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rezension

Hier bin ich – Jonathan Safran Foer

Jonathan Safran Foer hat sich fast zehn Jahre Zeit genommen, bevor er mit Hier bin ich wieder die literarische Bühne betreten hat. Ich habe seinen neuen Roman lange herbeigesehnt und kann bereits jetzt verraten, dass ich nicht enttäuscht wurde: Hier bin ich ist ein großer Familienroman – unterhaltsam, berührend und sehr lehrreich.

Schweigen kann genauso unbändig sein wie Lachen. Und es kann sich anhäufen wie federleichte Schneeflocken. Es kann eine Decke zum Einsturz bringen.

Jonathan Safran Foer erzählt in Hier bin ich eine jüdische Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt und in Washington spielt. Im Zentrum stehen Jacob und Julia Bloch, er arbeitet als Schriftsteller, sie als Architektin. Beide sind seit 16 Jahren miteinander verheiratet und haben drei Söhne: Sam, Max und Benji. Die romantische Liebe wurde schon längst durch einen anstrengenden Alltag ersetzt. Die Erziehung der Kinder spaltet Jacob und Julia – während Jacob häufig ohne Nachzudenken seinen Söhnen alle Wünsche erfüllt, ist Julia diejenige, die das anschließende Chaos irgendwie wieder beseitigen muss. Gemeinsame Zeit ist bei ihnen rar gesät und wenn sie einmal einen Abend für sich haben, haben beide das Gefühl, als würden sie von einer unsichtbaren Wand voneinander getrennt werden. Der Alltag hat alle Leidenschaft aus ihrer Liebe herausgesaugt.

In Hier bin ich seziert Jonathan Safran Foer, wie sich die Liebe zwischen Alltag und Kindererziehung auflöst und schließlich verschwindet. Es geht darum, was man bereit ist aufzugeben, wie sehr man für seinen Partner da sein möchte und was man bereit ist zu verzeihen. Wie kann man ein Gespräch aufrechterhalten, wenn die gemeinsamen Tage daraus bestehen, zu klären welches Kind zum Sport und welches zur Theatergruppe gefahren werden muss? Wie findet man immer noch Worte füreinander, wenn die Kinder irgendwann das einzige Gesprächsthema sind? Der langsame Zerfall einer Ehe, die im Alltag erstickt, wird von Jonathan Safran Foer auf beeindruckende Art und Weise geschildert.

Sein Dad war besessen von behauptetem Optimismus, imaginärer Anhäufung von Besitz und Scherzen; seine Mom von Körperkontakt vor Abschieden, von Fischöl und Mänteln und “das Richtige tun”. Max war besessen von extremer Empathie und Entfremdung; Benjy von Metaphysik und physischer Geborgenheit. Und er, Sam, hatte immer Sehnsucht. Wodurch zeichnete sich dieses Gefühl aus? Durch Einsamkeit (seine und die anderer), durch Schuld (seine und die anderer), durch Scham (seine und die anderer), durch Angst (seine und die anderer). Aber auch durch sturen Glauben und sture Würde und sture Freude. Und trotzdem bestand das Gefühl weder aus einem dieser Aspekte noch aus allen zusammen. Es war das Gefühl, jüdisch zu sein. Aber was für ein Gefühl war das?

Parallel zur Ehe von Jacob und Julia bricht auch das Land zusammen, aus dem ihre Vorfahren stammen: ein Erdbeben der Stärke 7,6 erschüttert die israelische Siedlung Kalya und stürzt das Land in ein tiefes Chaos und einen verheerenden Krieg. Jacob feiert mit seiner Familie zwar immer noch die jüdischen Feiertage, doch ansonsten hat er sich nicht vieles aus seinem Heimatland bewahren können. Im Sommerurlaub reist er lieber nach Deutschland als nach Israel. Doch ist Amerika wirklich seine Heimat? Was bedeutet überhaupt Heimat? Und was ist Zugehörigkeit? Was sind die wichtigsten Bestandteile, aus denen sich eine Identität zusammensetzt?

Meine Probleme waren ein Witz. Ich hatte den größten Teil meines begrenzten Daseins damit verbracht, kleine Gedanken zu denken, kleine Gefühle zu hegen, mich in leere Zimmer zu schleichen. Wie viele Stunden hatte ich online verplempert, unzählige geistlose Videos geschaut, Listen von Häusern studiert, die ich niemals kaufen würde, eilige E-Mails von Leuten gecheckt, die mir nichts bedeuten? Wie viel von mir, wie viele Worte, Gefühle und Taten hatte ich gewaltsam unterdrückt?

Hier bin ich – der Titel des Romans – bezieht sich auf eine Bibelstelle: Abraham sagt Hier bin ich als er von Gott gerufen wird, er duckt sich nicht weg, versteckt sich nicht. Er ist ganz für Gott da, ohne Vorbehalte, Bedingungen, Einschränkungen oder Bedürfnisse. Hier bin ich – diese drei Worte sind das zentrale Thema des Romans, es geht um die Frage, für wen wir bedingungslos da sind. So bedingungslos, dass wir sagen würden Hier bin ich ohne zu fragen Was willst du? oder Was hast du angestellt? Wie lange ist man bereit Hier bin ich zu einem anderen Menschen zu sagen? Zu der eigenen Frau? Zu seinem Mann? Zu den eigenen Kindern? Beziehungen kosten Kraft und Arbeit, nicht jeder ist dazu in der Lage, dies zu investieren.

Das Leben ist kostbar, dachte Jacob, das ist der wichtigste und offensichtlichste Gedanke überhaupt und gleichzeitig entgleitet er einem am schnellsten. Mein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn ich auf diesen Gedanken gekommen wäre, bevor ich darauf gestoßen wurde.

Jonathan Safran Foer legt mit Hier bin ich keinen Schmöker vor, der sich mal eben auf dem Sofa weglesen lässt: die Lektüre kostet Zeit, Kraft, Durchhaltevermögen und Konzentration. Auf den ersten hundert Seiten habe ich gekämpft – Dialoge, Gedanken und Erzählungen wechseln sich rasant ab und ich habe gebraucht, bis ich in diesen Erzählfluss hineingefunden habe. Doch als ich die letzte Seite zugeklappt habe, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein Lebensbuch gelesen zu haben, aus dem ich viel Nachdenkenswertes mitgenommen habe und das mich noch lange begleiten wird.

