Browsing Tag

literatur

Das Buch der Bücher für die Insel – Markus Gasser

Die Frage, welche Bücher man mit auf eine einsame Insel mitnehmen würde, gehört wohl zu den beliebtesten Fragen unter Bibliophilen, aber auch zu denjenigen, die kaum zu beantworten sind. Wie sollte man sich jemals entscheiden können, angesichts der Tatsache, dass es so viele gute Bücher gibt? Markus Gasser versucht in Das Buch der Bücher für die Insel eine Antwort auf die Frage zu finden und stellt in fünfzig Kapiteln potentielle Inselbücher vor. Das ist nicht nur höchst lesenswert, sondern auch eine große Gefahr für jeden Wunschzettel.

Bücher für die Insel

Solange in der Bibliothek noch Licht brennt, kann die Welt nicht verloren sein!

Dieser Satz steht auf der Rückseite des Buches und auch wenn ich eigentlich niemand bin, der bei Büchern wert auf das Äußere legt (zumindest nicht ausschließlich), muss ich doch gestehen, dass ich mir dieses Buch allein aufgrund der wunderbaren Gestaltung gekauft habe. Der Titel in Kombination mit dem großartigen Cover, den zwei roten Lesebändchen und diesem Satz auf dem Buchrücken hat mich einfach verzaubert. In diesem Fall stimmte jedoch nicht nur die äußere Gestaltung, auch der Inhalt hat mich dann begeistern können.

Kaum wendet sich ein Gespräch unter Literaturenthusiasten kurz vor der Sperrstunde der Frage zu, welche Bücher man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, herrscht gebannte Stille am Tisch; man gibt sich feurigem Grübeln hin. Dann wirft einer seine Liste der persönlichen Lieblingsgrößen in die Runde und schon fällt ein anderer ihm ins Wort: weshalb dieser Roman fehle, während es jene Erzählung auf Platz drei geschafft habe. Und eine endlose Debatte bricht los, als könnte die perfekte Liste die Weltgeschichte verändern.  

Das Buch der Bücher für die Insel ist in fünfzig kleine Kapitel unterteilt, in denen Bücher und Autoren vorgestellt werden. Die fünfzig Kapitel sind noch einmal in fünf übergeordnete Abschnitte gegliedert: Die Neuschöpfung des Universums, Helden, Wie leben die Anderen?, Die Abenteuer des Lesens und Die Archive der Finsternis. Im Grunde handelt es sich bei den fünfzig Kapiteln um fünfzig Rezensionen, um Skizzen, die den Autor, das Buch und sein Werk einordnen und dabei Lust auf die Lektüre und das Entdecken machen.

Erwähnung finden unter anderem Herman Melville, J.R.R. Tolkien, Emily Brontë, Jane Austen, Jonathan Franzen, Roald Dahl, Alice Munro und David Mitchell. Es wird bereits früh im Buch deutlich, dass es Markus Gasser nicht darum geht, eine objektive Liste der größten Bücher zusammenzustellen. Es geht ihm viel mehr darum dazulegen, welche Bücher ihm etwas bedeuten, was ihn manche Bücher gelehrt haben und welche Kraft das Lesen von Literatur haben kann. Das ist nicht nur klug und charmant, sondern auch immer wieder unterhaltsam und vor allen Dingen höchst lesenswert. Auch ich – als passionierte Leserin – finde mich in vielen seiner Gedankengängen wieder, entdecke Autoren und Bücher wieder, die ich auch gerne gelesen habe und werde neugierig auf Bücher, die ich bisher noch nicht zur Hand genommen habe. Deshalb darf ich mir an dieser Stelle auch nicht die Warnung verkneifen, dass dieses Buch wahrlich eine Gefahr für jeden Wunschzettel darstellt.

Es nimmt die Frage nach der Bibliothek für die einsame Insel spielerisch ernst und begibt sich mit seinen Lesern auf eine Weltreise durch die Kontinente der Literatur. In fünfzig Kapiteln macht es Romane und Erzählungen und deren Autoren lebendig und beschwört die Atmosphäre ihrer Zeit herauf.

Das Buch der Bücher für die Insel lässt sich wie ein ganz normales Buch lesen – von vorne nach hinten. Es lässt sich aber auch querfeldein entdecken, man kann immer wieder durchblättern, sich nur bestimmte Kapitel vornehmen oder es auf dem Nachttisch liegen lassen, um es in passenden Momenten immer wieder in die Hand zu nehmen. Es geht Markus Gasser jedoch nicht nur darum, die Bücher vorzustellen, die ihm viel bedeuten, sondern er versucht auch Antworten auf grundsätzlichere Fragen zu finden: warum lesen wir eigentlich? Welche Bücher würden wir auch ein drittes Mal zur Hand nehmen? Warum machen uns manche Bücher neugierig und andere nicht? Markus Gasser gelingt es nicht nur Koffer mit Büchern zu bepacken, mit denen man am liebsten sofort auf eine Insel reisen möchte, sondern er schafft es auch, einen zum Nachdenken anzuregen: warum bedeuten mir bestimmte Bücher besonders viel? Welche Bücher würde ich nochmals lesen? Und welche in einen Urlaubskoffer packen? Das Buch der Bücher für die Insel ist also nicht nur Leseratgeber und Packanleitung, sondern lädt auch zur eigenen Auseinandersetzung mit Literatur ein. Verzeihen muss man dem Autor lediglich, dass er manchmal doch etwas prätentiös und bemüht originell daherkommt.

