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Sterben

Literarischer Superstar

KnausgardSeit einigen Wochen ist Karl Ove Knausgård in aller Munde. Während sein erster Roman, “Alles hat seine Zeit”, nicht viel mehr war, als ein literarischer Geheimtipp, ist aus dem norwegischen Schriftsteller mittlerweile ein weltweit gefeierter Star geworden. Es ist sicherlich nicht verkehrt, von einem Knausgård-Hype zu sprechen. Berichtet wird darüber praktisch überall: hierdort und auch da. Es ist das ungewöhnliche Romanprojekt “Min kamp” (Sterben, Lieben, Spielen, Leben), das ihn plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses katapultiert hat.

In der heutigen Ausgabe der Literarischen Welt gibt es einen Essay von Karl Ove Knausgård, der den Titel “Du bist niemand” trägt und von Ulrich Sonnenberg übersetzt wurde. Dort setzt sich Knausgård mit der Frage auseinander, warum so viele Menschen sich verzweifelt wünschen, gesehen zu werden, berühmt zu werden. Was für ein Bedürfnis dahintersteckt und wie er dieses Bedürfnis im Schreiben stillen konnte.

Ein Blick in diesen lesenswerten Essay lohnt sich sehr! Darüberhinaus lohnt sich auch ein Blick in dieses Video, das Karl Ove Knausgård im Gespräch mit Jeffrey Eugenides zeigt.

 

Leben – Karl Ove Knausgård

“Leben” ist der nunmehr vierte Band eines großangelegten autobiographischen Projekts: bereits in den ersten drei Bänden – “Sterben”, “Lieben” und “Spielen” – setzt sich Karl Ove Knausgård immer wieder neu mit seinem Leben, seiner Kindheit und seinen Dämonen auseinander.

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Während Karl Ove Knausgård in “Spielen” noch weit zurückblickte auf seine frühe Kindheit, blickt er in “Leben” auf eine Phase des Übergangs, des Umbruchs. Es ist eine Phase der Veränderung, die er durchläuft, als sein Leben, wie er es zuvor kannte, auseinander bricht. Die Eltern lassen sich scheiden, der Vater zieht zu seiner neuen Freundin, die bald darauf schwanger wird. Karl Ove Knausgård und seine Mutter bleiben zurück, der große Bruder Yngve ist schon lange ausgezogen. Dem Vater, der ihn seine ganze Kindheit lang drangsaliert und gequält hat, begegnet er nur noch selten – die Begegnungen sind häufig angespannt und enden zumeist in heftigen Wutausbrüchen oder Tränen. Bei dem Vater, der sich jahrelang kühl und zurückhaltend gegeben hat, brechen plötzlich alle Dämme: immer häufiger erlebt sein Sohn ihn betrunken, angetrunken oder mit einem Bier in der Hand.

“[…] so war es mit vielen in diesem Haus, in dem ich mit ihr lebte, und so musste es wohl auch sein: Manches wurde gesagt, kommentiert, beurteilt und zu verstehen versucht, anderes wurde verschwiegen, nicht erwähnt, nicht zu verstehen versucht.”

Für Karl Ove Knausgård ist dies eine Zeit, in der er versucht, sich freizustrampeln, sich von den Schrecken der Vergangenheit zu befreien. Auch er selbst greift dabei immer häufiger zum Alkohol, verbringt die Tage und Wochen vor seinem Abitur in einer Art ständigem Vollrausch und manövriert sich dabei von einer peinlichen Situation in die nächste. Für ihn ist der Alkohol eine Selbstmedikation, die ihn von seinen Komplexen und Ängsten befreit, unter denen er vor allen Dingen im Umgang mit Mädchen leidet. Dabei schwankt er ständig zwischen dem Leben im Rausch und dem Wunsch nach Normalität und danach, ein guter und strebsamer Schüler zu sein. Sein Leben driftet immer stärker auseinander, er selbst spaltet sich auf in zwei Persönlichkeiten, die kaum noch miteinander vereinbar sind. Auch nach dem Abitur kann er nicht damit aufhören, zu trinken, zu trinken und zu trinken. Die Schritte, die er hinein geht in das Leben eines Erwachsenen, sind unsicher – ohne Ziel und häufig auch ohne Verstand, regelmäßig gibt er mehr Geld aus, als er eigentlich besitzt. Er beschließt, ein Jahr als Aushilfslehrer in Nordnorwegen zu arbeiten, er ist gerade einmal achtzehn Jahre alt und ohne Ausbildung, doch dort oben in der Einöde werden Lehrkräfte händeringend gesucht.

