die sich alle in irgendeiner Form im Ausnahmezustand befinden. Seit diesem Frühjahr gibt es im Hanser Literaturverlag endlich ein neues Buch: auch in “Große Liebe” beschäftigt sich Navid Kermani mit einem schwerwiegenden Ausnahmezustand, dem Gefühlschaos der ersten großen Liebe.

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Es ist Anfang der achtziger Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt. Ein fünfzehn Jahre alter Schüler, der drei Baumwollpullover übereinander trägt, verliebt sich in ein vier Jahre älteres Mädchen, das dasselbe Gymnasium besucht, wie er. Die erste Annäherung ist vorsichtig. Während der Junge bereits das Fieber des Verliebtseins spürt, nimmt das Mädchen ihn zunächst noch gar nicht wahr. Das hindert ihn nicht daran, die Pausen in der verbotenen Raucherecke zu verbringen – in größt möglicher Nähe zu ihr. Doch irgendwann ist es so weit, im Tagungsraum der evangelischen Studentengemeinde schaut das Mädchen ihn zum ersten Mal genauer an. Der Fortlauf der Liebe ist rasant: schnell werden schüchterne Küsse ausgetaucht, dann noch mehr, doch da ist es eigentlich schon wieder fast vorbei. Die Liebe kam und ging schneller als der Junge es je hätte ahnen können. Schon ist es wieder vorbei, auf knapp 100 Seiten ein Wechselbad der Liebesgefühle: von den höchsten Höhen der gemeinsamen Vereinigung hinabgestürzt in den bittersten Trennungsschmerz.

“Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt -, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, daß ich den Leser widerlege.”

“Große Liebe” ist möglicherweise weniger Roman, als Erinnerungsbuch, denn die Erinnerungen an diese erste große Liebe sind stark autobiographisch gefärbt. Navid Kermani erzählt nicht die Geschichte irgendeines Jungen, sondern die eigene Geschichte. In hundert kurzen Kapiteln lässt er seine erste große Liebe Revue passieren – mit dem Abstand von dreißig Jahren, als geschiedener Ehemann und Vater eines Sohnes, der selbst gerade fünfzehn geworden ist. Mit dreißig Jahren Abstand, gelingt es an der ein oder anderen Stelle, den “logischen Schluß” zu ziehen, etwas, das dem fünfzehnjährigen Navid Kermani, erkrankt am Liebesvirus, nicht immer gelingen wollte.

“Ist das Gefühl des Fünfzehnjährigen, so herrlich und furchtbar es auf den folgenden Seiten explodieren wird, ist es überhaupt Liebe zu nennen, gar die größte Liebe seines Lebens, wie ich bis vorgestern überzeugt war?”

Das Besondere an “Große Liebe” ist, dass sich Navid Kermani nicht nur zurückerinnert, sondern die Liebesgefühle des Jungen, der er einmal gewesen ist, auch zu verstehen versucht. Der Autor bringt jeden Tag ein Kapitel zu Papier, 100 Kapitel umfasst die große Liebe des Jungen: vom ersten Kuss, über den ersten Geschlechtsakt, bis zur überraschenden Trennung. Was im Roman 100 Kapitel sind, sind in Wirklichkeit nicht einmal wenige Wochen. Doch es sind Tage, die dem Jungen wie eine endlose Ewigkeit erscheinen.

“[…] ich habe einen Plan erstellt, der für jede Station der Liebe zehn Seiten vorsieht, zehn für die Begegnung, zehn fürs Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird; bis zur vierzigsten Seite würde ich von der Vereinigung erzählen und bis zur fünfzigsten von dem Zustand, den die Mystiker das ‘Bleiben im Entwedern’ nennen, so daß für die Verzweiflung wenigstens noch die Hälfte der Geschichte bleibt […].”

