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Der Sturm in meinem Kopf – Horst Sczerba

Was passiert, wenn man die beiden Menschen verliert, die man am meisten geliebt hat? Wie kann man ein solches Unglück überleben? Wie kann man eine solche Katastrophe überstehen, ohne verrückt zu werden? Horst Sczerba erzählt in seinem Romandebüt “Der Sturm in meinem Kopf”, die Geschichte von einem Mann, der sich schon sein ganzes Leben lang auf der vergeblichen Suche nach Gerechtigkeit befindet. Als seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall sterben, dreht er durch und kann nur noch daran denken, Rache zu üben.

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“Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Das dauert ein paar Minuten, dann ist es vorbei, und ich bin wieder der alte Georg Kupinski. Verwirrt reibe ich mir den roten Schleier von den Augen. Mit der Zunge befühle ich die wunden Stellen im Mund, es schmeckt süß, faulig und nach Eisen. Ich habe mich gebissen, was ich da schmecke, ist mein Blut.”

Horst Sczerba, der 1947 geboren wurde, ist eigentlich Autor von Drehbüchern für Film und Fernsehen. Mit “Der Sturm in meinem Kopf” legt er einen späten, dafür aber nicht weniger beeindruckenden, Debütroman vor. Der Klappentext spricht übrigens von einem furiosen Psychogramm zwischen Zärtlichkeit und Mordlust, morbide und albtraumschön, doch im Grunde erzählt Horst Sczerba zunächst einmal eine klassische Liebesgeschichte. Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge. Doch ganz so klassisch geht es bei Georg und seiner großen Liebe Eva dann doch nicht zu. Georg, der als Beamter bei der Mordkommission arbeitet, verliebt sich in einen Engel, in Eva, ein Mädchen aus reichem Hause. Doch der jungen Liebe stellen sich zu Beginn zahlreiche Hindernisse in den Weg: beide schwanken in ihrer Liebe zueinander zwischen Obsession und gegenseitiger Zuneigung. Erst als die gemeinsame Tochter Marie zur Welt kommt, stellt sich so etwas wie Glück ein.

“Manchmal wäre ich gerne eine Fliege. Es ist so einfach: Man kann überall hin, alles kann man sehen, ohne selber gesehen zu werden. Einer Fliege stehen die Geheimnisse der Welt offen. Vor einer Fliege kann sich niemand verstecken.”

An einem Wintertag bringt Eva die gemeinsame Tochter zu einem Kindergeburtstag. Die Bremsscheiben des Autos sind abgefahren, es hat nicht einmal Winterreifen drauf. Georg weiß das, aber Eva weiß das nicht. Georg kann an diesem Tag nicht fahren, weil er beim Tauchen im Schwimmbecken einen Schwächeanfall hatte – es ist der übermäßige Alkoholkonsum, der ihm zugesetzt hat. Wenn er damals weniger getrunken hätte, wenn er damals Marie selbst zum Geburtstag gefahren hätte, wenn er sich um die Bremsen und Reifen rechtzeitig gekümmert hätte – dann würden Frau und Tochter heute noch leben. So sterben beide auf einer Kreuzung, weil das Auto an einer roten Ampel nicht zum Stehen kommt.

“Jetzt, da von meiner Familie keiner mehr übrig geblieben ist, könnte ich die Wahrheit schreiben. Ohne Rücksicht könnte ich meine heimlichen Leidenschaften, Liebschaften, Verbrechen und guten Werke, meine Angst und meinen Zorn niederschreiben.”

Lange soll es dauern, bis Georg Kupinski fähig dazu ist, seine eigene Schuld, sein eigenes Versagen, seine eigenen Fehler anzuerkennen. Vor diesem bitteren Schuldeingeständnis liegt ein zorniger Rachefeldzug, der ihn beinahe alles kostet: seinen Verstand, seinen Beruf, sein Leben. Für Georg Kupinski ist es unbegreiflich, dass es für das Unglück, das sein Leben zerstören sollte, keinen Täter gibt, keinen Schuldigen – der Unfallfahrer wurde freigesprochen.