“Ich! Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einem soeben beendeten einmonatigen Sommerjob in einem psychiatrischen Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Håfjord werden.”

Es ist nicht überraschend, dass Knausgård um Anerkennung und Autorität bei seinen Schülern kämpfen muss. Doch eigentlich möchte er auch gar nicht Lehrer sein, er möchte Schriftsteller werden. Abend für Abend, wenn er nicht unterwegs ist und sich sinnlos betrinkt, sitzt er zu Hause an seiner Schreibmaschine und tippt, tippt, tippt. Immer mit dem vagen Wunsch im Hinterkopf, irgendwann ein berühmter Schriftsteller zu sein.

“Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman. Alles, was sie wollten, wollte ich auch.”

Karl Ove Knausgård erweist sich in “Leben” erneut als erbarmungsloser und schonungsloser Chronist des eigenen Lebens. Detailliert und akribisch skizziert er den eigenen Absturz in den Alkohol, der mit einer erschreckenden Parallelität dem des eigenen Vaters folgt. Als ich die erste Seite von “Leben” aufschlug, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Die Mischung von Knausgårds Lebenserinnerungen, die stellenweise hochnotpeinlich sind (besonders dann, wenn es um Mädchen geht), daneben aber auch voller Traurigkeit und lähmender Angst vor dem Leben stecken, entwickelt einen ungeheuren Lesesog. In dieser Peinlichkeit, in dieser Schonungslosigkeit entwickelt sich eine unglaubliche Kraft, eine faszinierende Macht, die mich beim Lesen vollständig im Griff hatte.

“Das ist es, was man wirklich braucht, ich meine wirklich, ich finde es wichtig, hier Prioritäten zu setzen. Alle legen Wert auf materielle Dinge. Alle wollen neue Jacken, neue Schuhe, neue Autos, neue Häuser, neue Wohnwägen, neue Hütten oder neue Boote. Ich aber nicht. Ich kaufe Bücher und Platten, weil das etwas über das Wesentliche aussagt, darüber, was es heißt, hier auf Erden ein Mensch zu sein. Verstehst du?”

Für mich gehört Karl Ove Knausgård in seinem gleichsam radikalen und schonungslosem Versuch, über sich selbst zu schreiben, um sich und seine Dämonen auf Papier zu bannen, zu den spannendsten Autoren unserer Gegenwart. Um sich selbst so sehr in den Mittelpunkt zurück, dass man beinahe 4000 Seiten über das eigene Ich schreibt, braucht es auf den ersten Blick ein ungeheures Ego und eine große Portion Eitelkeit und Selbstliebe. Doch Karl Ove Knausgård untergräbt dieses Ego auf charmante Art und Weise, in dem er keine Peinlichkeit unerwähnt lässt. Dabei entstanden ist ein faszinierendes Lektüreerlebnis, bei dem ich mich stellenweise fast schon als Voyeur gefühlt habe: Karl Ove Knausgård zieht sich aus, macht sich nackig. “Leben” ist ein Buch der Flüssigkeiten, es geht um Alkohol, Tränen und den männlichen Samen.

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Dieser Mensch war ich: Nachrufe auf das eigene Leben – Christiane zu Salm

Christiane zu Salm wurde 1966 in Mainz geboren und arbeitete viele Jahre als Medienmanagerin. Sie war unter anderem Geschäftsführerin bei MTV und hat den Privatsender 9Live aufgebaut. Die Anteile daran verkaufte sie im Jahr 2005, seitdem widmet sich die leidenschaftliche Kunstsammlerin verstärkt sozialen Projekten. Sie hat den Verein NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) mitbegründet und ist ehrenamtlich als ambulante Sterbebegleiterin für das Lazarus-Hospiz in Berlin tätig.