Eine zusätzliche Ebene erhält der Text durch zahlreiche Zitate und Verweise auf das wahnsinnige Gefühl der Liebe, bei denen sich Navid Kermani der persischen Dichtung bedient, aber auch der Philosophie. Erwähnung findet die Geschichte des persischen Dichters Nizami, der im 12. Jahrhundert die sagenhafte Geschichte von Leila und Madschnun erzählte. Madschnun verliebt sich rettungslos in Leila und besingt im verzweifelten Versuch sie für sich zu gewinnen, seine Liebe zu ihr. Während Ibn Arabi im 13. Jahrhundert von der außerordentlichen Feinheit spricht, die man in der Liebe finden kann. All diese Zitate rücken das pubertäre Verliebtsein eines Jungen, das gerade einmal knapp eine Woche Bestand haben sollte, auf eine allumfassendere Ebene. All die Dichter und Philosophen, die Navid Kermani zitiert, bringen das auf den Punkt, was möglicherweise jeder Liebende empfindet, insbesondere bei der ersten großen Liebe: man gibt als Liebender seinen Verstand her, sein Herz, macht sich lächerlicher um die Liebste zu gewinnen. Das allererste Verliebtsein ähnelt einem grippalen Infekt, einem Fieber, das man sich einfängt.

“Erst später las er in den Büchern, daß die Liebe nicht nur ‘die Vernunft mit sich reißt und geistige Besessenheit’ hervorruft, wie ihn Ibn Arabi warnt, sondern eben auch ‘Auszehrung’ bedeutet, ‘das hartnäckige Kreisen der Gedanken, die Unruhe, die Schlaflosigkeit, das brennende Verlangen, das Feuer der Leidenschaft und die durchwachten Nächte.'” 

Navid Kermani gelingt mit “Große Liebe” ein Erinnerungsbuch der eigenen ersten großen Liebe, das gleichzeitig zu einem Erinnerungsbuch des Lesers wird. Die Gedanken an die eigene erste große Liebe, an das tiefe Versenken und das böse Erwachen, an den Liebeswahnsinn, der einen Sinn und Verstand verlieren lässt, sind unvermeidbar. So stiftet der Roman auch an zu einer Zeitreise durch das eigene Leben, zurück in das Gefühlschaos der ersten großen Liebe. Vielleicht ist dieses Anstiften der größte Verdienst des Romans, viel mehr noch, als die eigentliche Geschichte, die Navid Kermani erzählt. Navid Kermanis Liebesgeschichte hat übrigens auch noch eine politische Komponente, denn bereits damals – mit gerade einmal fünfzehn Jahren – kämpfte er für die Friedensbewegung und nahm an einer Blockade des Verteidigungsministeriums teil.

“Große Liebe” ist ein schmales Bändchen, doch die 100 Kapitel sind außerordentlich lesenswert. Mit großer Ernsthaftigkeit erzählt Navid Kermani seine eigene Geschichte, er erzählt vom Virus der Liebe, der ihn urplötzlich packte und mit Haut und Haaren verschlang. Er erzählt von einer Tiefe und Gefühlsintensität, die im Leben eines Erwachsenen kaum noch Raum hat. Lest “Große Liebe” und erinnert euch zurück an eure eigene große Liebe.

Rosa Straußenfedern – Hanna Krall

“Dies ist ein Buch über das, was mir Menschen in fünfzig Jahren schrieben und erzählten.” Das sind die wenigen Worte, aus denen der Klappentext dieses seltsamen Buches besteht – es sind Worte, die mich sofort neugierig gemacht haben. Im Einband erfahre ich, dass Hanna Krall 1935 in Warschau geboren wurde und mit ihren Veröffentlichungen vor allem in Polen für Aufmerksamkeit sorgte, auch ein jahrelanges Publikationsverbot konnte sie nicht stoppen. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren häufig lakonischen Reportagen.

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“Ich bin keine Pessimistin, überhaupt nicht. Ich denke nie, schade, dass ich nicht mehr vierzig bin. Ich denke, gut, dass ich noch nicht vierundsechzig bin. Ich denke, gut, dass ich eine Brasse gefangen habe und keinen Goldbarsch. Ich denke, dass mir solche Dinge wie Sonne, Wolken, Dämmerung am Wasser immer wichtiger werden.”

