Jonathan Safran Foer hat sich fast zehn Jahre Zeit genommen, bevor er mit Hier bin ich wieder die literarische Bühne betreten hat. Ich habe seinen neuen Roman lange herbeigesehnt und kann bereits jetzt verraten, dass ich nicht enttäuscht wurde: Hier bin ich ist ein großer Familienroman – unterhaltsam, berührend und sehr lehrreich.
Schweigen kann genauso unbändig sein wie Lachen. Und es kann sich anhäufen wie federleichte Schneeflocken. Es kann eine Decke zum Einsturz bringen.
Jonathan Safran Foer erzählt in Hier bin ich eine jüdische Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt und in Washington spielt. Im Zentrum stehen Jacob und Julia Bloch, er arbeitet als Schriftsteller, sie als Architektin. Beide sind seit 16 Jahren miteinander verheiratet und haben drei Söhne: Sam, Max und Benji. Die romantische Liebe wurde schon längst durch einen anstrengenden Alltag ersetzt. Die Erziehung der Kinder spaltet Jacob und Julia – während Jacob häufig ohne Nachzudenken seinen Söhnen alle Wünsche erfüllt, ist Julia diejenige, die das anschließende Chaos irgendwie wieder beseitigen muss. Gemeinsame Zeit ist bei ihnen rar gesät und wenn sie einmal einen Abend für sich haben, haben beide das Gefühl, als würden sie von einer unsichtbaren Wand voneinander getrennt werden. Der Alltag hat alle Leidenschaft aus ihrer Liebe herausgesaugt.
In Hier bin ich seziert Jonathan Safran Foer, wie sich die Liebe zwischen Alltag und Kindererziehung auflöst und schließlich verschwindet. Es geht darum, was man bereit ist aufzugeben, wie sehr man für seinen Partner da sein möchte und was man bereit ist zu verzeihen. Wie kann man ein Gespräch aufrechterhalten, wenn die gemeinsamen Tage daraus bestehen, zu klären welches Kind zum Sport und welches zur Theatergruppe gefahren werden muss? Wie findet man immer noch Worte füreinander, wenn die Kinder irgendwann das einzige Gesprächsthema sind? Der langsame Zerfall einer Ehe, die im Alltag erstickt, wird von Jonathan Safran Foer auf beeindruckende Art und Weise geschildert.
Sein Dad war besessen von behauptetem Optimismus, imaginärer Anhäufung von Besitz und Scherzen; seine Mom von Körperkontakt vor Abschieden, von Fischöl und Mänteln und “das Richtige tun”. Max war besessen von extremer Empathie und Entfremdung; Benjy von Metaphysik und physischer Geborgenheit. Und er, Sam, hatte immer Sehnsucht. Wodurch zeichnete sich dieses Gefühl aus? Durch Einsamkeit (seine und die anderer), durch Schuld (seine und die anderer), durch Scham (seine und die anderer), durch Angst (seine und die anderer). Aber auch durch sturen Glauben und sture Würde und sture Freude. Und trotzdem bestand das Gefühl weder aus einem dieser Aspekte noch aus allen zusammen. Es war das Gefühl, jüdisch zu sein. Aber was für ein Gefühl war das?
Parallel zur Ehe von Jacob und Julia bricht auch das Land zusammen, aus dem ihre Vorfahren stammen: ein Erdbeben der Stärke 7,6 erschüttert die israelische Siedlung Kalya und stürzt das Land in ein tiefes Chaos und einen verheerenden Krieg. Jacob feiert mit seiner Familie zwar immer noch die jüdischen Feiertage, doch ansonsten hat er sich nicht vieles aus seinem Heimatland bewahren können. Im Sommerurlaub reist er lieber nach Deutschland als nach Israel. Doch ist Amerika wirklich seine Heimat? Was bedeutet überhaupt Heimat? Und was ist Zugehörigkeit? Was sind die wichtigsten Bestandteile, aus denen sich eine Identität zusammensetzt?
Meine Probleme waren ein Witz. Ich hatte den größten Teil meines begrenzten Daseins damit verbracht, kleine Gedanken zu denken, kleine Gefühle zu hegen, mich in leere Zimmer zu schleichen. Wie viele Stunden hatte ich online verplempert, unzählige geistlose Videos geschaut, Listen von Häusern studiert, die ich niemals kaufen würde, eilige E-Mails von Leuten gecheckt, die mir nichts bedeuten? Wie viel von mir, wie viele Worte, Gefühle und Taten hatte ich gewaltsam unterdrückt?
Hier bin ich – der Titel des Romans – bezieht sich auf eine Bibelstelle: Abraham sagt Hier bin ich als er von Gott gerufen wird, er duckt sich nicht weg, versteckt sich nicht. Er ist ganz für Gott da, ohne Vorbehalte, Bedingungen, Einschränkungen oder Bedürfnisse. Hier bin ich – diese drei Worte sind das zentrale Thema des Romans, es geht um die Frage, für wen wir bedingungslos da sind. So bedingungslos, dass wir sagen würden Hier bin ich ohne zu fragen Was willst du? oder Was hast du angestellt? Wie lange ist man bereit Hier bin ich zu einem anderen Menschen zu sagen? Zu der eigenen Frau? Zu seinem Mann? Zu den eigenen Kindern? Beziehungen kosten Kraft und Arbeit, nicht jeder ist dazu in der Lage, dies zu investieren.
Das Leben ist kostbar, dachte Jacob, das ist der wichtigste und offensichtlichste Gedanke überhaupt und gleichzeitig entgleitet er einem am schnellsten. Mein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn ich auf diesen Gedanken gekommen wäre, bevor ich darauf gestoßen wurde.
Jonathan Safran Foer legt mit Hier bin ich keinen Schmöker vor, der sich mal eben auf dem Sofa weglesen lässt: die Lektüre kostet Zeit, Kraft, Durchhaltevermögen und Konzentration. Auf den ersten hundert Seiten habe ich gekämpft – Dialoge, Gedanken und Erzählungen wechseln sich rasant ab und ich habe gebraucht, bis ich in diesen Erzählfluss hineingefunden habe. Doch als ich die letzte Seite zugeklappt habe, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein Lebensbuch gelesen zu haben, aus dem ich viel Nachdenkenswertes mitgenommen habe und das mich noch lange begleiten wird.
Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Aus dem amerikanischen Englisch von Hennig Ahrens. Kiepenheuer & Witsch, November 2016. 699 Seiten, €26. Weitere Rezensionen auf: Schöne Seiten, Buchrevier und Leseschatz.