Die Themen, denen es folgt, sind zugleich eins mit den Gründen, warum wir lesen und warum Bücher unverzichtbar sind: weil sie unser Universum neu erschaffen; weil wir in ihnen die Unbeugsamkeit wie die Schwächen großer und kleiner Heldinnen und Helden bewundern; weil wir uns schwelgerisch unbefangen in Abenteuern und fremden Welten verlieren; und weil Bücher die Träume und Alpträume unserer Geschichte wie Archibe erzählend bewahren. 

Markus Gasser ist es gelungen, eine ungewöhnliche Bibliothek zusammenzustellen, mit der man problemlos die Reise auf eine einsame Insel antreten könnte. Das Buch der Bücher für die Insel lädt zu Entdeckungsreisen ein und eignet sich nicht nur zum Selberlesen, sondern auch zum Verschenken. Eine schöne Empfehlung, besonders für die Ferien und die sommerliche Jahreszeit.

Für den Herbst ist übrigens schon das nächste Buch angekündigt, das ebenfalls sehr reizvoll klingt: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen.

Gasser_24919_MR1.indd

Markus Gasser: Das Buch der Bücher für die Insel. Carl Hanser Verlag, München 2014. 384 Seiten, €21,90.

Markus Gasser: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen. Carl Hanser Verlag, München 2015. 304 Seiten, €21,90.

Warum Lesen glücklich macht – Stefan Bollmann

In Warum Lesen glücklich macht beschäftigt sich Stefan Bollmann mit den Ursprüngen des Lesens, erzählt von dessen Geschichte und spürt der Frage nach, welche Bedeutung literarische Texte für unser Leben haben können. Das Buch ist eine kleine Schatztruhe für Bücherliebhaber – geeignet zum Selberlesen, aber auch zum Verschenken.

DSC_4816

Lesend finden wir nicht nur Antworten auf unsere Lebensfragen, sondern schöpfen auch die Kraft für Neuanfänge, wenn wir einmal den Weg verloren haben.

Can Reading Make You Happier? – so hieß ein Artikel, der letzte Woche im New Yorker erschien. Ceridwen Dovey beschäftigt sich darin mit der Frage, ob Lesen uns glücklicher machen kann (eine Frage, die ich nur mit einem ganz klaren und lauten Ja beantworten kann) und erzählt nebenbei von den Möglichkeiten der Bibliotherapie. Ich glaube, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass Lesen momentan ein beliebtes Themenfeld ist. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich euch Lesen als Medizin vorgestellt habe – darin geht Andrea Gerk ganz ähnlichen Fragen nach. Woher kommt nur das Bedürfnis, sich mit den Haupt- und Nebenwirkungen von Büchern zu beschäftigen? Ich weiß es nicht und doch teile ich das Interesse daran, den Geheimnissen des Lesens auf die Spur zu kommen. Es ist also kein Wunder, dass ich an Stefan Bollmanns schmalem, aber wunderschön aufgemachten, Büchlein Warum Lesen glücklich macht nicht vorbeigehen konnte, als ich es in der Buchhandlung entdeckt hatte.

Wirkliches Lesen, so könnte man sagen, gleicht einem Aufbruch in die unbekannte Welt des Waldes, um experimentell zu überprüfen, was einem wesentlich ist und was nicht. Es ist der Ausstieg auf Zeit aus der Lebenswelt mit ihren Routinen und Konventionen und die Einkehr in eine fremde Vorstellungswelt, zu dem Zweck, das eigene Leben und vor allem das Bild, das wir davon haben, auf den Prüfstand zu stellen.

PicMonkey Collage 1

Von Stefan Bollmann gibt es mittlerweile schon eine ganze Reihe Bücher, die sich mit dem Lesen beschäftigen – bevorzugt aus weiblicher Perspektive. Da geht es um Frauen und Bücher, Frauen, die lesen, Frauen, die schreiben und Frauen, die gefährlich und klug sindDa mag die Frage natürlich erlaubt sein, ob Stefan Bollmann wirklich noch etwas Neues zu erzählen hat.

Viele von Stefan Bollmanns Gedanken findet man auch andernorts und die rhetorisch gestellte Titelfrage (Warum Lesen glücklich macht) bleibt weitestgehend unbeantwortet – das Lesen dieses schmalen Büchleins lohnt sich dennoch. Dies liegt zum einen an der wunderbaren Gestaltung und Bebilderung. Viele der Bilder erstrecken sich über eine Doppelseite, sie sind sorgfältig ausgewählt und wurden gut in den Textfluss integriert. Hauptsächlich zu sehen gibt es lesende Menschen, doch diesmal nicht nur Frauen, sondern auch den einen oder anderen Mann.

Warum Lesen glücklich macht lässt sich wohl am ehesten als literarischer Essay bezeichnen. In vier Kapiteln widmet sich Stefan Bollmann den Ursprüngen und der Bedeutung des Lesens: es geht um das Lesen als Rückzug, um das Erlernen des Lesens. Es geht aber auch um die Gefahren der neuen technischen Möglichkeiten und einer Auslotung der Frage, ob diese Möglichkeiten vielleicht auch ihre Vorteile haben können. Erst im allerletzten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Frage nach dem Leseglück und nimmt dazu den Glücksbegriff etwas genauer unter die Lupe.