“Rosa Straußenfedern” ist weit entfernt von klassischer oder auch herkömmlicher Literatur, was auch immer man darunter verstehen mag. Es gibt keine Handlung, keine wirklichen Figuren, keinen roten Faden – das Einzige, das es gibt, ist ein klar abgegrenzter Zeitraum: die Jahre von 1960 bis 2009. Hanna Krall versammelt Briefe, Notizzettel, Gedankensplitter, Unterhaltungen, Ideen, Reportagematerial und ordnet all dies in eine chronologische Reihenfolge. Ihre Gesprächspartner sind berühmt, zu Wort kommt unter anderem Jan Karski, aber auch Marek Edelman. Doch es sind vor allem die unbekannten Stimmen, die unbekannten Namen, deren Geschichten berühren und bewegen.

Die Struktur des Buches ist kompliziert, ich habe mich beim Lesen zunächst einmal hineindenken müssen. Die einzelnen Abschnitte sind kurz, manchmal nur eine Seite lang, höchstens drei. Das Schriftbild ist zweigeteilt, die kursiven Passagen sind direkte Zitate ihrer Gesprächspartner, aus den anderen Stellen spricht die Stimme von Hanna Krall. Über jedem Abschnitt steht ein Name, es sind bekannte und unbekannte Namen – mit viel Gespür für das Detail und mit dem Auge einer Reporterin fasst Hanna Krall ihre Geschichten zusammen.

“Liebste Gattin, lass dich nicht unterkriegen, wir haben schon ganz andere Dinge überstanden, wir haben die Schwindsucht überstanden, die Wawel-Straße und den Verlust unserer Tulpenzwiebeln. Das Buch wird irgendwann herauskommen, das verspreche ich Dir. Vorerst gehe ich die Pferde unserer Tochter bezahlen und den dritten Band der Enzyklopädie kaufen. Ja, dein Buch ist fern, aber die Familie ist nah, vielleicht ist das gar nicht so schlecht.”

Der banale Alltag wechselt sich ab mit grausamen Erinnerungen an den Krieg. Krall ruft dem Leser alles der damaligen Zeit in Erinnerung: die Gewalt, die Grausamkeit, die Einsamkeit, der Hunger. Es gibt aber auch viele heitere und lakonische Abschnitte, wir erfahren woraus die Arbeit eines Sexers besteht, eine Berufsbezeichnung, über die ich zum ersten Mal gestolpert bin. Es wird ein Verlagsdirektor zitiert, der Hanna Kralls Buch ablehnt, Seite an Seite mit Briefen ihrer Tochter Katarzyna, die der Mutter aus dem Ferienlager schreibt. Auch mit der quälenden Frage der Berufswahl ihres Enkels, beschäftigt sich die Autorin.

Hanna Krall erzählt keine Geschichte, es bleibt dem Leser überlassen, die Geschichte, die sich in diesem 200 Seiten schmalen Buch verbirgt, aufzuspüren und zu entdecken. Die Geschichten der anderen, macht Hanna Krall zu ihrer eigenen, verleibt sie sich ein und erzählt sie nach. Der rote Faden ist – wenn man so mag – der Verlauf der Zeit. Hanna Krall richtet ihren Blick auf die großen sowie die kleinen Katastrophen unserer jüngsten Geschichte, sie lässt Holocaust-Überlebende zu Wort kommen und Solidarnosc-Aktivisten und wir lernen eine angebliche Attentäterin Lenins kennen.

“Ich bin überhaupt nicht melancholisch. Mir genügt eine kleine, winzige Freude am Tag. Mir genügt der Gedanke, dass diese Freude noch auf mich wartet. Manchmal ist es eine gute Zigarre. Manchmal … Sie werden es nicht glauben. Manchmal ein Stück Fruchtgelee – süß, mit Bitterschokolade überzogen -, das ich abends esse.”