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Aus dem amerikanischen Englisch von Hennig Ahrens. Kiepenheuer & Witsch, November 2016. 699 Seiten, €26. Weitere Rezensionen auf: Schöne Seiten, Buchrevier und Leseschatz.

Das Buch der Bücher für die Insel – Markus Gasser

Die Frage, welche Bücher man mit auf eine einsame Insel mitnehmen würde, gehört wohl zu den beliebtesten Fragen unter Bibliophilen, aber auch zu denjenigen, die kaum zu beantworten sind. Wie sollte man sich jemals entscheiden können, angesichts der Tatsache, dass es so viele gute Bücher gibt? Markus Gasser versucht in Das Buch der Bücher für die Insel eine Antwort auf die Frage zu finden und stellt in fünfzig Kapiteln potentielle Inselbücher vor. Das ist nicht nur höchst lesenswert, sondern auch eine große Gefahr für jeden Wunschzettel.

Bücher für die Insel

Solange in der Bibliothek noch Licht brennt, kann die Welt nicht verloren sein!

Dieser Satz steht auf der Rückseite des Buches und auch wenn ich eigentlich niemand bin, der bei Büchern wert auf das Äußere legt (zumindest nicht ausschließlich), muss ich doch gestehen, dass ich mir dieses Buch allein aufgrund der wunderbaren Gestaltung gekauft habe. Der Titel in Kombination mit dem großartigen Cover, den zwei roten Lesebändchen und diesem Satz auf dem Buchrücken hat mich einfach verzaubert. In diesem Fall stimmte jedoch nicht nur die äußere Gestaltung, auch der Inhalt hat mich dann begeistern können.

Kaum wendet sich ein Gespräch unter Literaturenthusiasten kurz vor der Sperrstunde der Frage zu, welche Bücher man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, herrscht gebannte Stille am Tisch; man gibt sich feurigem Grübeln hin. Dann wirft einer seine Liste der persönlichen Lieblingsgrößen in die Runde und schon fällt ein anderer ihm ins Wort: weshalb dieser Roman fehle, während es jene Erzählung auf Platz drei geschafft habe. Und eine endlose Debatte bricht los, als könnte die perfekte Liste die Weltgeschichte verändern.  

Das Buch der Bücher für die Insel ist in fünfzig kleine Kapitel unterteilt, in denen Bücher und Autoren vorgestellt werden. Die fünfzig Kapitel sind noch einmal in fünf übergeordnete Abschnitte gegliedert: Die Neuschöpfung des Universums, Helden, Wie leben die Anderen?, Die Abenteuer des Lesens und Die Archive der Finsternis. Im Grunde handelt es sich bei den fünfzig Kapiteln um fünfzig Rezensionen, um Skizzen, die den Autor, das Buch und sein Werk einordnen und dabei Lust auf die Lektüre und das Entdecken machen.

Erwähnung finden unter anderem Herman Melville, J.R.R. Tolkien, Emily Brontë, Jane Austen, Jonathan Franzen, Roald Dahl, Alice Munro und David Mitchell. Es wird bereits früh im Buch deutlich, dass es Markus Gasser nicht darum geht, eine objektive Liste der größten Bücher zusammenzustellen. Es geht ihm viel mehr darum dazulegen, welche Bücher ihm etwas bedeuten, was ihn manche Bücher gelehrt haben und welche Kraft das Lesen von Literatur haben kann. Das ist nicht nur klug und charmant, sondern auch immer wieder unterhaltsam und vor allen Dingen höchst lesenswert. Auch ich – als passionierte Leserin – finde mich in vielen seiner Gedankengängen wieder, entdecke Autoren und Bücher wieder, die ich auch gerne gelesen habe und werde neugierig auf Bücher, die ich bisher noch nicht zur Hand genommen habe. Deshalb darf ich mir an dieser Stelle auch nicht die Warnung verkneifen, dass dieses Buch wahrlich eine Gefahr für jeden Wunschzettel darstellt.

Es nimmt die Frage nach der Bibliothek für die einsame Insel spielerisch ernst und begibt sich mit seinen Lesern auf eine Weltreise durch die Kontinente der Literatur. In fünfzig Kapiteln macht es Romane und Erzählungen und deren Autoren lebendig und beschwört die Atmosphäre ihrer Zeit herauf.

Das Buch der Bücher für die Insel lässt sich wie ein ganz normales Buch lesen – von vorne nach hinten. Es lässt sich aber auch querfeldein entdecken, man kann immer wieder durchblättern, sich nur bestimmte Kapitel vornehmen oder es auf dem Nachttisch liegen lassen, um es in passenden Momenten immer wieder in die Hand zu nehmen. Es geht Markus Gasser jedoch nicht nur darum, die Bücher vorzustellen, die ihm viel bedeuten, sondern er versucht auch Antworten auf grundsätzlichere Fragen zu finden: warum lesen wir eigentlich? Welche Bücher würden wir auch ein drittes Mal zur Hand nehmen? Warum machen uns manche Bücher neugierig und andere nicht? Markus Gasser gelingt es nicht nur Koffer mit Büchern zu bepacken, mit denen man am liebsten sofort auf eine Insel reisen möchte, sondern er schafft es auch, einen zum Nachdenken anzuregen: warum bedeuten mir bestimmte Bücher besonders viel? Welche Bücher würde ich nochmals lesen? Und welche in einen Urlaubskoffer packen? Das Buch der Bücher für die Insel ist also nicht nur Leseratgeber und Packanleitung, sondern lädt auch zur eigenen Auseinandersetzung mit Literatur ein. Verzeihen muss man dem Autor lediglich, dass er manchmal doch etwas prätentiös und bemüht originell daherkommt.