Die große Kunst von Stefan  Bollmann ist es, mit welcher Leichtigkeit er von wissenschaftlichen und historischen Fakten erzählt und dabei immer wieder Anekdoten rund um’s Lesen einflicht. Er entführt einen nicht nur in die amerikanischen Wälder und erzählt die Geschichte von Henry David Thoreau, sondern auch in den deutschen Wald, in dem vor einigen Jahren Joseph Paccione ein Leben als Einsiedler geführt hat. Achtzehn Monate lang verbringt er lesend im Wald.

PicMonkey Collage

Während sich Stefan Bollmann in seinen anderen Büchern Gedanken um lesende Frauen gemacht hat, rückt er in diesem Buch auch den lesenden Mann in den Fokus. Auch wenn die zunehmende Anzahl männlicher Blogger das Gegenteil beweisen, kann einen doch der Eindruck überkommen, es gäbe mehr lesende Frauen als lesende Männer. Ist der männliche Leser also in seiner Art bedroht? Wenn man historisch zurückgeht, dann gehört der Mann interessanterweise zu den allerersten Lesern – denn das Lesen von Tierspuren auf der Suche nach Beute ist eine vergleichbare und verwandte Tätigkeit gewesen.

Bei nicht wenigen Lesern nimmt die Sorge um Lesefutternachschub die Gestalt von Beutezügen an, von denen der Buchhandlungen, Antiquariate und Auktionshäuser oder auch nur das Internet durchstreifende Bibliomane regelmäßig mit einer vollen Sammeltasche heimkehrt, bis schließlich die heimische Höhle von oben bis unten vollgestopft ist mit Büchern.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, warum Lesen uns glücklich macht, findet der Autor nicht, dafür liefert er ganz viele spannende und interessante Antwortansätze. Jeder Leser und jede Leserin definiert das eigene Leseglück anders, doch sicher ist, dass das richtige Buch zur richtigen Zeit etwas verändern oder anstoßen kann. Wer bin ich und wie soll ich mein Leben führen? Wie kann ein gutes Leben aussehen? Auf all diese Fragen lassen sich Antworten in Büchern finden. Bücher können glücklich machen, Bücher können aber auch eine neue Perspektive aufzeigen, Bücher können einen zu einem Neuanfang ermutigen, Kraft geben, einen Dinge über sich selbst und das eigene Leben lehren oder auch eine kleine Leseflucht sein.

Wer nun auf den Geschmack gekommen ist, der kann in ganz vielen unterschiedlichen Büchern weiterlesen, unter anderem in diesen dreien:

PicMonkey Collage 3

Virgina Woolf: Der gewöhnliche Leser  |  Gabriel Zaid: So viele Bücher  | Anna Quindlen: How Reading Changed My Life

Stefan Bollmann: Warum Lesen glücklich macht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 142 Seiten, €9,99.

Lesen als Medizin: Die wundersame Wirkung der Literatur – Andrea Gerk

Kann die Lektüre eines Buches Trost spenden, gar eine heilsame Wirkung haben? Genau dieser Frage widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Andrea Gerk. Entstanden ist dabei Lesen als Medizin, eine kluge und lesenswerte Liebeserklärung an die Kraft der Literatur.

Lesen als Medizin

Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven verändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.

Die wundersame Wirkung der Literatur lautet der Untertitel von Lesen als Medizin und genau darum geht es auch: welche Wirkung kann die Literatur auf uns haben? Können Bücher in schwierigen Zeiten Trost spenden? Kann Literatur heilen? Bei der Genesung helfen? Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es Orte, an denen Bücher eine besondere Rolle spielen? Wie sähe eine Welt aus, in der es keine Krankenhausbibliotheken mehr geben würde? Keine Gefängnisbibliotheken? Wird eigentlich auch im Kloster gelesen?

Lesen als Medizin ist, wenn man so will, ein wunderbarer Überblick über all das, was Bücher so einzigartig und unersetzbar macht. Andrea Gerk erzählt von der Bibliotherapie, die in Amerika bereits seit vielen Jahren als Heilverfahren anerkannt ist und auch in Großbritannien und Schweden praktiziert wird. In Deutschland hingegen klingt der Begriff in vielen Ohren immer noch leicht esoterisch angehaucht. Unter der Bibliotherapie versteht man eine besondere Form der Pyschotherapie, bei der die Patienten mithilfe sorgfältig ausgewählter Bücher dazu angeregt werden sollen, ihre Vergangenheit zu reflektieren. Es ist der Glaube daran, dass ein gutes Buch in der richtigen Situation weiterhelfen kann. Mittlerweile kann man auch in Deutschland die Ausbildung zum Bibliotherapeuten machen, doch im Grunde genommen sind auch gute Buchhändler und Bibliothekare bereits so etwas wie Bibliotherapeuten, denn sie empfehlen ihren Kunden die (hoffentlich) passenden Bücher. Ich fühle mich nach einem Einkauf im Buchladen oder einem guten Gespräch mit einem Buchhändler häufig nicht nur glücklicher, sondern manchmal auch besser oder gar geheilter.