Hanna Krall legt mit “Rosa Straußenfedern”  ein wahrlich seltsames Buch vor. Ein Buch, das sich entzieht, das sich sperrt und verweigert – es ist nicht leicht, einen Zugang zu finden, zur Sprache von Hanna Krall, aber auch zu den hier versammelten Erinnerungen und Gedankensplittern. Und doch hat mich die Lektüre seltsam angerührt, all die Geschichten, Erinnerungen und Erlebnisse fremder und bekannter Menschen hallen auch jetzt immer noch in mir nach und ich ertappe mich dabei, wieder und wieder zu dem Buch zu greifen und in diese Lebensgeschichten einzutauchen.

Eulenrod – Hans Stilett

Hans Stilett wurde 1922 geboren, damals noch unter seinem gebürtigen Namen Hans Adorf Stiehl. Von 1953 bis 1983 arbeitete er  als leitender Redakteur im Bundespresseamt in Bonn, nach seiner Pensionierung zog es ihn zurück an die Universität: ein Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie schloss er 1989 an der Universität Bonn mit einer Promotion ab. Bekannt wurde er durch eine Neuübersetzung von Montaignes Essais, die 1998 erschien.

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“Kein Zweifel: Ich werde gewesen sein. Woraus folgt, daß ich, da gewesen, sein werde. Denn alles, was je war, bleibt dem Buch des Lebens eingeschrieben. Wie die Menschen, von denen hier die Rede sein wird. Wie jedes Glühwürmchen auch. Wie jeder Stern.”

“Eulenrod” ist keines der Bücher, wie man sie heutzutage in einer schier erschlagenden Masse in den Buchläden ausliegen sieht. Es ist wunderbar gestaltet, bereits äußerlich erscheint es wie ein ungewöhnlich schönes Kleinod. Es ist deutlich kleiner als sonstige Bücher, auch der herkömmliche Schutzumschlag fehlt. Das Buch trägt den mysteriösen Titel “Eulenrod”, das Cover zeigt einen dichten Wald, in den dennoch ein Schimmer Licht hinein fällt. Der Untertitel ist mir sofort ins Auge gesprungen und hat mich neugierig gemacht: Biographisches Mosaik.

“Noch wese ich im Hier und Jetzt, doch der Abschied naht. Desto dichter drängen nun Gestalten heran, die ich längst vergessen glaubte, und Szenen aus dem Dämmer meiner ersten Lebensjahre leuchten wieder auf.”

Dem Buch voran gestellt ist passenderweise ein Satz von Montaigne: “Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer.” Hans Stilett versetzt sich zurück in die Gedankenwelt und in die Gefühle seiner Kindheit, er tut dies mit einer großen Ernsthaftigkeit – ein Kind mag ein Kind sein und dennoch erfährt es die Welt in einer Art und Weise, die nicht weniger wahr ist, als das Erleben von Erwachsenen. In kurzen Texten widmet er sich dem Leben, das er als Kind geführt hat.

“Wir leben arm, doch sehr gesund.”

Hans Stilett wächst vaterlos und in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Wohnung, in der er lebt hat nur eine Stube und eine Schlafkammer. Die Mutter ist häufig nicht zu Hause und lässt lässt den Jungen bei seinen Großeltern zurück. Trotz der Abwesenheit der Mutter, bleibt sie für ihn eine wichtige Bezugsperson: sie schreibt nicht nur ihren Lebensroman, sondern auch Gedichte und mit Vögeln kann sie sprechen, sie beherrscht “Finkisch” und “Meisisch”. Auch die Großmutter ist sehr mit der Natur verbunden, sie lehrt ihm, Heidelbeeren zu pflücken. Hans Stilett übernimmt die Lieber zur Natur von ihr und liebt es bereits in jungen Jahren, sie zu erforschen – manchmal liegt er stundenlang bäuchlings auf einem Kiesweg, um Stiefmütterchen zu beobachten.

Der Ort in Thüringen an dem der Junge aufwächst, heißt eigentlich Zeulenroda – es sind nur zwei Buchstaben, die diesem abgenommen werden und schon wird aus der beengten und dörflichen Kleinstadt Zeulenroda Eulenrod, ein Ort an dem ein Junge wie Hans, jeden Tag ein anderes Abenteuer erleben kann.