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“Warum muss erst deine Zeit ablaufen, damit du reden kannst?”

Dieses Buch ist aus den Eindrücken und Begegnungen einer ambulanten Sterbebegleiterin heraus entstanden, es sind  berührende Eindrücke und Begegnungen mit Menschen, die sich am Ende ihres Lebensweges befinden. Aufgezeichnet wurden diese Eindrücke von Christiane zu Salm, die sich nach vielen Überlegungen dazu entschlossen hat, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Teil dieser intensiven Ausbildung, die sie in einer kleinen Gruppe absolviert hat, war die Aufgabe, einen Nachruf auf das eigene Leben zu schreiben. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, über die Frage nachzudenken, wie Menschen im Angesicht ihres Todes ihr eigenes Leben bewerten. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, Menschen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen und sie danach zu fragen, wie ihr eigener Nachruf aussehen würde. Geführt hat sie diese Gespräche in Deutschland und in Amerika, manchmal im Hospiz, manchmal aber auch bei den Patienten zu Hause.

“Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben. Das Leben wird hier allerdings von seinem Ende aus betrachtet: Es ist eine Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterbens.”

Die Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterben heraus ist etwas gewesen, das Christiane zu Salm immer schon interessiert hat, häufig ist sie mit diesem Interesse angeeckt. In ihrem sehr lesenswerten Vorwort – mit dem passenden Titel “Kein Sterbenswort” – geht sie darauf ein, wie Menschen dazu neigen die Tatsache zu verdrängen, dass das Leben endlich ist. Wir verwenden zwar Worte wie sterbenslangweilig, todmüde und ab und an hat man sich auch mal totgelacht, doch der Tod und das Sterben werden darüber hinaus nicht häufig bewusst in unserem Alltag wahrgenommen. Der Eindruck es handle sich dabei um ein Tabuthema ist sicherlich nicht ganz falsch.

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“Ganz egal, ob Mann oder Frau: Der moderne Mensch redet nicht gerne über das Sterben. Darüber verlieren wir in unseren hochzivilisierten westlichen Gesellschaften so gut wie kein Sterbenswort.”

Christiane zu Salm betont, dass ihre Affinität zum Tod nicht nur aus einer Angst resultiert, sondern “aus einer Suche nach dem Verständnis dessen, was wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, was eigentlich bleibt vom Leben.” Dem Tod begegnet ist sie zweimal, mit sechs Jahren musste sie den Unfalltod ihres Bruders miterleben, viele Jahre später befand sie sich für einige Minuten unter einer Lawine, sie raste auf Skiern den Hang hinab und hat die Gewissheit gespürt, aus diesem Moment nicht mehr heil herauskommen zu können. Doch sie hat überlebt. Vier Jahre später fasste sie den Beschluss, Sterbebegleiterin werden zu wollen.

“[…] was denkt die Verkäuferin im Supermarkt, was der Kfz-Mechaniker, was die Gemeindemitarbeiterin von nebenan? Wie betrachten ganz gewöhnliche Menschen ihr Leben, wenn sie im Sterben liegen? Sind es Antworten auf die großen Fragen des Lebens, die sie eventuell gefunden haben und hinterlassen könnten? Oder sind es Banalitäten? Aber wer entscheidet eigentlich, was banal ist und was nicht? Was ist wichtig, ganz am Ende? Ist es möglicherweise das Gleiche, das immer schon wichtig war – oder etwas ganz anderes? Und woran erinnert sich jemand – dann, wenn es zu Ende ist, das Leben?”

Insgesamt achtzig Nachrufe auf das eigene Leben versammelt Christiane zu Salm in ihrem Buch, sie stehen dicht an dicht nebeneinander. Die Nachrufe umfassen häufig nur zwei bis drei Seiten, manchmal reicht auch eine aus für das, was der Mensch über sein Leben erzählen möchte. Viele der befragten Menschen sind bereits älter, andere gerade einmal Anfang 40. Viele von ihnen haben Krebs, bei manchen ist die Krankheit vermerkt, bei anderen nicht, bei manchen ist der Zeitpunkt vermerkt, an dem sie gestorben sind, andere leben noch.