Wörter entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Innersten berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.

Bibliotheken gibt es übrigens auch an ungewöhnlichen Orten, zum Beispiel im Gefängnis oder in Krankenhäusern. An beiden Orten kann das gedruckte Wort für Insassen und Patienten eine große Bedeutung haben. Es gibt sogar Länder, in denen es für jedes gelesene Buch einen Tag Hafterlass gibt. Andere Jugendrichter geben straffälligen Minderjährigen die Aufgabe, ein Buch zu lesen. In vielen Fällen mag das ohne Wirkung bleiben, für manche ist die Entdeckung der Literatur aber vielleicht auch ein Initiationserlebnis und der Beginn eines besseren Lebens. Auch in Krankenhäusern sind Bücher ein wichtiges Gut: in der Berliner Charité sind vor allen Dingen skandinavische Krimis beliebt, aber auch Charlotte Link. Der Bücherwagen rollt jeden Tag durch die Flure des Krankenhauses und beliefert Patienten mit neuer Lektüre. Andrea Gerk schreibt, dass Krankenhausbibliotheken um das finanzielle Überleben kämpfen, was unheimlich schade ist – die heilsame Wirkung der Literatur ist empirisch nicht nachzuweisen, aber ich glaube doch daran, dass wir mit einem guten Buch in der Hand vielleicht ein wenig schneller gesunden.

Die Erfahrung, dass Lektüre einen in regelrechte Wahnzustände versetzen kann, wird jeder leidenschaftliche Leser schon mal gemacht haben. Immer wieder entdecke ich Texte, die mich so bewegen, dass ich mich fassungslos frage, wie ich sie so lange übersehen konnte. Dann muss ich sofort all das Versäumte nachholen, gerate in einen regelrechten Leserausch, verschlinge ein Buch nach dem anderen, werte parallel dazu akribisch Rezensionen, Interviews und biographische Texte aus und spiele nach, was ich darin finde.

Dass Bücher nic51j51zfiajL._SY344_BO1,204,203,200_ht einfach nur zur Unterhaltung diesen, sondern auch eine medizinische oder gar therapeutische Funktion haben können, ist eine Sichtweise, die sich bereits im 16. Jahrhundert manifestiert hat: damals schrieb Michel de Montaigne seine berühmten Essais und setzte darin sein eigenes Leben und seine Gedanken immer wieder in Bezug zu Werken und Gedichten bekannter Schriftsteller. Während der beiden Weltkriege hat man später Soldaten in Lazaretten mit Büchern versorgt – die Literatur sollte vom Kriegsgeschehen ablenken und dabei helfen, traumatische Wunden zu heilen. In anderen Ländern ist die Bibliotherapie viel anerkannter und ausgereifter, es gibt beispielsweise eine Reading Agency und über Skype wird eine Leseberatung angeboten. In Deutschland gibt es immerhin schon eine Vereinigung von Bibliotherapeuten, wer weiß, ob sich das Angebot in den kommenden Jahren noch stärker durchsetzen wird.

Andrea Gerk schreibt jedoch nicht nur von der heilenden Kraft der Literatur, sondern auch von ihren Schattenseiten: Bücher können Ehen stiften, aber auch zerstören und sind darüberhinaus hochgradig suchtgefährdend. Buchbedingte Psychopathologien sind keine Seltenheit mehr: im Buch finden sie alle Erwähnung, von der Bibliomanie bis zum Biblioholiker. Auch wenn ich glaube, dass es deutlich schlimmere Süchte gibt, nehme ich mich an dieser Stelle nicht aus: es gibt kaum einen Buchladen, an dem ich vorbeikomme, ohne ein Buch zu kaufen (obwohl sich die ungelesen Bücher hier bereits in Stapeln stapeln, unter denen ich drohe begraben zu werden). Wenn ich in den Urlaub fahre, müssen so viele Bücher mit, dass ich den Koffer bald selbst nicht mehr tragen kann – geschweige denn alles lesen, was ich mir eingepackt habe. In solchen Momenten befürchte ich schon manchmal (zumindest ganz leicht) am Bücherwahn zu leiden. Doch könnte es einen schöneren Wahn geben?

Meiden Sie Buchhandlungen und Bibliotheken, solange Sie noch jung sind. Verschenken Sie Ihre Bücher, bevor Ihnen Ihre Sammlung über den Kopf wächst.

Lesen als Medizin ist eine kluge und spannend zu lesende Liebeserklärung an die Literatur. Andrea Gerk gelingt es, leicht verständlich und mitreißend von ihrem bibliophilen Fachwissen zu erzählen. Ihre eigene Begeisterung ist dabei deutlich zu spüren. Es muss erwähnt werden, dass Rogner & Bernhard das Buch wunderbar liebevoll aufgemacht haben. Besonders schön sind die handschriftlichen Bekenntnisse bekannter Schriftsteller, die Andrea Gerk gesammelt hat: da wird Gerhard Roth nach Büchern gefragt, die für ihn die zweite Welt sind und Hanns-Josef Ortheil nach Büchern, in denen er immer wieder gelesen hat. So wirft dieses Buch nicht nur einen Blick auf alle Aspekte unserer wunderbaren bibliophilen Leidenschaft, sondern ist auch noch eine ernste Gefahr für die Wunschliste.