Erzählt wird diese Geschichte von Horst Sczerba in vielen kleinen Episoden und Rückblenden, sie führt den Leser nicht nur zurück in Georg Kupinskis Kindheit, sondern sogar bis nach Mexiko. Stetig schwankt das Erzählte dabei zwischen Phantasie und Wirklichkeit – die Trennlinie zwischen Wahn und Realität ist hauchdünn. Es ist der Bericht eines Wahnsinnigen, der voller Zorn, voller Wut, voller Verzweiflung und voller Schuld auf ein Leben blickt, das er selbst verpfuscht hat. Erst auf den letzten Seiten weicht der Wahn einer zunehmenden Klarheit. Horst Sczerba verzichtet zwar auf ein klassisches Happy End, doch das Buch endet doch irgendwie positiv – ohne Gefahr zu laufen, kitschig zu werden.

“Ich habe gewusst, wie leicht sie sich von Marie ablenken lässt. Dass sie nachtblind ist und im Dunkeln schlecht sieht. Wenn es dazu noch regnet oder schneit, sieht sie gar nichts. Ich habe gewusst, dass die Bremsbeläge abgerieben waren und dringend erneuert werden mussten. Nicht einmal die Winterreifen habe ich aufziehen lassen, obwohl die Sommerreifen kaum noch Profil hatten. Ich habe die beiden trotzdem fahren lassen.”

Horst Sczerba hat einen Roman über Schuld und Schicksal geschrieben, der von einer Hauptfigur getragen wird, die voller Zorn und Wut ist. Von einer Figur, die ihr ganzes Leben lang nach Schuldigen gesucht hat – überall, nur nicht bei sich selbst. “Der Sturm in meinem Kopf” erzählt von einem Kampf für Gerechtigkeit, der in einem unfassbaren Wahn endet.

Im Licht von Apfelbäumen – Amanda Coplin

Amanda Coplin wurde in Wenatchee geboren;  mit “Im Licht von Apfelbäumen” legt sie ihren ersten Roman vor. Sie hat bereits zahlreiche Stipendien erhalten und war unter anderem als Writer in Residence am Ledig House in Upstate New York. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, sollte einen Blick auf die Homepage von Amanda Coplin werfen.

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“Das Leiden hatte ihn geformt, ihn schweigsam gemacht und vorsichtig, bedachtsam: tiefgründig. Großherzig, freundlich und rücksichtsvoll, obwohl er das auch vorher schon gewesen war. Mit jeder bedachtsamen Geste zielte er weit zurück und hoffte, seine Schwester zu erreichen, sie irgendwo aufzuspüren.”

William Talmadge lebt in einem abgelegenen und fruchtbaren Tal im nordöstlichen Teil von Washington. Im Sommer 1857 ist er gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester dorthin gezogen, damals war William Talmadge neun Jahre alt. Nicht einmal sieben Jahre später, bleibt Talmadge alleine auf der Farm zurück, die Mutter starb an einer Atemwegserkrankung seine Schwester Elsbeth ging in den Wald und kehrte nie wieder zurück. Die Jahre vergehen, doch seine geliebte Schwester kann Talmadge nicht vergessen, auch wenn er sich mit der Zeit an diesem abgeschiedenen Ort in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. In Gedanken ist Elsbeth, wenn er die Apfel- und Aprikosenbäume erntet, immer bei ihm.

“Das Einzige, was – vielleicht – noch schlimmer war, als mit Sicherheit zu wissen, dass man sie verschleppt hatte, war, es nicht zu wissen. Das war die traurige Wahrheit. Und Talmadge lebte mit dieser Ungewissheit, er hatte sich darin eingerichtet, und es gab keine Möglichkeit für ihn, jemals wieder zur Ruhe – wirklich zur Ruhe – zu kommen.”

Eines Tages tauchen zwei junge Frauen auf, die Äpfel von den Bäumen stehlen. Talmadge lässt sie gewähren und die beiden kehren immer wieder zu der Plantage zurück. Die Frauen sind scheu und verängstigt, doch dieser alte und gutmütige Mann, macht sie auch neugierig. Sanft und ohne viele Worte nähern sich die drei an und Della und Jane, so heißen die beiden Frauen, werden Stück für Stück zu einem neuen Bestandteil von Talmadges Leben. Als er ihnen Zutritt in sein Leben als Einsiedler gewährt, kann Talmadge nicht ahnen, wie weitreichend diese Entscheidung sein restliches Leben verändern sollte und welches grausame Schicksal die beiden Frauen teilen …

“Freundlichkeit konnte sich mir nichts, dir nichts in ihr Gegenteil verkehren, konnte einem die Luft abdrücken oder mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen.”