“Wo ist bloß die Zeit hin, und was haben wir denn all die Jahre gemacht, in denen wir unsere Träume geträumt haben, statt sie zu leben?”

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Die versammelten Schicksale haben mich natürlich nicht alle gleichermaßen berühren können, doch viele haben mich tatsächlich bewegt, andere haben mich auch betroffen und nachdenklich gemacht. Die Schicksale sind häufig in keiner Form außergewöhnlich, ganz im Gegenteil: es sind die Lebenserinnerungen ganz normaler Menschen. Viele von diesen Erinnerungen sind von dem Gefühl geprägt, zu wenig erreicht zu haben oder an einer Weggabelung den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Manche von den Erinnerungen sind von einer tiefen Schuld geprägt, ein Mann erinnert sich daran, Schuld am Selbstmord seines Sohnes zu haben. Andere werden davon belastet, ein Geheimnis mit sich herumzutragen: eine Frau hat ihrer Tochter ein Leben lang verschwiegen, dass sie als Prostituierte gearbeitet hat und der Vater ihrer Tochter einer ihrer Kunden gewesen ist. Ein anderer Mann hat es sein Leben lang nicht geschafft, seiner Frau eine Affäre zu gestehen. Andere berichten über verpasste Möglichkeiten, über vergeudete Chancen, Träume, die nie umgesetzt wurden und über Beziehungen die zerbröckelten oder über Beziehungen, für die man nie den Mut gefunden hat, sie zu führen. Ein Sohn berichtet davon an der Frage zerbrochen zu sein, ob sein Vater stolz auf ihn gewesen ist, ein Vater stirbt mit dem Gefühl, einen seiner beiden Söhne dem anderen gegenüber bevorzugt zu haben.

“Bei den entscheidenden Ereignissen, die im Leben so passieren, weiß man ja immer erst im Nachhinein, wofür es gut war. Dass alles, ganz gleich was, sich irgendwann für irgendetwas als richtig erweist . da bin ich mir sicher. Ich habe mich allerdings oft gefragt, warum wir das immer erst im Rückblick erkennen.”

Doch es gibt auch andere Nachrufe, Nachrufe von Menschen, die ein Leben gelebt haben, auf das sie im Moment ihres Todes mit einer inneren Zufriedenheit zurückblicken können. Menschen, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben und den richtigen Menschen begegnet sind oder die sich im richtigen Moment dafür entschieden haben, sich von einem Menschen zu trennen, der einem vielleicht nicht mehr gut tut. Im Anhang des Buches befindet sich eine ausgezeichnete und sehr informative Liste an Buch- und Filmtiteln rund um das Thema Sterben und Tod.

Bewegt und berührt – das sind zwei Worte, die ich in meinen Besprechungen gerne verwende. Noch nie hat sich dies so passend angefühlt, wie bei diesem Buch. Christiane zu Salm hat mich mit den Nachrufen, die sie in diesem Buch versammelt hat, dazu angeregt, nachzudenken – über mein eigenes Leben, aber auch über das Leben der Menschen um mich herum. “Dieser Mensch war ich” ist für mich gleichermaßen Kraftspender und Anstoß gewesen: der Zugang anderer Menschen zu ihrem eigenen Tod hat mich immer wieder getröstet und ermutigt und ihre Lebenserinnerungen haben mir in Erinnerung gerufen, was wirklich wichtig ist im Leben: Zufriedenheit, Glück und der Versuch, die eigenen Träume zu leben.

Eine kurze Geschichte vom Sterben – Linda Benedikt

Linda Benedikt wurde 1972 in Mündchen geboren. Nach einem Politikstudium arbeitete sie viele Jahre lang als freie Journalistin. Seit 2010 steht sie mit einem politischen Musikkaberett auf der Bühne. Die Autorin lebt derzeit in München und veröffentlichte zuletzt einen Essay über Israel. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist ihr neuester Roman, er erschien im vergangenen Literaturherbst.