Andrea Gerk legt eine wunderbare Liebeserklärung an die Literatur vor und ich habe das Buch mit dem heilsamen und wohligen Gefühl zugeklappt, mit dieser Leidenschaft zum Glück nicht allein zu sein.

Andrea Gerk: Lesen als Medizin. Rogner & Bernhard Verlag, 2015. 342 Seiten, €22,95. Eine weitere Besprechung findet sich auf dem Blog von Fräulein Julia. Und noch ein passender Buchtipp zur weiteren Lektüre: Die Romantherapie von Ella Berhoud. 

17589

Virtuelle Verlagsführung

Als kurz vor Weihnachten die Einladung zum Bloggertag beim Hanser Verlag hier eintrudelte, wusste ich sofort, dass ich dazu nicht würde nein sagen können. Bereits vor etwas mehr als einem halben Jahr war ich in dieser ganz besonderen Villa zu Gast und habe meinen Aufenthalt damals sehr genossen.

DSC_3825

Nicht nur ich habe mich dazu entschieden, die Reise nach München anzutreten, sondern noch zehn weitere Blogger und Bloggerinnen – wobei die Männer (natürlich) eindeutig in der Minderheit gewesen sind. Unser Besuch beim Hanser Verlag erstreckte sich über zwei Tage und wurde mit einem Abendessen in den Verlagsräumen eingeläutet. Wir haben am Donnerstagabend jedoch nicht nur gegessen, geschnackt und getrunken, sondern sind auch noch in den Genuss einer wunderbaren Lesung gekommen. Annika Reich hat aus ihrem neuen Roman Die Nächte auf ihrer Seite gelesen und hat mich dabei nicht nur wahnsinnig neugierig auf das Buch gemacht, sondern uns auch noch ziemlich viel aus dem Leben einer Schriftstellerin erzählt. Einer Schriftstellerin, die übrigens nicht nur schreibt, sondern auch bloggt: auf ihrer eigenen Homepage, aber auch für die FAZ.

Der nächste Tag bot dann ein proppenvolles Programm und die allesamt großartigen Verlagsmitarbeiter (mit Florian Kessler war sogar ein ganz neuer Verlagsmitarbeiter bereits vor Ort) haben uns dabei nicht nur neugierig auf das neue Frühjahrsprogramm gemacht, sondern auch spannende Einblicke in die Arbeitsabläufe in den Abteilungen Cover und Herstellung gegeben. Peter Hassiepen, der bei Hanser für die Covergestaltung zuständig ist, erzählte davon, dass es Cover gibt, bei denen er bis zu achtzehn Entwürfe vorlegen muss, bevor der Verlag zufrieden ist. Bei diesem Prozess geht es jedoch nicht nur um die Meinung des Verlags, sondern auch um die des Autors, der Marketingabteilung, der Buchhändler und der Vertreter. Wenn  ein Cover bei Vertretern durchfällt, dann muss sich Peter Hassiepen schnell etwas anderes überlegen …

PicMonkey Collage 1 PicMonkey Collage 2 PicMonkey Collage

Das große Highlight war für mich jedoch die Führung durch den Verlag – vieles kam mir zwar bereits bekannt vor, aber es war einfach erneut ein wunderbar erhabenes Gefühl, durch die Verlagsräume zu streifen: wahrlich ein Traum aus Büchern, Büchern, Büchern. Wenn dann alle Blogger zeitgleich ihre Kameras aufgrund meterhoher Bücherregale zückten, fühlte ich mich schon fast wie im Museum. Es war auch interessant zu sehen, dass sich – trotz voranschreitender Digitalisierung – auf dem Schreibtisch des Verlegers Jo Lendle immer noch ziemlich hohe Papierberge türmen.  Ich hoffe, mithilfe der Bilder kann ich euch zumindest ein ganz klein bisschen an meinen Eindrücken teilhaben lassen – sozusagen eine virtuelle Verlagsführung.

Als dieser aufregende und spannende Tag langsam zu Ende geht, wird mir noch einmal deutlich, dass sich in den vergangenen Monaten und Jahren nicht nur der Diskurs über Bücher verändert hat, sondern auch die Wahrnehmung unserer Literaturblogs. Wir wurden von unheimlich freundlichen, interessierten und aufgeschlossenen Verlagsmitarbeitern willkommen geheißen – ich habe das als eine wunderbare Wertschätzung empfunden. Hanser führt seit Jahren einen intensiven Austausch mit dem Feuilleton und den klassischen Journalisten, für den Austausch mit Bloggern dagegen gibt es erst wenige Erfahrungswerte – doch es ist deutlich geworden, dass der Verlag offen dafür ist, auch mit Bloggern zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. An einer Stelle wurden Blogs von Jo Lendle als neues Feld bezeichnet, bei dem unklar ist, wo die Entwicklung hingehen wird. Doch das Potential, das er bei Blogs sieht, ist die Tatsache, dass sie ganz andere Möglichkeiten haben, als das Feuilleton und diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten. Das glaube ich auch und bin selbst ganz gespannt, welche Entwicklung Literaturblogs in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren noch nehmen werden. Die schönsten Worte zum Abschluss dieses großartigen Tages hat wohl Christina Knecht gefunden, die uns den Satz “Keep on reading” mit auf den Weg gab und den Hinweis darauf, uns unsere Unabhängigkeit zu bewahren und uns auch nicht von einem lieben Hanser Verlag instrumentalisieren zu lassen.