Die Themen, denen es folgt, sind zugleich eins mit den Gründen, warum wir lesen und warum Bücher unverzichtbar sind: weil sie unser Universum neu erschaffen; weil wir in ihnen die Unbeugsamkeit wie die Schwächen großer und kleiner Heldinnen und Helden bewundern; weil wir uns schwelgerisch unbefangen in Abenteuern und fremden Welten verlieren; und weil Bücher die Träume und Alpträume unserer Geschichte wie Archibe erzählend bewahren. 

Markus Gasser ist es gelungen, eine ungewöhnliche Bibliothek zusammenzustellen, mit der man problemlos die Reise auf eine einsame Insel antreten könnte. Das Buch der Bücher für die Insel lädt zu Entdeckungsreisen ein und eignet sich nicht nur zum Selberlesen, sondern auch zum Verschenken. Eine schöne Empfehlung, besonders für die Ferien und die sommerliche Jahreszeit.

Für den Herbst ist übrigens schon das nächste Buch angekündigt, das ebenfalls sehr reizvoll klingt: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen.

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Markus Gasser: Das Buch der Bücher für die Insel. Carl Hanser Verlag, München 2014. 384 Seiten, €21,90.

Markus Gasser: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen. Carl Hanser Verlag, München 2015. 304 Seiten, €21,90.

Eine Nacht und alles – Katrin Seddig

Katrin Seddig erzählt schonungslos und doch mit großer Zärtlichkeit von der Liebe und dem Glück, von Neuanfängen und der Angst davor im Alten und Bekannten zu ersticken. Ein Roman, der keine große Geschichte erzählt, aber dafür eine, die wie aus dem Leben gegriffen scheint. Eine Geschichte, die jedem von uns passieren könnte.

Seddig

Irene sieht ihn, auch wenn die Tür geschlossen ist. Sie sieht Per immer, er hat sich bildlich in ihr verewigt, sie sieht ihn, wenn er gar nicht da ist. Das ist Partnerschaft. Inwendig und auswendig.

Die Ehe ist ein Thema, das Katrin Seddig zu verfolgen scheint. Schon in ihrem letzten Roman, der den passenden Titel Eheroman trug, beschäftigte sie sich eingehend mit der Ehe: vom schönen Beginn bis hinein in die dunkelsten Momente. Auch in Eine Nacht und alles geht es um eine Ehe, um die von Irene und Per. Beide sind Mitte vierzig und seit vielen Jahren miteinander verheiratet. Die gemeinsame Tochter ist fast erwachsen und schon ausgezogen – statt weiter bei den Eltern zu leben, bricht sie die Schule ab und schließt sich einer alternativen Kommune an. Trotzdem scheinen Irene und Per glücklich miteinander zu sein; sie ist Studienberaterin an der Universität und er ein schwedischstämmiger Gymnasiallehrer. Doch als Irene eines Abends mit zwei Freundinnen ausgeht, lernt sie einen Mann kennen, mit dem sie die Nacht zusammen verbringt. Plötzlich ist alles anders. Eine Nacht und alles ist anders. Eine Nacht und nichts ist mehr so, wie es sich zuvor angefühlt hat.

Sie sollte längst zu Hause sein. Früh ist schon zu spät. Sie braucht ein Taxi. Aber sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht die Straße, sie weiß nicht den Namen unten am Klingelschild, sie weiß nicht einmal den Stadtteil. Aber vor allem muss es schnell gehen, denn es ist schon spät, zu spät, es ist viel zu spät, wie konnte sie nur einschlafen? Sie steigt in ihr zerknittertes Kleid, das vor dem Bett liegt wie eine alte abgestreifte Haut, nach ihrem Parfüm duftend, nach Rauch und nach Küssen.

Das, was zuvor beständig gewesen ist, fühlt sich plötzlich langweilig und erdrückend an. Irene stellt von einer Nacht auf die andere alles in Frage: ihre Beziehung zu Per und das gemeinsame Leben, aber auch ihre Rolle als Mutter. Hat sie versagt, wenn die noch nicht volljährige Tochter mit einem Jesusjünger abhaut? Ist sie überhaupt noch glücklich mit Per? Ist er ihr nicht eigentlich zu dick und unbeholfen? Wo ist die Leidenschaft und wo ist die Liebe geblieben?Ist etwa die ruhige Beständigkeit die wahre Form der Liebe? Und was ist mit ein wenig Abenteuer und Aufregung? Ist das Leben mit vierzig schon vorbei, oder kommt da noch etwas? Eigentlich könnte Irene zufrieden sein, mit dem was sie hat, doch plötzlich spürt sie einen nagenden Mangel.

Es ist ein Mangel, der möglicherweise schon immer dagewesen ist, den sie jedoch nie zugelassen hat. Irene wirkt wie eine Getriebene. Statt sich mit der zerbrechenden Beziehung zu ihrer Tochter auseinanderzusetzen, nimmt sie Yasemine auf. Ein junges Mädchen, das sie auf einem Rastplatz kennen lernt und das für einen kurzen Moment zu einer Art Ersatztochter wird, die bemuttert werden muss. Statt an der Beziehung mit Per zu arbeiten, flüchtet sie sich in ein neues Abenteuer mit fragwürdigem Haltbarkeitsdatum. Da wünschte ich mir dann doch schon ein paar Mal fast die Buchseiten betreten zu können, um Irene sanft zu schütteln.

Eine Welt, in der es schwierig ist festzustellen, was das Richtige ist, weil es so viele Aspekte des Richtigen gibt, dass es eigentlich das Richtige nicht mehr gibt. Vielleicht hat es nie eine andere Welt gegeben.

Irene passiert das, vor dem viele Angst haben. Ihr passiert aber auch das, was sich höchstwahrscheinlich einige wünschen. Sie bricht aus einer Beziehung aus, die sich schon lange gleichförmig und mittelmäßig anfühlt, um sich einem neuen Mann in die Arme zu werfen, der ihr all das verspricht, was ihr in ihrem biederen Leben fehlt. Katrin Seddig gelingt es, diesen doch einfachen Plot mit großer Erzählkunst zu erzählen. Lakonisch und frei von Pathos erzählt die Autorin von einer zerbrechenden Ehe, vom Verschwinden der Liebe und vom Leben in der Mittelmäßigkeit.