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“Du wirst viel mehr als weg sein, du wirst immer da sein und ich werde mit deiner anwesenden Abwesenheit nichts anzufangen wissen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” wird im Klappentext als Prosa beschrieben, doch sind diese erschütternden 126 Seiten wirklich fiktive Prosa oder vom autobiographischen Erleben geprägt? Im Buch selbst finde ich für eine Antwort auf diese Frage keinerlei Informationen. Doch ob Linda Benedikt die Trauer um die eigene Mutter beschreibt oder eine rein fiktive Erzählung geschrieben hat, nimmt diesem Werk nichts von seiner Kraft. Die Lektüre war für mich wie ein Schlag in den Bauch. Rumms. Da lag ich, nach Luft schnappend und um Atem ringend. Trauer ist immer schwierig und der Tod ist etwas, mit dem wir uns lieber nicht beschäftigen wollen, aber er ist da und kann immer und jederzeit zuschlagen.

“Ich sitze seit vier Stunden an deinem Bett und schaue zu, wie du stirbst. Stündlich ein bisschen mehr. Aber nicht genug, um dich endlich selbst aus dem Leben zu entlassen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine Geschichte eines langsam voran schleichenden Sterbens. Die Beschreibung eines Prozesses mit tödlichem Ausgang. Linda Benedikt beschreibt sieben Tage. Die Kapitelreihenfolge ist umgekehrt, beginnt bei Kapitel sieben und endet an dem Tag, an dem alles vorbei ist. Die gerade einmal 126 Seiten schmale Erzählung wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Es ist das Ich einer trauernden Tochter, die aus London zu ihrer Mutter reist, um sie in den Tod zu begleiten. Die Krankheit hat einen Zustand erreicht, an dem an ein Überleben nicht mehr zu denken ist – es geht lediglich darum, wie lange das Sterben dauert.

“Dein Körper wirkt klein und schmächtig, wie krankgeschrumpft. Als ich dich das letzte Mal sah, konntest du lachen, gehen, stehen und reden. Und irgendwie warst du größer.”

Für die Tochter ist die Begegnung mit der Mutter ein Schock, mit der Mutter, die eigentlich noch jung ist, doch plötzlich knochige Gesichtszüge hat. Ihre starke Mutter ist plötzlich klein, schwach und abhängig. Gespräche mit ihr sind kaum noch möglich. Wenn sie durch die dicke Nebelwand der Schmerzmedikation in ein Gespräch finden, ist die Tochter erschüttert davon, dass die Mutter immer noch daran glaubt, zu überleben. Wie sagt man der eigenen Mutter, dass sie sterben wird?

“Schließlich ist es der Teil eines größeren Plans, den wir beide nicht beeinflussen können: Eine Mutter zieht ihre Kinder auf, und diese wiederum geleiten sie in den Tod.”

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Die Tochter erlebt am Sterbebett ihrer Mutter ein Wechselbad der Gefühle. Sie klammert sich an sie, in dem Wunsch sie nicht verlieren zu müssen. Hofft darauf, dass ihnen beiden noch mehr gemeinsame Tage geschenkt werden. Gleichzeitig wünscht sie sich eine Erlösung für ihre Mutter herbei, ein nahes Ende dieses schmerzhaften Prozesses. Ein Wunsch, an dem man beinahe ersticken kann, so schrecklich fühlt es sich an, der eigenen Mutter den Tod zu wünschen.

“Aber so einfach ist es nicht. Denn dein Tod sagt mir nichts. Wird mir nicht hinterlassen. Du wirst einfach weg sein. Mich allein lassen. Du wirst nicht mehr da sein, wenn ich mit dir reden will. Du wirst mir nicht mehr zuhören, wenn ich dich anklagen will, sodass es eine Klage allein gegen mich selber sein wird. Wenn ich weine, muss ich mich künftig selber trösten. Und wenn ich lache, wirst du es nicht hören. Wirst nicht mehr fragen nach dem Warum.”