Mitgebracht habe ich jedoch nicht nur ganz viele Fotos, sondern auch ein kleines Trostpflaster für all diejenigen, die nicht dabei gewesen sind: Hart auf Hart, den neuen Roman von T.C. Boyle. Ich verlose ein Exemplar des Buches unter all denjenigen, die diesen Beitrag bis zum 23.1.2015 kommentieren. Viel Glück!

Boyle

Wiederlesen im Herbst …

Ich freue mich immer wieder darüber, neue Autoren und Autorinnen zu entdecken, spannende und ungewöhnliche Debüts auszugraben und mich an neuen Stimmen zu erfreuen. Ich freue mich aber genauso darüber, auf bereits bekannte Stimmen zu stoßen und Autoren und Autorinnen, die ich in der Vergangenheit zu schätzen gelernt habe, wieder zu begegnen.

Bei lausigem Wetter und einer schönen Tasse Tee habe ich mich aufgemacht auf eine Reise in die Herbstvorschauen, um euch all jene Titel vorzustellen, die in mir beim Blättern ein Gefühl der Bekanntheit und des Wiedererkennens geweckt haben. Diese alten Bekannten erwarte ich mit Spannung und in der Hoffnung, dass mich die Autoren und Autorinnen erneut packen, begeistern, unterhalten oder berühren können – so, wie es ihnen schon zuvor gelungen ist. Was ich schon jetzt wage zu prophezeien ist die Aussicht, dass wir uns auf diesen literarischen Herbst freuen können …


 

Wiederlesen alter Bekannter

Collage

1. Rocko Schamoni, Fünf Löcher im Himmel (Piper Verlag) – 2. Marica Bodrožić, Mein weißer Frieden (Luchterhand Verlag) – 3. James Salter, Jäger (Berlin Verlag)

Collage 2

1. Ulla Hahn, Spiel der Zeit (DVA) – 2. Stephan Thome, Gegenspiel (Suhrkamp) – 3. Roberto Bolaño, Mörderische Huren (Hanser Verlag)

Collage 3

1. Bill Clegg, Neunzig Tage. Eine Rückkehr ins Leben (Fischer Verlag) – 2. Roman Ehrlich, Urwaldgäste (DuMont) – 3. Peter Stamm, Der Lauf der Dinge (Fischer Verlag)

Collage 4

1. John Burnside, Haus der Stummen (Knaus Verlag) – 2. Richard Powers, ORFEO (Fischer Verlag) – 3. Charles Lewinsky, Kastelau (Nagel & Kimche)

Collage 51. Monika Held, Trümmergöre (Eichborn) – 2. Dave Eggers, Der Circle (Kiepenheuer & Witsch) – 3. Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden (Kiepenheuer & Witsch)

 

Leben, Denken, Schauen – Siri Hustvedt

In Siri Hustvedts lesenswertem Essayband gibt es einen Essay, der den Titel “Ausflüge zu den Inseln der Wenigen” trägt, in dem die Autorin das Prinzip ihres eigenen Buches erklärt: sie spricht dort über unsere Kultur des Hyperfokus und Expertentums – jeder ist nur noch Experte auf seiner eigenen abgeschotteten Insel, ohne Blick für die Schönheiten rechts und links. Siri Hustvedt ist Literatin, Künstlerin, doch sie macht sich mutig auf, zu den Inseln der Kunsttheroie, der Neurowissenschaften, der Psychoanalyse. Es sind Reisen, die sie für immer verändert haben.

DSC_0642

“Große Bücher sind solche, die eindrücklich und lebensverändernd sind, solche, die dem Leser Kopf und Herz öffnen.”

Die Essays, die in “Leben, Denken, Schauen” versammelt sind, wurden über einen Zeitraum von sechs Jahren geschrieben und sie alle vereint, dass Siri Hustvedt in ihnen über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinausblickt. Sie legt keinen literatur- oder geisteswissenschaftlichen Essayband vor, sondern bedient sich vielerlei Theorien aus anderen Disziplinen. Fündig wird sie dabei vor allen Dingen in den Naturwissenschaften. Es verwundert nicht, dass sich die erfolgreiche Autorin auch lange vorstellen konnte, als Psychoanalytikerin zu arbeiten.

Die hier versammelten Essays sind nicht alle auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, neben dem klassischen Essay gibt es auch Beiträge für Fachzeitschriften oder auch Mitschriften von Vorträgen. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte in gemeinschaftlicher Arbeit von Uli Aumüller und Erica Fischer.

“Beim nochmaligen Lesen der in diesem Band gesammelten Essays wurde mir klar, dass sie, obwohl sie eine ganze Reihe von Themen behandeln, durch die beständige Neugier, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, miteinander verbunden sind. Wie sehen, erinnern, fühlen wir, wie gehen wir mit anderen um? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort selbst gebrauchen?”