“Neulich ein wildes Gewitter, schwarz, zerfetzt vom Gold der Blitze. Ich greif mir Bleistift und Papier und renn ans linke Stubenfenster, um sie im Niedersausen zu packen, Blatt um Blatt: ein rätselhaftes Gewirr von Linien, das vielleicht wer entziffern kann. Drum heb ich alles auf.”

Der Autor beschwört seine Kindheit auch durch eine besondere Sprache wieder herauf. Im Text stolpere ich über mir unbekannte Begriffe, an einer Stelle kriegt Hans von seinem Großvater eine gedachtelt, an anderer Stelle schneidet die Großmutter einen Runks vom Rundbrot ab. Die Erinnerungen an die damalige Zeit sind jedoch nicht nur in heitere Farben getönt – auch Tod und Krankheit spielen im Leben des Jungen eine Rolle. Ganz am Rande seiner kindlichen Perspektive wird auch die zunehmende Verschiebung der politischen Situation deutlich, immer mehr Menschen in Zeulenroda gebrauchen den Hitlergruß.

Hans Stilett wirft in “Eulenrod” einen eigenwilligen Blick auf seine Kindheit, er erinnert sich zurück an das Leben in den 20er Jahren und betrachtet diese Zeit aus den Augen des Kindes, das er damals gewesen ist. Die Bezeichnung Biographisches Mosaik habe ich im Laufe der schmalen Lektüre als immer passender empfunden: die kurzen Texte und aneinandergereihten Kindheitserinnerungen ergeben in der Tat eine Art Mosaik es ist ein Mosaik des eigenen Lebens – der eignen Biographie.

“Eulenrod” ist eine Zusammenstellung von Erinnerungssplittern, von Kürzesterinnerungen, die Seite an Seite, auf engem Raum, nebeneinander stehen und einen unverwechselbaren und einzigartigen Blick auf eine Kindheit gewähren. Genauso wunderschön wie die äußere Gestaltung, ist auch der Inhalt dieses schmalen Büchleins äußert lesenswert. Die Kindheit von Hans Stilett ist höchst gewöhnlich, ungewöhnlich und schön ist jedoch der Zugang den er zu ihr gefunden hat und die Art und Weise, in der er seine Erinnerungen wieder aufleben lässt.

Frühling auf dem Mond – Julia Kissina

Julia Kissina wurde 1966 in Kiew geboren. In den 80er Jahren gehörte sie zum Kreis der Moskauer Konzeptionalisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein. Bekannt wurde sie durch zahlreiche spektakuläre Kunstaktionen, aber auch durch ihre Arbeit als Fotokünstlerin. 2005 erschien mit “Vergiß Tarantino” ihr erster Roman, es folgte das Kinderbuch “Milin und die Zauberkreide”. Die Autorin lebt heutzutage in Deutschland. “Frühling auf dem Mond” ist ihr neuster Roman, er erschien im vergangenen Jahr im Suhrkamp Verlag und wurde übersetzt von Valerie Engler.

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“Wir alle sitzen im Empfangssaal des Herrn und warten auf unsere Stunde. Sein Empfangssaal ist riesig, dort stehen für die Wartenden Bänke.”

In “Frühling auf dem Mond” verarbeitet Julia Kissina – mal humorvoll, mal nostalgisch, mal mit tragischer Note – ihre eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit. Geboren wurde sie 1966 in Kiew, in eine Stadt hinein, die damals in Trümmern lag. Ganze Straßenzüge lagen in Schutt und Asche, Abrissbagger verwandelten Kiew in ein Trümmerfeld. Julia Kissina erinnert sich an eine Zeit zurück, in der sie gerade einmal elft Jahre alt war, doch gleichzeitig auch ein bereits seltsam frühreifes Mädchen – bei Begegnungen mit anderen Menschen macht sie sich ein Jahr älter, um “älter und seriöser zu erscheinen”.

“Meine ganze Kindheit spielte sich in diesen Schrunden der verschlungenen Straßen ab. Aber das Schlimmste war gar nicht die Kindheit. Das Schlimmste war das Bedauern, das später kam.”