Der Tod und das Sterben sind Bereiche, die aus unserem alltäglichen Leben gerne weggedacht werden. Vielleicht sind sie zu schmerzhaft, um ihre Anwesenheit täglich spüren zu können. Linda Benedikt ist es in ihrer kurzen Geschichte vom Sterben gelungen, Worte für etwas zu finden, über das ansonsten lieber geschwiegen wird. Sie verschweigt nichts und beschönigt keines ihrer Gefühle. Sie beschreibt ihren Schmerz und ihre Trauer, aber auch ihre Wut und die immer wieder kehrende Langeweile, die sie im Sterbezimmer ihrer Mutter empfindet. Die eigene Mutter stirbt und ja, die Tochter ist fast schon ungeduldig … irgendwie dauert ihr das alles zu lange. Es gibt weder Kitsch noch Pathos, kein Schmuckwerk. Lediglich die nackten Gefühle, die traurigen aber auch die unschönen und dreckigen Gefühle, die, die man im Nachhinein lieber verschweigt.

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine eindrucksvolle Erzählung über Trauer in all ihren Facetten. Trauer ist etwas, das wohl jeder anders empfindet. Linda Benedikt schreibt über eine Tochter, die den Tod ihrer Mutter mit ganz viel Wut betrachtet, aber auch mit bodenloser Traurigkeit. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine beeindruckende und lesenswerte Erzählung.

Brutal ehrlich

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Es lohnt sich mal wieder der Gang zum Zeitschriftenladen. Diesmal aufgrund eines großartigen Porträts in der Wochenzeitung “der Freitag” von Mikael Krogerus über den streitbaren Schriftsteller Karl Ove Knausgård.

“Karl Ove Knausgård hat aus seinem Leben einen schmerzhaft offenen Romanzyklus gemacht. Auf 4.000 Seiten erzählt er von seinem Kampf, ein moderner Vater und Ehemann zu sein – und der Sehnsucht nach Freiheit und archaischer Männlichkeit. Seine Frau kam nach der Lektüre in die Psychiatrie.”

Berühmt wurde Karl Ove Knausgård durch seinen Romanzyklus “Min kamp”, von dem im Deutschen bisher drei Bände erschienen sind. Alle drei habe ich mit großem Vergnügen verschlungen, “Lieben” und “Spielen” habe ich auf meinem Blog vorgestellt – der vierte Band “Leben” erscheint in diesem Frühjahr.

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Mikael Krogerus ist ein Porträt über Knausgård gelungen, aus dem ganz viel Liebe für dessen Bücher spricht, in dem jedoch auch die schwierigen und unbequemen Seiten des norwegischen Autors, der mittlerweile in Schweden lebt, thematisiert werden. Über die Bedeutung und die Qualität der 4.000 Worte, die Knausgård über sich, sein Leben und seinen Kampf geschrieben hat, lässt sich streiten und doch haben sie eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Zadie Smith twitterte, dass das Warten auf den nächsten Band sich anfühlt, wie der Wunsch eines Süchtigen nach Crack.

Wer sich Karl Ove Knausgård annähern möchte, dem ist dieses Porträt sehr zu empfehlen!

Spielen – Karl Ove Knausgård

“Spielen” ist der dritte Band eines literarischen Projekts, in dem Karl Ove Knausgård autobiographische Erinnerungen verarbeitet und das auf insgesamt sechs Bände angelegt ist. Ich habe bereits “Sterben” und “Lieben”, die ebenfalls im Luchterhand Verlag erschienen sind, mit Begeisterung verschlungen. Diese sechs Bücher sollten den Norweger Knausgård in seinem Heimatland berühmt machen, sie haben aber auch für kontroverse Diskussionen gesorgt. Darf man sein eigenes Leben und das Leben seiner Angehörigen wirklich so stark in das grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zerren, oder ist dieses Vorgehen moralisch verwerflich?

“An einem milden und wolkenverhangenen Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, kleine Hügel hinauf und hinunter, durch enge Kurven, mal mit Bäumen zu beiden Seiten wie in einem Tunnel, mal mit dem Meer gleich nebenan, ein Bus.”