Sie ist willig. Sie denkt, dass sie willig ist und Hilfe braucht, wegen ihrer Einsamkeit und all den Dingen, die schiefgelaufen sind. Wegen Esther, wegen Yasemine, vielleicht sogar wegen Markus, von ganz ferne her, von damals her, sie braucht etwas, das alles andere überdeckt und die kleinen Mulden füllt und die großen Gräben überbrückt.

Das, was mich an diesem Buch jedoch am meisten beeindruckt hat, ist die Sprache gewesen. Katrin Seddig reiht wunderbare Wörter wie auf einer Kette aufeinander und ich wünschte mir beim Lesen, dass ich mir den einen oder anderen Satz um den Hals hängen könnte. Irgendwie sind mir alle ein bisschen ans Herz gewachsen: Irene, Per, Yasemine, die ausgebüxte Tochter. Was bleibt am Ende? Vielleicht die Erkenntnisse, dass uns ein anderer nicht glücklich machen kann, sondern dass wir alle selbst für unser Glück verantwortlich sind. Aus diesem Grund kann ich euch nur empfehlen, in die nächste Buchhandlung zu gehen, dieses Buch zu kaufen und es sofort zu lesen. Es wird euch glücklich machen.

Ein Jahr auf dem Land – Anna Quindlen

Wenn man sich das Cover und den Klappentext anschaut, beschleicht einen das Gefühl, vielleicht zu etwas seichter Lektüre gegriffen zu haben. Doch der Roman lässt sich zwar flott lesen, verliert dabei aber nie den literarischen Anspruch und bietet nebenbei auch einigen Stoff zum Nachdenken. Für mich ist Ein Jahr auf dem Land das perfekte Sommerbuch.

Quindlen

Es gab Nächte, da erwachte sie mit einem Stacheldrahtzaun aus leichtem, aber unverkennbarem Schmerz rund ums Herz.

In Amerika ist Ein Jahr auf dem Land unter dem Titel Still life with bread crumbs erschienen und hat bei Kritik und Publikum gleichermaßen für Furore gesorgt – eine viertel Million Mal wurde das Buch verkauft. Ein Blick auf den Klappentext verrät, dass es um Rebecca Winter geht, einer in die Jahre gekommenen Frau, die plötzlich und gezwungenermaßen vor einem Wendepunkt im Leben steht. Von ihrem Mann hat sie sich scheiden lassen, ihr erwachsener Sohn lebt sein eigenes Leben und ihre großen Erfolge als Künstlerin liegen schon lange hinter ihr. Die Tantiemen werden immer geringer und das Ersparte rinnt ihr durch die Finger. Ihr Apartment in New York kann sie irgendwann nicht mehr finanzieren, aber trennen möchte sie sich noch nicht von diesem Leben, das einen so wichtigen Teil ihrer Identität ausmacht. Stattdessen vermietet sie ihre Wohnung unter und zieht in ein leicht ramponiertes und vor allen Dingen günstiges Häuschen fernab der Stadt. Was als unfreiwillige Auszeit vom wirklichen Leben beginnt, nimmt plötzlich eine Entwicklung, die sich Rebecca Winter vorher nie hätte erträumen können. Sie verlässt die alten, ausgetretenen Pfade und findet den Mut, neue Wege zu gehen. Auf diesen Wegen begegnet ihr nicht nur eine neue Liebe, sondern auch längst verloren geglaubte Inspiration.

Kein halbes Jahr später war Rebecca Winter zur feministischen Ikone avanciert, ihre Küchentisch-Serie wurde von Kunstkritikern und Essayisten gleichermaßen als Überhöhung und Verurteilung des weiblichen Lebens und des weiblichen Tätigkeitsfelds gefeiert.

Als Rebecca Winter aus ihrem alten Leben aussteigen muss, ist sie beinahe sechzig Jahre alt. Ihren größten künstlerischen Erfolg hat sie als junge Frau gefeiert: Stillleben mit Brotkrümeln sorgte für ihren Durchbruch. Darüber war sie selbst am meisten überrascht: ihr Mann war ein Bilderbuchmacho, der seine Frau nach durchfeierten Nächten gerne mit dem Geschirr in der Küche allein zurückgelassen hat. Einen solchen Geschirrstapel hat Rebecca – völlig erschöpft und nach einer durchfeierten Nacht – in der Küche fotografiert. Es war ein spontaner Schnappschuss, auch wenn ihr das niemand glauben möchte. Ein Schnappschuss frei von jeglicher Inszenierung. Sie wird mit dem Foto berühmt, auch wenn sich ihre Kritiker um die tiefere Bedeutung der Komposition streiten: ist die Aufnahme als feministisches Statement zu interpretieren oder doch eher als flämische Komposition?

Sie wollten auch alle nicht glauben, dass sie einfach nur fotografiert hatte, was sie vorfand: eine leere Flasche, die auf der Seite lag und an deren geschwungenen Rand noch ein Tropfen Olivenöl schimmerte, eine Handvoll öliger Gabeln, die im Schein der Deckenlampe gänzten, und natürlich, das Bild, das später Stillleben mit Brotkrümeln heißen sollte, eine entfernt flämisch anmutende Komposition aus benutzten Weingläsern, gestapelten Tellern, den abgerissenen Resten zweier Baguettestangen und einem Küchentuch, dessen eine Ecke von der Flamme des Gasherds ein wenig angesengt war. 

Unsere heutigen Lebensstrukturen – es passiert immer seltener, dass man jahrelang denselben Beruf ausübt und auch Scheidungen und Trennungen nehmen zu – bedingen es, dass man gezwungen ist, sich immer wieder neu zu erfinden. Auch Rebecca Winter gerät in diese (finanziell bedingte) Zwangslage, aus der heraus sie in ein neues Leben starten muss. Plötzlich ist sie für ihr Leben ganz allein verantwortlich, nichts wird ihr mehr abgenommen und in dem baufälligen Häuschen ist so einiges zu tun. Doch es gelingt ihr, die neuen Umstände nicht nur anzunehmen, sondern in etwas Positives umzuwandeln: sie fängt plötzlich wieder an zu arbeiten, trifft einen Mann, den sie anziehend findet und legt sich einen zotteligen Vierbeiner zu. Stück für Stick richtet sie sich in diesem unbekannten Leben ein und wandelt ein bitteres Ende in einen verheißungsvollen Neuanfang um.