Julia Kissina erzählt von einer Kindheit, die von der Vergangenheit eines Krieges und der Gegenwart hinter dem Eisernen Vorhang geprägt ist. Sie wächst mit einer Mutter auf, die eigentlich als Lehrerin arbeitet. Ihre Mutter ist eine wunderschöne Frau, die nur einen Fehler hat: sie findet keine Ruhe, wenn sie nicht arbeitet, sucht sie sich neue Aufgaben. Sie kümmert sich um die alten Menschen in der Irrenanstalt oder quartiert arme und haltlose Frauen bei sich zu Hause ein. Wie ein Geschwür, schleicht sich die Mutter in das Leben fremder Menschen hinein – sie möchte helfen, doch über die Pflege der anderen, vernachlässigt sie ihre eigene Familie. Mit dem Versuch der Mutter, sich bedürftigen Menschen anzunehmen, endet allmählich die Kindheit von Julia Kissina. Der Vater schreibt Texte für eine Zirkusrevue und ermöglicht seiner Familie immer wieder exklusive Plätze bei den beliebten Zirkusvorstellungen; gleichzeitig lebt er in der Angst, aufgrund seiner politischen Ansichten denunziert zu werden.

“Man zwingt mich zu wachsen. Man zwingt mich, das papierene Rückgrat zu strecken. Man misst mich mit dem Lineal, ob mein Wachstum nicht stockt, man wiegt mich und spickt mich mit Vitaminen. Meine Eltern achten sorgfältig darauf, dass ihr mickriges Geschöpf Fleisch ist.”

Der Krieg ist in den 60er Jahren schon lange vorbei, doch sein drohender Schatten konnte aus der Stadt noch nicht vertrieben werden. Julia Kissina erzählt von einer Nacht im Juni 1941, es ist die Nacht, in der ihre Mutter zur Welt kommt und es ist die Nacht, in der erste Bomben auf Kiew fallen. Auch das Krankenhaus wird getroffen, das Bett in dem Mutter und Großmutter liegen, ist das einzige Bett, das nicht getroffen wird. Auch die Auswirkungen des Lebens hinter dem Eisernen Vorhang sind spürbar: überall herrscht die Angst vor Denunziation, vor Wanzen, vor Abhörung. Ausländische Lebensmittel werden heimlich nach Kiew geschmuggelt. Eines Abends isst Julia Kissina mit ihren Eltern bei Verwandten zu Abend, die englisches Salz nach Kiew geschmuggelt haben. Das Salz wird mit einer Vorsicht und Begeisterung probiert, als könnte es sich um ein Wundermittel handeln.

“Die Brachen in unserer Stadt waren wie echt endlose Steppen. Denn sobald man ein Haus abriss, überzogen sich die Ruinen mit langem kräftigem Gras, sofort schlug die Natur zu, und gelbe Weiden tauchten auf, wie aus dem Nichts, vom Dnepr herausgehinkt, und diese Weiden weinten mit ihren Peitschenzweigen, darum hießen sie auch Trauerweiden.” 

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“Frühling auf dem Mond” ist ein ungewöhnlicher Roman, ein außergewöhnlicher Text und eine gleichzeitig quälende Lektüre. Selten zuvor habe ich einen Roman gelesen, der mich auf der einen Seite angezogen hat, zu dem ich auf der anderen Seite aber nur sehr schwer einen Zugang gefunden habe. Etwas, das dieser Roman im Überfluss hat, ist Humor: es ist ein manchmal gewollter Humor, ein erzwungener Humor, der förmlich einen heiteren Dunst über die Vergangenheit legt.

“Kein Mensch auf dieser Welt kann die ganze Zeit Gutes tun, das schafft er gar nicht. Leiden können wir dagegen von morgens bis abends, sogar im Schlaf.”