In “Spielen”, das aus dem Norwegischen von Paul Berf übertragen wurde, geht Karl Ove Knausgård zurück in seine Kindheit, ganz zurück, bis an die Anfänge. Die Erzählung setzt 1969 ein, damals ist Karl Ove Knausgård gerade einmal ein Jahr alt. Es ist das Jahr, in dem die Familie einen Neuanfang wagt, sie zieht weg aus Oslo und richtet sich in einem anderen Leben neu ein. Das neue Heim ist ein Haus in einem Neubaugebiet auf der Insel Tromøya. Die Eltern sind damals beide vierundzwanzig Jahre alt und gehen mutig einer vielversprechenden Zukunft entgegen: beide haben einen Job, sie haben ein Haus und zwei Kinder – Karl Ove und seinen älteren Bruder Yngve. Die Knausgårds sind eine in “jeder Hinsicht durchschnittliche Familie”. Doch Seite für Seite, Erinnerung für Erinnerung, wird deutlich, dass die Familie nicht so durchschnittlich ist, wie angenommen, denn in ihrem Kern regiert ein Vater, der in dem schönen neuen Haus Angst und Schrecken verbreitet.

“An diese Zeit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern. Es ist mir völlig unmöglich, mich mit dem Kleinkind zu identifizieren, von dem meine Eltern Fotos machten, ja, es fällt mir so schwer, dass es beinahe verrückt erscheint, für dieses Baby das Wort “Ich” zu benutzen […]. Ist dieses Geschöpf identisch mit dem Menschen, der hier in Malmö diese Zeilen schreibt?”

Karl Ove Knausgård hat keine Erinnerungen mehr an die ersten sechs Jahre seines Lebens, naturgemäß, denn so geht es vielen von uns. Alles, was er weiß, weiß er aus zweiter Hand: aus Erzählungen und von Fotographien. An die Geschichte selbst, die diese Bilder erzählen, hat Knausgård keine Erinnerungen mehr und doch bilden diese Fotos einen wichtigen und sehr intimen Teil seines Lebens ab: seine Kindheit, errichtet in einem Provisorium aus fehlenden Erinnerungen und Bildern, die diese Leerstellen füllen sollen.

“Man könnte sich vorstellen, dass diese Fotografien eine Art Gedächtnis verkörpern, eine Art Erinnerung bilden, nur ohne das “Ich”, von dem die Erinnerungen normalerweise ausgehen, und daraufhin stellt sich natürlich die Frage, was sie bedeuten.”

“Spielen” beginnt mit Gedanken von Karl Ove Knausgård zu dem Themenkomplex Erinnerung und Gedächtnis, anschließend erzählt er aus seiner eigenen Kindheit, einsetzend zu einem Zeitpunkt, als er ein kleiner Junge gewesen ist. Aus der Perspektive eines Kindes, erschafft der norwegische Autor eine Landschaft der Kindheit, bestehend aus Erinnerungen, sicherlich aber auch aus eigenen (fiktionalisierten) Ergänzungen und Gefühlen, die sich erst im Rückblick auf die eigene Vergangenheit entwickelt haben. Leerstellen, aus den Jahren, an die er sich nicht mehr erinnern kann, werden gefüllt. Für mich als Leserin war es mitunter erstaunlich, mit welcher Detailtreue der Autor sich an seinen ersten Schultag und die damit verbundenen Emotionen zu erinnern meint. Seine Erinnerungen sind assoziativ, schweifen von einem Thema zum nächsten – es bleibt nicht aus, dass der Roman stellenweise zäh ist, doch es gelingt dem Autor, den Leser immer wieder zurück an seine Seite zu holen.

“Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist.” 

Die Kindheit von  Karl Ove Knausgård wird geprägt von einem Vater, der unberechenbar ist und das Haus mit einer düsteren, schweren und bedrohlichen Finsternis füllt. Häufig ist Knausgård das Opfer seiner Attacken; er ist sensibler als sein älterer Bruder Yngve und weint viel und häufig. Das Haus der Knausgårds wirkt wie erstarrt in einem Korsett aus Regeln und Vorschriften, werden diese gebrochen, drohen Hausarrest oder auch körperliche Bestrafungen. Auch in der Welt außerhalb seines Elternhauses hat der Autor zu kämpfen: er gilt als ein besserwisserisches Kind, manchmal erscheint er fast schon schmerzhaft naiv, dann wieder arrogant und eingebildet.

“Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr. Verschwindet das Offene, verschwinden die Möglichkeiten, mal hierhin, mal dorthin zu laufen, sei es nun in Gedanken oder in der Wirklichkeit, wird jede Minute zu einem Schlagbaum und die Zeit zu einer Zelle, in der man gefangen ist.”

Der liebevolle Fixstern in der Kindheit des Autors ist seine Mutter, die ihn rettet: “[…] wenn es auf dem Grund jenes Brunnens, der die Kindheit ist, jemanden gab, dann war das sie, meine Mutter, Mama.” Die Mutter erscheint jedoch auch seltsam blass und leblos, beinahe schon abwesend. Das Verhalten ihres Mannes wird von ihr klaglos hingenommen und akzeptiert, sie lebt neben ihm her und ist ihren Kindern zwar eine liebenswerte Mutter, doch gleichzeitig belässt sie sie in diesen quälenden Verhältnissen. Für Knausgård  bleibt die Frage unbeantwortet, ob es ausreicht, die Finsternis auszugleichen; ob das, was seine Mutter getan hat, genug gewesen ist oder ob die Mutter im Gegenteil die Verantwortung dafür trägt, was ihren beiden Kindern passiert ist. Diese Frage bleibt unbeantwortet und doch ist sie in meinen Augen das Garn, aus dem dieser autobiographische Roman genäht worden ist: der Vater steht im Zentrum des Geschehens und doch hat die Mutter ihm diesen Platz ermöglicht.

“Sie rettete mich, denn wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich alleine mit Vater aufwachsen müssen, und dann hätte ich mir früher oder später auf irgendeine Weise das Leben genommen. Aber sie war da, Vaters Finsternis wurde ausgeglichen, ich lebe, und dass ich dies nicht voller Freude tue, hat nichts mit der Balance in meiner Kindheit zu tun. Ich lebe, bin selbst Vater und habe im Zusammenleben mit meinen Kindern im Grunde immer nur ein einziges Ziel verfolgt: dass sie keine Angst vor ihrem Vater haben.”

Karl Ove Knausgård ist ein Roman gelungen, der aus der Perspektive eines Kindes die Magie der Kindheit beschwört. Es ist eine Magie, die von allen emotionalen Facetten geprägt ist: Freude und Liebe, aber auch Angst, Traurigkeit, Wut und Unverständnis. Als Leser begleitet man Karl Ove Knausgård, der damals noch ein kleiner Junge gewesen ist, durch seinen bewegten Alltag: beim Lesen litt ich mit ihm, ich weinte mit ihm, ich freute mich mit ihm. “Spielen” ist für mich ein bewegendes und wichtiges Stück, nicht nur großartiger Literatur, sondern auch einer großen Lebensgeschichte.

Ich lebe ich schreibe

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In der gestrigen Ausgabe der Literarischen Welt gab es ein wunderbares und lesenswertes Interview der Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Das Gespräch führte Paul Jandl. Beide sprechen über die Lust am Schreiben; der Schreibprozess ist für Friederike Mayröcker beinahe schon ein Erlebnis mit einer einhergehenden physischen Ergriffenheit. Ihr atemloser Satz “Ich lebe ich schreibe” steht symbolisch für diesen Schreibprozess. Paul Jandl spricht mit der Schriftstellerin aber auch über den Tod, vor dem sich Mayröcker fürchtet.

“Der Tod ist ja wirklich ein Tyrann, Weil man doch nicht weg will, man muss aber, weil er es will. Man hat noch nicht alles gemacht, was man noch machen will. Und ich will ja noch so viel.”

Ein lesenswertes Interview mit der Autorin gab es auch bereits vor einigen Monaten im Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Das neue Buch von Friederike Mayröcker erscheint am 21.10.2013 im Suhrkamp Verlag.

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