Wie sollte es weitergehen? Wie und wo sollte sie leben? Womit ihr Geld verdienen? Sie wusste, jeder vernünftige Mensch würde ihr raten, sich zu verkleinern, abzuspecken, die Wohnung zu verkaufen, doch so etwas konnte man nur sagen, wenn man die Wohnung als Immobilie betrachtete und nicht als Zuhause. Wie wollte ihr Zuhause nicht verkaufen. Für sie war es die letzte Verbindung zu dem Ich, das sie einmal gewesen war.

Anna Quindlen erzählt in Ein Jahr auf dem Land die Geschichte eines Neuanfangs, sie erzählt von einer Selbstfindungsreise, von einer Befreiungsgeschichte. Und sie erzählt eine Liebesgeschichte, natürlich mit Happy End. Das hört sich möglicherweise alles kitschig an und vielleicht ist es das sogar – ein ganz klein wenig – und dennoch ist dieses Buch mehr als eine leichte und unterhaltsame Lektüre. Es ist ein Buch, das einen nachdenken lässt über die Ausrichtung des eigenen Lebens und es ist ein Buch, das die Angst davor nimmt, dass Dinge manchmal auch zu Ende gehen können. Das, was danach kommt, ist vielleicht sowieso viel besser, viel erfüllter, viel mehr das, was man sich immer gewünscht hat. Anna Quindlen macht Lust auf Neuanfänge und macht Mut, sich zu trauen und auch mal etwas zu wagen. Es mag kitschig klingen, doch eigentlich kann man nur gewinnen, wenn man sich traut, ausgetretene Pfade auch mal zu verlassen.

Ein Jahr auf dem Land ist leicht, unterhaltsam, flott zu lesen und zwischendrin auch noch recht witzig – es ist gleichsam aber auch eine berührende und mutmachende Lektüre, die nie den literarischen Anspruch verliert. Für mich sind das die idealen Bestandteile eines wunderbaren Sommerbuchs.

Anna Quindlen: Ein Jahr auf dem Land. Aus dem Englischen von Tanja Handels. DVA Verlag, München 2015. 320 Seiten, €19,99. Wer mal reinlesen möchte, kann sich hier eine Leseprobe runterladen.

Quindlen Verlosung

Wer jetzt neugierig geworden ist, der hat die Chance, ein Exemplar vom Ein Jahr auf dem Land zu gewinnen. Hinterlasst mir einfach bis zum 3.7. um 24 Uhr einen Kommentar oder schreibt mir eine E-Mail an mara.giese@buzzaldrins.de.

Viel Glück!

Die Nächte auf ihrer Seite – Annika Reich

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen klugen Roman vor, der uns vom Tahrir-Platz in Ägypten bis in einen Berliner Hinterhof führt. Der Roman ist einerseits getragen von Leichtigkeit, bohrt sich aber andererseits auch tief ins Hirn beim Lesen.

Annika Reich

Sie gehen in einem Abstand nebeneinander her, der sich weder verringert noch vergrößert. Bestriche man ihre Fußsohlen mit Farbe, wären zwei parallele Linien sichtbar.

Die Nächte auf ihrer Seite vereint zwei Erzählebenen: da gibt es Ada, die als Kamerafrau arbeitet und alleinerziehende Mutter ist. Sie lebt getrennt von ihrem Mann Farid, der einen Feinkostenladen betreibt. Ihrer Tochter Fanny wird sie nicht gerecht – zumindest überkommt sie immer wieder das Gefühl, keine gute Mutter zu sein. Sie hadert damit, dass sie eine Mutter mit Unterbrechungen ist. Bei ihrem aktuellen Projekt arbeitet sie mit dem experimentellen Regisseur Olaf zusammen. Gemeinsam besuchen sie ihre Familien und filmen den Alltag der eigenen Eltern. Ein seltsames Vorhaben, das an Schlingensief erinnert und ziemlich avantgardistisch klingt. Ada lebt ein Leben, in dem sie nie wirklich angekommen ist. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie Tätigkeiten nachgehen, die sie eigentlich nie machen wollte. Sie hat Affären und Liebhaber, doch all das ist mit so viel Heimlichkeit belegt, dass keiner ihrer Männer zu einem wirklichen Bestandteil ihres Lebens werden kann. Auf Farids wechselnde Freundinnen ist sie immer noch fürchterlich eifersüchtig. Als er ihr gesteht, dass er wieder Vater wird, kauft sie sich erst einmal einen Schnaps. Statt Leidenschaft herrscht bei Ada eine gewisse Starre und Trägheit, als würde sie sich im Wartemodus befinden, während sie anderen hinter ihrer Kamera beim Leben zuschaut.

Es war nicht leicht, eine Mutter mit Unterbrechungen zu sein. Farid war mit seiner Rolle als Vater verschmolzen, aber sie nicht, bei ihr dauerte es immer eine Weile, bis sie wieder in ihre Rolle fand. Manchmal wunderte sie sich sogar, überhaupt eine Mutter zu sein.

Die zweite Erzählebene zeigt Sira, die sich hinaus wagt in die Welt: im Januar 2011 besucht sie ihre Familie in Kairo. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, doch ihre Eltern kommen aus Ägypten. Während sie sich zunächst noch fremd und wie eine Touristin fühlt, überrollen sie die Ereignisse rund um die Revolution auf dem Tharir-Platz. Gemeinsam mit ihrer Cousine ist sie mitten drin im Getümmel und ist plötzlich bereit, für eine nationale Identität zu sterben, die sie in Deutschland mühevoll abgelegt hatte, um nicht mehr als Ausländerin aufzufallen. Die Revolution verändert Sira, die Gefühle prägen sie und während sie sich zuvor immer in Ägypten fremd gefühlt hat, fühlt sie sich plötzlich nicht mehr in Kreuzberg zu Hause. Wie kann man dort dem alltäglichen Leben nachgehen, wenn man erlebt hat, was sie erlebt hat? Wo gehört sie eigentlich hin? Wo ist sie zu Hause?