Erst als ich diesen Humor wie eine Schicht vom Text abgekratzt habe und mich auf das, was dahinter liegt, konzentriert habe, habe ich besser in diesen Text hineinfinden können. Julia Kissina taucht mit einer rückhaltlosen Ernsthaftigkeit in ihre eigenen Erinnerungen hinab, hinab zu dem Menschen, der sie als Kind gewesen ist. Es ist ein frühreifer Mensch, ein Mensch voller Ernst und schwerer Gedanken. Als Kind schreibt Julia Kissina Briefe an sich selbst, sie schreibt Briefe in die Zukunft, an ein späteres Ich, dem sie Belehrungen und Ermahnungen erteilt. Die Zirkusvorstellungen genießt sie nicht, stattdessen hinterfragt sie die Fassade der Zirkusartisten, von denen die meisten eine unglaubliche Lebensgeschichte haben: “viele waren Kriegsveteranen.” Die erwachsene Julia Kissina widmet sich ihrem kindlichen Ich mit viel Wärme und Liebe, ihre Erinnerungen – an die Stadt, in der sie aufwuchs, an die Eltern, mit denen sie lebte und an die erste Liebe, die sie liebte – sind mit einer feinen Nostalgie durchwebt.

“Manchmal scheint es, dass die Ziegelsteine der Vergangenheit so dicht aneinanderkleben, dass es dort überhaupt keinen Platz für Neues gibt. […] Mit der Zeit verlor ich das mystische Gefühl, das mich damals begleitet hatte, ein Gefühl, das wohl niemals zu mir zurückkehren wird.”

“Frühling auf dem Mond” ist herrlich schrill und gleichzeitig von einer tiefen Ernsthaftigkeit geprägt. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um mich auf die Stimme dieses seltsamen Mädchens einzulassen, das tieftraurig, altersweise und rebellisch ist. Ich glaube aber, dass genau solche Romane wichtig sein können für die Literatur: “Frühling auf dem Mond” ist verrückt, doch dieses Verrückte muss einen nicht abstoßen, es kann etwas mit einem machen. Julia Kissina hat einen lesenswerten Roman geschrieben, über die Liebe, Nostalgie und Kindheitserinnerungen.

 

Traumsammlerin – Patti Smith

Patti Smith ist Punk- und Rockmusikerin, von manchen wird sie auch als “Godmother of Punk” bezeichnet. Sie singt jedoch nicht nur, sondern ist darüber hinaus auch als Dichterin, Malerin und Fotografin bekannt. Neben einigen Gedichtbänden, erschien im Jahr 2010 die Autobiographie “Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft”, die die Geschichte der Freundschaft von Patti Smith und Robert Mapplethorpe erzählt. Im vergangenen Jahr erschien schließlich der schmale Band “Traumsammlerin”, im Original: “Woolgathering”, eine Zusammenstellung aus kurzen Texten, Zeichnungen und Fotografien.

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“Jemand hat mich gefragt, ob ich Traumsammlerin als Märchen sehe. Ich mochte solche Geschichten immer sehr, aber ich fürchte, es fällt nicht darunter. Alles in diesem kleinen Buch ist wahr und so erzählt, wie es war. Es zu schreiben, löste mich aus meiner seltsamen Erstarrung, und ich hoffe, dass es den Leser bis zu einem gewissen Grad mit einer unbeschwerten, eigentümlichen Freude erfüllt.”

Viele der Texte, die in diesem wunderbaren Band versammelt sind, sind im Original bereits im Jahr 1992 bei Hanuman Books erschienen. Es handelt sich um Reflexionen und Gedankensplitter, die Patti Smith zu Beginn der 90er Jahre gesammelt und zu Papier gebracht hat. 1991 lebte Patti Smit gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem alten Steinhaus am Stadtrand von Detroit. Das Haus liegt direkt an einem Kanal, Efeu und Purpurwinde winden sich die bröckelnden Mauern entlang. Doch sinnbildlich für die damalige Gemütsverfassung von Patti Smith sind wohl eher die beiden alten Trauerweiden.

“Ich liebte meine Familie und unser Zuhause aufrichtig, doch in diesem Sommer litt ich an einer schlimmen und unbeschreiblichen Schwermut.”