Amanda Coplin erzählt in ihrem Debütroman “Im Licht von Apfelbäumen” eine berührende Geschichte, eine Geschichte, in der Tragik und Hoffnung mit einem ganz zart schimmernden Faden miteinander verbunden werden. Verzaubern kann der Roman dabei nicht nur durch den Handlungsort, denn die abgelegene Plantage ist ein herrlich einsamer und in der Natur gelegener Ort und die Geschichte ist angefüllt mit traumhaften Landschaftsbeschreibungen, sondern auch durch die beschriebenen Figuren.

“Die Tage verschwammen, einer war weitgehend wie der andere. Es gab kaum Veränderungen. Vielleicht war die Zeit stehen geblieben; vielleicht hatte sie nie existiert. Es war nicht klar, was geschehen würde.”

Im Zentrum der Geschichte steht William Talmadge, der immer nur bei seinem Nachnamen genannt wird. Talmadge ist kein Mann, der vielen Worte. Geprägt wurde sein Leben durch den frühen Verlust seiner Schwester. Dieser Verlust hat ihn zu einem sensiblen Mann gemacht, der sich in seiner Einsamkeit und einem Leben, das aus Apfel- und Aprikosenbäumen besteht, eingerichtet hat. Die Begegnung mit Della und Jane gibt ihm zum ersten Mal in seinem Leben die Möglichkeit, etwas wieder gut zu machen, was er glaubt, bei seiner Schwester falsch gemacht zu haben. Della und Jane geben ihm die Möglichkeit, das drängende Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit abtragen zu können und zu mildern.

“Es war alles neu – die Gesellschaft, die Geräusche -, doch zugleich hatte er das Gefühl, als gehe es schon seit Langem so. Er war, dachte er – und die Erkenntnis erschütterte ihn -, glücklich.”

Auch die beiden Frauenfiguren werden von Amanda Coplin mit viel Wärme und Liebe gezeichnet, aber auch in all ihrer Zerrissenheit, in ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrer Verzweiflung. Besonders die Lebensgeschichte von Della ist mir nahe gegangen; selten zuvor hat mich das Schicksal einer Romanfigur so im Innersten berühren können. An der Lebensgeschichte von Della wird deutlich, dass Erlebnisse in der Kindheit einen für immer prägen, aber auch zerstören, können. Caroline Middey, eine Ärztin, die mehrmals aus der Stadt anreist, um Talmadge zu unterstützen, fungiert als weise Stimme der Vernunft, die voller Ruhe und Gelassenheit Situationen bewertet und Ereignisse in die richtige Richtung lenkt.

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“Wer hat in dieser Gegend schon eine Kindheit?, sagte sie oft. Wenn man geboren werde, sei der Tod bereits im Zimmer, warte bereits auf einen.”

Die Geschichte, die Amanda Coplin erzählt fasst einen Zeitrahmen von mehreren Jahrzehnten ein: von der Mitte des 19. Jahrhundert an, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts reicht die Erzählung, die sich auf die arme Bevölkerungsschicht von Amerika konzentriert, die darum bemüht ist, ihr Geld in der Landwirtschaft zu verdienen. Amanda Coplin erzählt eine herzergreifend Geschichte, bei der sie jedoch auf Kitsch und Sentimentalitäten verzichtet. Der Roman wird – ganz im Gegenteil – mit einer ungeheuer tiefen Kraft und einer außerordentlichen Ruhe erzählt.

“Im Licht von Apfelbäumen” ist ein Roman, der aus dem Leben von Menschen erzählt, die es nicht einfach haben. Von Menschen, die das, was sie erlebt haben, nicht mehr loslässt, die ein Leben führen, das bestimmt ist von dem, was ihnen widerfahren ist, deren Seelen Wunden tragen, die eitern statt zu heilen und die dennoch die Möglichkeit erhalten, ein ganz besonderes Gefühl zu entdecken: das Gefühl der gegenseitigen Liebe. Eine Liebe, die die Zeit überdauern kann. Amanda Coplin ist ein wunderbarer Roman gelungen, auf den letzten Seiten abgerundet durch ein großartiges Ende, das ich am Liebsten immer und immer wieder gelesen hätte.

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