Sie liefen durch die schwere, lackierte Tür des Vorderhauses, querten in unterschiedlichen Gangarten den Hof, verschwanden im Hinterhaus und kehrten eine Stunde später wieder zurück – immer im Kreis von morgens bis abends. Ein Reigen aus Tripplerinnen und Trottern, und alle heulten sie den Mond an. 

Neben diesen beiden Erzählsträngen gibt es noch zwei weitere Handlungsebenen: zum einen flicht Annika Reich die Tagebucheinträge von Fanny in die Erzählung mit ein. Das Mädchen wünscht sich, sie könnte die Trennung der Eltern rückgängig machen, ungeschehen. Ein geteiltes Leben zwischen Vater und Mutter ist nicht immer einfach. Zum anderen betätigt sich Ada als Beobachterin und filmt mit ihrer Kamera Menschen, die auf dem Weg zu einem Paartherapeuten durch ihren Innenhof laufen. Annika Reich hält in kurzen Miniaturen die Tripplerinnen und Trotter fest, die mit ganz unterschiedlichen Ängsten und Hoffnungen tagtäglich den Hinterhof durchqueren. Im Roman werden diese kurzen Miniaturen als Reigen betitelt – in Anlehnung an Schnitzler.

Den Mauerfall hatten sie vor dem Fernseher erlebt. Ihre Mutter und sie hatten geweint, wie sie bei allen Filmen weinten, die sich plötzlich doch noch zum Guten wendeten. Und ihr Vater hatte von einem historischen Moment gesprochen, den sie niemals vergessen würden. Doch kaum waren ein paar Wochen vergangen, hatten sie ihn schon so gut wie vergessen. Zum Tag der deutschen Einheit waren sie dann in den Zirkus gegangen. Einen solch historischen Tag müsse man feiern, hatte ihr Vater gesagt. Geändert hatte sich nichts für sie. Vielleicht kam sie sich deswegen Menschen wie Regina und ihrer Familie gegenüber immer so naiv vor, weil die eine Geschichte hatten und sie nur ein Leben.

Die Nächte auf ihrer Seite setzt sich aus vielen Versatzstücken zusammen, die ein stimmiges Ganzes ergeben. Im Mittelpunkt stehen Ada und Sira, die beide verzweifelt ihren Platz im Leben suchen. Ein zentrales Element ist auch die Liebe, es ist sicherlich kein Zufall, dass Ada Menschen filmt, die eine Eheberatung aufsuchen – ist ihre eigene Ehe doch gescheitert. Während Sira eine neue Identität in den Wirren der Revolution findet, fühlt sich Ada seltsam abgeschnitten vom Weltgeschehen. Sie gehört nirgendwo so richtig dazu, nicht einmal die Wende hat sie wirklich miterlebt. Annika Reich erzählt das alles mit einer ungeheuren Leichtigkeit, die doch irgendwann beginnt schwer zu werden. Ada und Sira wirken so festgefahren und still gefroren: ich hätte mir manchmal gewünscht, den Roman betreten zu können, um die Figuren an die Hand zu nehmen oder sie zu schütteln. Es geht nicht allein um die Frage, wie man leben und lieben kann, es geht dann doch irgendwie um so viel mehr: um die eigene Geschichte, die eigene Identität, die Verbindung zu den Eltern und wie man in all diesem Gewirr heutzutage noch einen Platz finden kann, an dem man sich zu Hause fühlt. Am besten gefallen hat mir aus diesem Grund auch das etwas seltsame Filmprojekt, in dessen Rahmen Annika Reichs Figuren ihre Eltern besuchen – dabei entstehen bedrückende und eindrückliche Szenen, die mir noch lange im Gedächtnis geblieben sind.

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen lesenswerten und poetischen Roman vor, dem es gelingt Inhalt und Form auf eine spielerische Art und Weise zu verbinden.

Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite. Roman. Hanser Verlag, München 2015. 224 Seiten, €18,90. Weitere Rezensionen gibt es hier: im Bücherwurmloch, bei der Bibliophilin und auf Literaturen.

Verlosung Annika ReichWer jetzt neugierig geworden ist, der hat die Chance, ein Exemplar vom Die Nächte auf ihrer Seite zu gewinnen. Hinterlasst mir einfach bis zum 15.6. um 24 Uhr einen Kommentar oder schreibt mir eine E-Mail an mara.giese@buzzaldrins.de. Viel Glück!

Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke – Karen Joy Fowler

Karen Joy Fowler legt mit Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke nicht nur einen lesenswerten Familienroman vor, sondern auch einen höchst ungewöhnlichen. Die Geschichte ist ein klein wenig wundersam, großartig erzählt und sehr berührend. So viel kann ich schon einmal verraten.

Karen joy fowler

Jede Lebensgeschichte kennt drei Arten von Personen: diejenigen, die bei uns bleiben. Andere, die uns irgendwann verlassen. Und dann noch die, die uns gegen ihren Willen entrissen werden. 

Sehr viel mehr verraten, darf ich aber leider nicht und das ist auch das große Dilemma für mich als Rezensentin: im Mittelpunkt der Geschichte von Karen Joy Fowler steht nämlich ein Geheimnis. Es handelt sich um eine Enthüllung, die einen Großteil des Lesevergnügens ausmacht. Wenn ich über meine Begeisterung sprechen möchte, müsste ich gleichzeitig auch über diese Enthüllung sprechen. Und wie schade wäre es, allen anderen diesen Moment der Erkenntnis zu nehmen, der mich mit Schmackes getroffen hat, als ich das Buch gelesen habe. Natürlich kann man das Buch auch immer noch lesen, selbst wenn man von diesem Kniff im Vorfeld erfährt, doch ich möchte lieber nicht zu viel verraten. Deshalb kann ich euch auch nur einen Rat geben: um dieses Buch so zu erleben, wie es die Autorin beabsichtigt hat, sollte man es tunlichst vermeiden, Rezensionen, Klappentexte oder etwaige andere Informationen vorab zu lesen.