In dieser düsteren Gemütsverfassung beginnt Patti Smith damit Texte für die “Traumsammlerin” zu verfassen. Sie setzt sich in dem Moment an die Arbeit, als die Birnen anfingen zu reifen.

“Ich schrieb mit der Hand auf kariertes Papier, und am 30. Dezember 1991, meinem fünfundvierzigsten Geburtstag, war ich fertig mit dem Manuskript.”

“Traumsammlerin” ist eine lose Sammlung an Gedankensplittern und Erinnerungsfetzen; ohne Zusammenhang und chronologische Ordnung. Patti Smith erinnert sich in allerlei kurzen Texten und Sequenzen zurück an ihre Kindheit, greift einzelne Ereignisse heraus, beschreibt Menschen, denen sie begegnet ist, erinnert sich an Dinge, die sie getan hat. Angereichert sind die kurzen Erzählungen mit Fotografien und Zeichnungen. Auch wenn die Autorin selbst sich dagegen verwahrt, dass es sich bei ihren Texten um Märchen handelt, erwecken diese mitunter einen märchenhaften und beinahe magischen Eindruck. Der Stil, in dem Patti Smith ihre Erinnerungen notiert, ist assoziativ – sie überschreitet beim Schreiben immer wieder die unsichtbare Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit und versetzt sich selbst und den Leser in eine Form von Traumland, in dem einem nicht mehr bewusst ist, was Realität und was Einbildung ist.

“Ich wusste schon immer, ich würde ein Buch schreiben, wenn auch nur ein kleines, das einen fortträgt in eine Welt, die weder zu vermessen ist noch in Gedanken zu fassen.”

Patti Smith beschreibt sich selbst als “melancholisches” und “staksiges” Kind, mit ungeschickten Armen. Und in der Tat: Die Stimmung der Melancholie ergreift einen beim Lesen, sie lässt sich aus den Texten herausschälen und setzt sich irgendwann wie ein Kloß im Hals fest. Dies ist umso erstaunlicher, da Patti Smith überwiegend positive Erinnerungen an ihre Kindheit hat. Sie wächst mit vielen Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf, zu acht wohnen sie in einem kleinen Häuschen, doch auf ihre Kindheit blickt sie nicht zurück im Zorn, sondern mit viel Gleichmut und mitunter auch mit “unbändiger Freude”. Vielleicht ist dieses Glück, was aus den Erinnerungsfetzen von Patti Smith spricht, das Befremdlichste und gleichzeitig Schönste dieses schmalen Bändchens. Selten kann wohl alles, was man als Kind erlebt hat, ausschließlich positiv besetzt sein, doch Patti Smith gelingt es, nicht verbittert und verletzt zurückzublicken, sondern als gereifte Frau. Möglicherweise liegt in diesem Blick auch eine Form der Verklärung und doch habe ich ihre Perspektive auf das, was sie in ihrer Kindheit erlebt hat, als eine starke und mutige Perspektive empfunden.

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“Wie glücklich wir doch als Kinder sind. Wie die Stimme der Vernunft dieses Licht verdunkelt. Wir wandern durchs Leben, eine Fassung ohne Stein, bis wir eines Tages um eine Ecke biegen und er vor uns auf der Straße liegt, ein geschliffener Tropfen Blut, realer als ein Geist, strahlend. Wenn wir uns rühren, wird er vielleicht verschwinden. Wenn wir nicht handeln, werden wir nichts gewinnen.”

Patti Smith sammelt Träume, Erinnerungen und Gedanken, Seite an Seite mit wunderbar mystischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sie selbst erhoffte sich, dem Leser eine unbeschwerte und eigentümliche Freude schenken zu können. Ich habe dieses Geschenk annehmen können, ich habe Texte  gelesen, die wie Juewelen funkelten. In einer wunderbaren Prosa gehalten. Ich habe Erinnerungen voller Magie aufgesaugt und bin eingetaucht in die Familiengeschichte und Träume voller Wolle. Patti Smiths “Traumsammlerin” ist ein Buch mit Zauberkraft – lasst euch verzaubern!

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