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Leben, Denken, Schauen. Unter dem Schlagwort Leben versammelt Siri Hustvedt die wohl persönlichsten Essays dieses Bandes. Vater und Mutter finden Erwähnung, genauso wie ihre skandinavische Herkunft und ihre Liebe für die dänische Schriftstellerin Inger Christensen. Denken ist die Überschrift für diejenigen Essays, in denen die Autorin sich mit theoretischen Rätseln und Fragen beschäftigt. Viele dieser Rätsel wurzeln in der Literatur. Es geht um die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Schreiben von Erinnerungsliteratur und dem romanhaften Erzählen. Es geht um die Sprache in der Politik, eine Sprache, die ein Klima der Angst erzeugen kann – etwas, das vor allem George Bush beherrscht hat. Klug und besonnen zeigt Siri Hustvedt auf, wie dieser durch ständige Wiederholungen, ein Wort wie Freiheit entwertet und ausgehöhlt hat. Es geht aber auch um die Frage nach Phantasie und Imagination und um die Psychoanalyse. In vielen Essays vermischen sich die Theorien – warum auch nicht, warum sollte man nicht die neurowissenschaftliche Forschung heranziehen, um eine literarische Frage zu beantworten?

“Meine Essays sind eine Form von geistigen Reisen, von einem Zugehen auf Antworten, wobei ich mir intensiv dessen bewusst bin, dass ich nie ans Ende der Straße gelangen werde.”

Im letzten Abschnitt des Buches, der den Titel Schauen trägt, beschäftigt sich Siri Hustvedt mit Fragen der Bildenden Kunst. All diesen Fragen geht eine ursprüngliche Begeisterung für Kunst und Künstler voraus, Erwähnung finden Louise Bourgeois, Kiki Smith, Gerhard Richter, Annette Messager, Goya oder auch Richard Allen Morris. Kunst ist ein Bereich, der Siri Hustvedt seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt und den sie immer wieder auf neuen Wegen versucht zu entdecken und zu beschreiben.

“Jedes Buch ist für jemanden. Der Akt des Schreibens mag einsam sein, er ist aber immer eine Hinwendung zu einer anderen Person – einer Einzelperson -, da jedes Buch allein gelesen wird. Die Schriftstellerin weiß nicht, für wen sie schreibt. Das Gesicht des Lesers oder der Leserin ist unsichtbar, und doch stellt jeder zu Papier gebrachte Satz ein Angebot dar, Kontakt aufzunehmen, und eine Hoffnung darauf, verstanden zu werden. Die Essays in Leben, Denken, Schauen wurden in diesem Geist geschrieben. Sie wurden für Sie geschrieben.”

Allen Essays gemein ist der unbändige Entdeckergeist und Forscherwille von Siri Hustvedt. Hier schreibt keine von ihrem Alltag gelangweilte Literatin, die gerne mal ein bisschen in die Psychologie hinein schnuppern will. Hustvedt erschließt sich all die fremden Inseln mit unbändigem Wissensdurst, Fleiß und Ausdauer. Sie nimmt regelmäßig teil an monatlichen Vorträgen über Neurowisschenschaft und ist als einzige Künstlerin Mitglied einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Sie veröffentlicht in psychologischen Fachzeitschriften und leitet einen Schreibkurs an einer Psychiatrie. Dieses stete Interesse an der naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Leben liegt sicherlich auch in der eigenen Erkrankung Hustvedts begründet, die an schweren und häufig monatelangen Migräneschüben leidet.

“Das Lesen hat in unserer Kultur so nachgelassen, dass jetzt alles Lesen für ‘gut’ gehalten wird. Kinder werden ermahnt, überhaupt zu lesen, so als wären alle Bücher gleich, doch ein mit Binsenweisheiten und Klischees, mit formelhaften Geschichten und einfachen Antworten auf schlecht gestellte Fragen aufgeblähtes Gehirn ist kaum das, worum wir uns bemühen sollten.”

Auf die Frage danach, wer wir sind und wie wir so geworden sind, gibt es keine einfachen oder gar allgemeingültigen Antworten, doch Siri Hustvedt gelingt es, kleine Impulse zu geben, interessante Perspektiven aufzuzeigen und zu neuen Denkanstößen anzuregen. Ihre wichtigste Anregung ist sicherlich die, mal über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken – mit einem Blick, der offen sein sollte und immer darauf ausgerichtet, Neues zu entdecken.

Eine Feier der Literatur.

Peosa Blog

Vom 29. Mai bis zum 1. Juni fand in Hildesheim das Literaturfestival PROSANOVA statt. Veranstaltungsort war eine leerstehende Hauptschule, aus der im nächsten Jahr eine Grundschule werden soll. Sinnvoll genutzt wurde sie in der Zwischenzeit von Schreibschülern und Schreibschülerinnen der Universität Hildesheim, die in Eigenregie dieses (sicherlich) einzigartige Lesefestival auf die Beine gestellt haben. Organisatorische Hürden, in Form von Wartezeiten und längeren Schlangen, ließen sich dabei nicht vermeiden, konnten aber verschmerzt werden. Ausgerichtet wurde das Festival unter dem Motto Bekenntnisse, ein passendes Motto, denn die vier Tage kamen einem Bekenntnis zur Kraft und Schönheit der Literatur gleich.