Keine Besprechung zuvor ist mir so schwer gefallen, wie diese: manchmal gefallen mir Bücher nicht, manchmal lese ich sie zwar gerne, weiß aber später nicht wirklich etwas zu sagen. Doch dieses Buch hat mich begeistert, es hat mich tatsächlich umgehauen und doch kann ich über diese Begeisterung nur schwer sprechen, ohne zu viel zu verraten. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt des Dilemmas. Was könnte es  darüber hinaus noch zu sagen geben?

In manchen Augenblicken vermischen sich die Erinnerung und belegbare Tatsachen zu einem undurchdringlichen Nebel, geradeso, als wäre das, was hätte geschehen sollen, wichtiger als das, was wirklich geschah. Doch dann lichtet sich der Nebel, und da sind wir: meine guten Eltern mit ihren guten Kindern, ihren dankbaren Kindern, die anrufen, einfach weil sie es schön finden. Die sich sogar in späteren Jahren abends nur mit Gutenachtkuss verabschieden und sich auf Weihnachten im Kreis der Familie freuen. In einer solchen Familie müsste man sich Liebe nicht erst verdienen, und sie ginge auch nicht verloren. Manchmal sehe ich uns so. Für einen kleinen Moment sehe ich uns so, wie wir hätten sein sollen. Intakt und heil und alle vereint. Ein wahrhaft gleißnerisches Bild.

Karen Joy Fowlers ungewöhnlicher Roman erzählt die Geschichte der Familie Cooke. Im Original heißt das Buch übrigens We are all completeley beside ourselves, was so viel bedeutet, wie: Wir sind alle total verwirrt. Ein deutlich passenderer Titel, als der der deutschen Übersetzung, denn verwirrt ist Familie Cooke in jedem Falle. Der Vater arbeitet als Psychologe und hat sich auf die Erforschung des Tierverhaltens spezialisiert. Die Mutter ist emotional labil und verbringt ganze Tage in ihrem Zimmer im Bett. Fern, eine ihrer beiden Töchter, ist auf mysteriöse Art und Weise verschwunden. Rosemary, ihre andere Tochter, war ein lebhaftes und gesprächiges Kind, das seine Sprache fast gänzlich verloren hat, als seine Schwester verschwand. Der älteste Bruder Lowell hält es irgendwann nicht mehr zu Hause aus und läuft weg. Familie Cooke ist nicht nur verwirrt, sondern die Familie wird in ihre einzelnen Bestandteile zersprengt. Was vorher intakt gewesen ist, wird von einem Tag auf den anderen auseinander gerissen. Nichts passt mehr zusammen.

Die ganze Geschichte dieser erstaunlichen Kindheit wird von Rosemary erzählt, die mittlerweile erwachsen ist, zur Universität geht und ein mehr oder weniger geordnetes Leben führt. Ein Leben, in dem aber zwei ganz wichtige Bestandteile fehlen: ihr Bruder Lowell, den sie nie wieder gesehen hat und ihre Schwester Fern, die einfach verschwunden ist. Rosemary erzählt ihre Geschichte, um herauszufinden, warum sie zurückgelassen wurde: warum hat Fern sie verlassen, als sie gerade fünf Jahre alt gewesen ist und warum hat Lowell sie im Stich gelassen, als sie noch ein Kind war? Bei Rosemarys Kindheitserzählung stößt man als Leser irgendwann auf das Geheimnis, auf die besagte Enthüllung, die dem Buch eine weitere und ganz andere Ebene gibt. Eine Ebene, die mich fasziniert und bewegt hat, von der ich in meiner Besprechung jedoch nichts erzählen kann. Dieser literarische Kniff macht die Lektüre zu einer ganz besonderen Lektüre, doch ich bin mir nicht sicher, ob sich die Autorin im Vorfeld klar gewesen ist, wie schwer es für Rezensenten ist, das Buch zu besprechen. Oder auch für Buchhändler, die das Buch empfehlen wollen.

Das muss nicht heißen, dass die Geschichte nicht stimmt, sondern nur, dass ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann, ob ich mich wirklich daran erinnere oder nur daran, wie ich sie anderen am wirkungsvollsten schildere. Schuld daran ist die Sprache, denn sie tut der Erinnerung etwas an. Sie vereinfacht, sie konkretisiert, kodifiziert und mumifiziert das bloß Erinnerte. Eine oft erzählte Geschichte ist wie ein Foto in einem Familienalbum. Irgendwann ersetzt es den Moment, den es eigentlich nur festhalten wollte.

Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke ist ein höchst lesenswerter und sehr ungewöhnlicher Roman: wenn man sich die Oberfläche anschaut, dann bekommt man das Gefühl, dass Karen Joy Fowler eine außergewöhnliche Familiengeschichte erzählt. Wenn man darunter blickt kann man sehen, dass sie auch von der Kraft der Erinnerung erzählt, von der Macht der Sprache, von kindlicher Eifersucht, der bedingungslosen Liebe und den Rechten von Tieren. Der Autorin gelingt es dabei das Tragische mit dem Heiteren auf schon fast magische Art und Weise zu verbinden. Sie erzählt kraftvoll, beeindruckend und sehr berührend.

Ich habe das Buch morgens in die Hand genommen und konnte es erst wieder zur Seite legen, als ich die letzte Seite zugeklappt hatte: mit schwerem Herzen und tränenden Augen. Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke ist eine berührende und wunderbar schrecklich-tragische Lektüre. Das Schicksal von Fern, Rosemary und Lowell wird mich wohl noch viele Tage lang begleiten.

Karen Joy Fowler: Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke. Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Markus Ingendaay. Mannhatten, München 2015. 352 Seiten, €17,99.

Altes Land – Dörte Hansen

Dörte Hansen legt mit Altes Land einen eindrucksvollen und warmherzigen Debütroman vor. Nüchtern, und doch mit ganz viel Humor, erzählt sie von Heimat und Heimatlosigkeit, von Flucht und dem Wunsch danach, ein Zuhause zu finden. Schon jetzt kann ich sagen, dass Altes Land mein Buch des Frühjahrs ist.

Altes Land

In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern.

Das Alte Land ist ein Teil der Elbmarsch südlich der Elbe, der vor allen Dingen bekannt für einen ertragreichen Obstbau ist: hier findet man Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume. Die Kirschbäume sind bei räuberischen Vögeln beliebt, besonders bei den Staren, die mit lauten Rufen und Trommeln verscheucht werden. Doch so leicht wie sich die Vögel verscheuchen lassen, lassen sich Menschen nicht wegschicken. Auf dem Hof von Ida Eckhoff, Bäuerin im Alten Land, stehen im Frühjahr 1945 plötzlich Flüchtlinge aus Ostpreußen und bitten um Einlass. Ida Eckhoff schimpft die Flüchtlinge Polacken und lässt Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera in der Knechtekammer schlafen.

Vera hatte immer gefroren in diesem Haus, nicht nur am Anfang, als sie mit ihrer Mutter in der Gesindekammer an der großen Dielentür wohnte, die von allen kalten Räumen im Haus der kälteste war, am weitesten weg von Ida Eckhoffs warmem Herd.

Doch Hildegard von Kamcke lässt sich nicht unterkriegen, sie möchte nicht allzu lange Flüchtling sein. Sie schnappt sich bald darauf einen gut verdienenden Mann und zieht mit diesem weiter nach Hamburg, um eine neue Familie zu gründen. Vera bleibt auf dem Hof zurück und lebt von nun an bei Karl, Idas einzigem Sohn. Karl ist körperlich beinahe unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, doch er wird sich von seinen Erlebnissen nie erholen. Auch als sie endlich erwachsen ist und als Zahnärztin arbeitet, zieht Vera nicht aus und bleibt alleine zurück in diesem großen, kalten Haus, in dem sie lebt, doch trotzdem nie so richtig heimisch ist.

Sechzig Jahre später stehen plötzlich erneut zwei Flüchtlinge vor der Tür: Veras Nichte Anne und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann hat sich in eine Andere verliebt und ihre Arbeit als Flötenlehrerin füllt sie schon lange nicht mehr aus – überhaupt empfindet sie ihr Leben in Hamburg-Ottensen zunehmend als erdrückend.

Manchmal, wenn sie mit fremden Frauen auf dem Spielplatz saß, sah sie die dunklen Augenringe und fragte sich, ob es noch andere gab wie sie, Nachtmütter, die sich am Tag ein anderes Leben wünschten. Falls ja – sie würden es auch unter Folter nicht gestehen. Man durfte erschöpft sein auf den Bänken in Ottensen, gestresst und ungekämmt, auch ungeschminkt, das alles ging, nur mutterglücklos, das ging nicht. 

Gemeinsam mit ihrem Sohn und Willy, dem Kaninchen, zieht Anne zu Vera in das große, kalte Haus. Anne, die eine Ausbildung als Tischlerin gemacht hat, nimmt sich dem Haus an, das Vera ein Leben lang vernachlässigt und nie gepflegt hat: die morschen Fenster werden erneuert, auch ein Gerüst wird aufgebaut. Dabei wird deutlich, dass das Haus voller Geheimnisse ist, voller Erlebnisse, über die nie gesprochen wurde, voller drückendem Schweigen. Doch diese bedrückende Vergangenheit sitzt nicht nur im Haus, sondern auch in Vera selbst – durch die zwei Flüchtlinge, die ihr Leben spontan ergänzt haben, beginnt sie sich ganz langsam aus einer jahrelangen Erstarrung zu lösen.

Flüchtlinge suchte man nicht aus, man lud sie auch nicht ein, sie kamen einfach angeschneit mit leeren Händen und wirren Plänen, sie brachten alles durcheinander.

Dörte Hansen erweist sich in ihrem Roman Altes Land als wunderbar genaue Beobachterin. Dabei gelingen ihr sehr intensive Einblicke in die Gefühle und Empfindungen ihrer Figuren, die alle irgendwie Flüchtlinge sind. Vera kommt als ungewolltes Flüchtlingskind in der Elbmarsch an und wird dort auch noch von ihrer eigenen Mutter zurückgelassen, die sich im viel schickeren Hamburg ein eigenes Leben aufbaut. Doch auch Anne ist ein Flüchtling, denn sie erstickt so langsam an ihrem schicken Leben in Hamburg. Die Beobachtungen des szenigen Großstadtlebens lesen sich herrlich amüsant: eingekauft wird natürlich im Bio-Supermarkt, die Kinder werden zu autonomen Entscheidungsträgern herangezogen, müssen die eine oder andere Frühförderung über sich ergehen lassen und wenn eine Beziehung doch mal scheitert, dann trennt man sich gesittet und eben wie zwei Erwachsene. Ebenso amüsant und mit humorvollem Augenzwinkern liest sich die Beschreibung der Menschen, die von der Stadt auf das Land gezogen sind, weil es dort doch ach so romantisch ist und dort nun Hoftür an Hoftür mit Vera und den anderen Alteingesessenen leben. Sie planen Bücher und Zeitschriften über die Landromantik, doch dabei übersehen sie, dass das Leben auf dem Land auch seine Schattenseiten haben kann. Der eine kann von seinen Verkäufen kaum überleben, der andere arbeitet noch im hohen Alter, da er keinen Nachfolger für den Hof findet – obwohl er drei Söhne hat.

Altes Land ist ein lesenswerter Roman, der von einem wunderbaren Humor getragen wird. Die Sprache ist nüchtern – knapp und verdichtet. An keiner Stelle ist ein Wort zu viel. Doch der Humor und die ironischen Beschreibungen sind nicht alles, denn unter der dicken Schicht Humor gibt es auch ganz viel Traurigkeit und eine bedrückende Schwere. Es geht um Heimat und Heimatlosigkeit. Es geht um den Wunsch anzukommen und das Gefühl, sich fremd zu fühlen – manchmal sogar im eigenen Haus. Altes Land ist wunderbar leicht und unterhaltsam und doch gleichzeitig so tiefgehend und berührend. Ein leichtes Buch, das doch ein kleines Wunder ist. Erwähnte ich schon, dass das Buch für mich das Buch des Frühjahrs ist? Eine unbedingte Leseempfehlung!

Dörten Hansen: Altes Land. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 286 Seiten, €19,99. Weitere Besprechungen gibt es im Bücherwurmloch und bei Papiergeflüster.

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