An den vier Festivaltagen lasen über 100 Autoren. Die Veranstalter haben es sich dabei zum Ziel gesetzt, die Lesung, die häufig zu einem etwas eingestaubten sekundären Ereignis verkommt, durch experimentelle und ungewöhnliche Formateneu zu definieren. Zwei szenische Lesungen führten die Zuschauer in die Turnhalle, auch wenn sich der Sinn der Performance im Zusammenhang mit dem Text, nicht immer erschließen wollte.

turnhalle

Bei der wahnwitzigen Rotten Kinck Schow wurde das Publikum von Ann Cotten, Monika Rinck und Sabine Scho nicht nur mit Globolikügelchen bespuckt, sondern es flog auch Pizzabelag und das ein oder andere ging sogar kaputt. Sehenswert war auch der absurde und hochkomische Powerpointvortrag von Wolfram Lotz, der gekonnt über die somalische Piraterie referierte. Durch die experimentellen Formate zeigte auch der ein oder andere Literat mal ganz neue Seiten von sich. Von Clemens Meyer, bei dem man befürchten musste, er würde bis in den Morgengrauen monologisieren, erfuhr man, dass er einmal eine Maus in seinem Bett vorfand, leidenschaftlich gerne Roulette spielt und ein Fan von Chuck Norris ist. Sein Stallgespräch endete mit einem Aufruf zur Gewalt. Darüber hinaus gab es jedoch auch Debatten ernsthafterer Natur, zum Beispiel das sehr interessanter Kritikergespräch zwischen Florian Kessler, Ina Hartwig und Georg Diez.

PROSANOVA gehört für mich zu den Phänomenen, die man selbst erlebt haben muss. Zu den Phänomenen, die sich für Menschen, die nicht dabei gewesen sind, nur schwer beschreiben lassen. Als Literaturfestival lebt es natürlich vor allen Dingen von der Literatur, darüber hinaus hat es aber auch eine ganz besondere literarische Atmosphäre. Ich habe mich ein wenig gefühlt wie auf Klassenfahrt, überall traf ich auf Menschen, die eine ähnliche Begeisterung, Liebe, Obsession für Literatur haben, wie ich. Plötzlich habe ich mich nicht mehr wie ein seltsamer Literatur-Nerd gefühlt, sondern wie ein Teil eines Ganzen – aufgehoben, angekommen. Vielleicht war dieses Gefühl mein wahres PROSANOVA-Highlight, darüber hinaus haben mich aber auch die folgenden drei Veranstaltungen begeistert:

1. Vor dem Fest, Lesung und Gespräch mit Saša Stanišić und Jörn Dege

Die Lesung von Saša Stanišić war die Veranstaltung, die einer klassischen Lesung wohl am nächsten kam. Es war eine Mischung aus Lesung und Gespräch, bei dem man viel erfahren konnte über die Entstehungsgeschichte des Romans und die Recherchereise des Autors in die Uckermark. Souverän moderiert wurde das Gespräch von Jörn Dege. Wenn ich das Buch noch nicht besitzen würde, hätte ich es mir anschließend sofort gekauft.

Sasa

 2. Auf Inseln

Das Lesungsformat Auf Inseln lud dazu ein, acht Autoren und Autorinnen auf ihren jeweiligen Inseln, oder besser: Sofagruppen, zu entdecken. Die Lesungen wurden mit einem Gongschlag eingeläutet und wieder beendet. Dem Zuhörer blieb es überlassen, wen er besuchen wollte, wem er zuhören wollte, wie lange er auf einer Insel verweilen und wann er wieder weiterziehen wollte. Ein experimentelles Format, das für mein Empfinden jedoch wunderbar funktioniert hat.

Auf Inseln

3. #brandtlendlereich / Social Reading

socialreadingDas Prinzip der Veranstaltung mag auf den ersten Blick kompliziert klingen, es war jedoch denkbar einfach und unfassbar unterhaltsam: Jo Lendle, Jan Brandt und Annika Reich haben unveröffentlichte Texte von sich selbst online gestellt und gegenseitig korrigiert und kommentiert – ohne die Kommentare der anderen zu kennen. Die Texte und Kommentare wurden an diesem Abend vorgelesen, was mitunter hochkomisch war und für heitere Ausgelassenheit im Publikum sorgte. Abseits aller Humorigkeit deutet Social Reading, das Stichwort der Veranstaltung, aber auch darauf hin, dass das Schreiben vielleicht schon längst nicht mehr die Tätigkeit eines Eremiten ist, sondern langsam zu einer sozialen Gemeinschaftstätigkeit werden kann. Sinnbildlich stehen dafür Adler & Söhne, die auch in Hildesheim zu Gast waren: eine Bürogemeinschaft von Schriftstellern und Lektoren, die gemeinsam ein Büro mieten, um einen geregelten Arbeitsalltag zu simulieren.

Prosa c

Mein abschließendes Fazit für dieses viertägige Literaturfest, fällt beinahe uneingeschränkt begeistert aus. Natürlich gab es auch Veranstaltungen, die mich nicht erreicht haben und Lesungen, die sich mir nicht erschlossen haben. Alles in allem wird dies jedoch von den vielen schönen und interessanten Lesungen aufgewogen. Darüber hinaus  habe ich vier Tage lang eine wunderbare Atmosphäre und Stimmung aufgesaugt, die ich nun am liebsten um mich herum verteilen und weitergeben würde – vielleicht gelingt mir das ja ein wenig durch meinen Bericht.

%d bloggers like this: