Edmund de Waal ist eigentlich kein Schriftsteller, sondern Professor für Keramik. Er ist ein Nachkomme der jüdischen Bankiersfamilie Ephrussi. Darum geht es auch in de Waals erstem autobiographischen Roman “Der Hase mit den Bernsteinaugen”. Aber nicht nur: daneben spielen auch 264 Netsukes eine Rolle, die bei Edmund de Waal in der Vitrine liegen. Netsukes sind kleine japanische Schnitzereien.
“Netsuke sind klein und hart. Sie werden kaum zerkratzt, kaum zerbrochen: Sind sind geschaffen, herumgestoßen zu werden. ‘Ein Netsuke muss so gestaltet sind, dass es seinem Träger nicht lästig wird’, heißt es in einem Führer. Sie sind nach innen orientiert: der Hirsch mit den unter dem Bauch gefalteten Beinen, der Fassbinder, der in seinem halbfertigen Fass kauert, die Ratten, die um eine Haselnuss jagen.”
Gesammelt hat diese Netsukes Charles Ephrussi, der sie 1870 erworben hat, um sie einige Jahre später den Urgroßeltern von Edmund de Waal zu schenken. So wanderten die Netsukes in die Hände von Edmund de Waal.
Der Weg, den die Netsukes bis dahin gegangen sind, ist sehr verschlungen und abenteuerlich und Edmund de Waal hat sich in seinem Roman das Ziel gesetzt, diesen Weg ein bisschen besser nachzuvollziehen. Er führt den Leser nach Paris, Wien und Odessa und begibt sich damit selbst auf Spurensuche. Er berichtet von Charles, der auch lose mit Marcel Proust bekannt war und ein begeisterter Sammler war. Später erzählt er die Geschichte von Emmy, bei der die Netsukes schließlich im Ankleidezimmer gelagert werden. Am spannendsten und beeindruckendsten fand ich schließlich auch den Abschnitt, in dem die Ephrussis immer mehr an Ansehen verlieren und schließlich aus ihrer eigenen Villa ausziehen müssen.
All dies wird von Edmund de Waal sehr ansprechend geschildert. Der Roman ist sicherlich kein page turner und auch nicht wirklich leicht zu lesen; de Waal hat sehr intensiv geforscht und recherchiert und lässt den Leser an seinen Ergebnissen und Erkenntnissen teilhaben. Das ist nicht immer einfach zu verstehen und erfordert an manchen Stellen auch Anstrengung.
Belohnt wird der Leser meiner Meinung nach aber mit einer interessanten, faszinierenden Familiengeschichte, die einem Einblicke in ganz verschiedene Aspekte gewährt.
10 Comments
Ada Mitsou
October 21, 2011 at 3:16 pmIch wollte dieses Buch neulich lesen und habe auch angefangen, doch nach 60 Seiten habe ich es wieder beiseite gelegt. Ich empfinde den Stil als sehr anstrengend, was weniger an der Wortwahl liegt, sondern viel mehr an dem, wie erzählt wird. Vielleicht war ich während des Lesens zu unkonzentriert, doch die vielen Namen und Sprünge auf den ersten Seiten verwirrten mich, sodass mir der Faden fehlte, an dem ich hätte entlang lesen können. Ein chronolgischer Aufbau hätte mir also mehr zugesagt.
Doch aufgegeben habe ich noch nicht; ich werde das Buch später noch mal zur Hand nehmen.
maragiese
October 21, 2011 at 3:26 pmHallo Ada,
danke für deinen lieben Kommentar. Ich freue mich besonders darüber, da er mein erster Kommentar ist zu einer meiner Rezensionen. Das nimmt mir ein wenig das Gefühl, in einen luftleeren Raum hineinzuschreiben.
Ich gebe dir Recht, dass das Lesen des Buches in der Tat einiges an Arbeit erfordert. Auch ich hatte am Anfang erhebliche Schwierigkeiten mit den Namen, Verwicklungen, Zeitsprüngen und Geschehnissen. Mit der Zeit liest man sich aber irgendwann hinein – auch in die etwas anspruchsvollere Sprache. Ich hoffe sehr, dass du dem Buch irgendwann wirklich noch mal eine zweite Chance geben wirst und dann mehr Erfolg hast, als bei deiner ersten Lektüre!
Ada Mitsou
October 22, 2011 at 7:10 amWas, noch keine Kommentare? Das kann doch gar nicht sein, wo du doch bereits bei der Büchereule so interessante Bücher besprichst!
Sofern es in dem Forum nur eine buzzaldrin gibt, bist du mir dort schon des öfteren aufgefallen, weil deine Buchauswahl meistens meinen Leseinteressen entspricht. Ich kann mittlerweile schon wetten, dass ich ein etwas anspruchsvolleres Buch garantiert in deinem Regal finden könnte 😉
In letzter Zeit war es oft so, dass ich eine Rezension zu einem bestimmten Buch gesucht habe und meistens du die einzige warst, die dann schon eine geschrieben hatte. Ich wusste bis vor kurzem allerdings nicht, dass du auch einen Blog hast und werde nun mit Sicherheit öfter hier vorbeischauen.
Deine Einschätzung zum “Hasen” macht mir Hoffnung, dass sich ein zweiter Anlauf doch noch lohnen könnte. Wenn es soweit ist, melde ich mich hier noch mal.
Ein schönes Wochenende!
maragiese
October 24, 2011 at 9:22 amHallo Ada,
du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie sehr ich mich über deinen Kommentar hier gefreut habe! Ja, ich war auch “buzzaldrin” in der Büchereule, habe mich aber in den letzten Wochen dort sehr zurückgezogen, weil ich nicht mehr glücklich und zufrieden war … ich hatte mir einfach einen intensiveren Austausch zu den Büchern gewünscht und über das letzte halbe Jahr hinweg hatte sich bei mir das Gefühl entwickelt, dass ich diesen dort nicht finden kann. Vielleicht, weil ich Bücher lese, die dort nicht von vielen gelesen werden.
Aus diesem Grund habe ich beschlossen, einen Blog einzurichten, um auf diesem Weg vielleicht andere “Gesprächpartner” zu finden, die meinen Büchergeschmack teilen oder Lust haben über Bücher zu diskutieren, die ich gerne lese bzw. lesen möchte.
Ich bin schon gespannt, wie dir der Hase im zweiten Anlauf gefallen wird und freue mich über eine Rückmeldung!
buzzaldrin
atalante
October 27, 2011 at 12:23 pmVielen Dank für die schöne Rezension. Das ist eines der Bücher, die ich alleine schon wegen Proust unbedingt noch lesen werde.
Trägt Charles Ephrussi im Roman eigentlich auch den Spitznamen “Matame”? Inwieweit spielen die Pariser Salons oder auch Proust eine Rolle?
maragiese
October 27, 2011 at 2:16 pmHallo atalante,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Ich hatte mir schon aufgrund deiner bisherigen Rezensionen gedacht, dass du eine Begeisterung für Marcel Proust hegst. Ich habe meine Masterarbeit zum Teil über Erinnerung und Vergangenheit bei Proust, insbesondere in Bezug auf die Madeleine-Episode geschrieben und kann diese Begeisterung aus diesem Grund sehr gut nachempfinden.
Zu deinen Fragen: Im Roman trägt Charles Ephrussi – zumindest so weit ich mich erinnern kann – diesen Spitznamen nicht. Wo hast du darüber gelesen? Die Pariser Salons spielen keine so große Rolle, werden aber erwähnt – vor allem Charles geht dort gerne hin. Proust spielt schon eine größere Rolle und wird auch immer wieder erwähnt – vor allem der interessante Zusammenhang, dass Charles Ephrussi das Vorbild für Swann war. Daneben werden auch Stellen aus Roman von Joseph Roth, Robert Musil und Karl Kraus zitiert.
Es lohnt sich wirklich schon, dass Buch allein aufgrund der Beschreibung Charles Ephrussis zu lesen – eine wirklich faszinierende Persönlichkeit!
maragiese
October 27, 2011 at 8:05 pmP.S.:
Bei Proust fällt mir noch ein anderes Buch ein, auf das ich kürzlich im Buchladen aufmerksam geworden bin: Prousts Mantel: Die Geschichte einer Leidenschaft von Lorenza Foschini. Hast du das als quasi Proust-Expertin schon ins Auge gefasst?
atalante
November 2, 2011 at 4:06 pmDer Hinweis auf diesen Spitznamen findet sich bei Michel-Thiriet, Das Marcel Proust Lexikon.
Prousts Mantel kenne ich noch nicht, wurde aber schon darauf hingewiesen. Danke auch für Deine Mühe.
Es war bestimmt spannend über diesen Aspekt zu arbeiten. Einen meiner Blog-Einträge widme ich ja der Madeleine und bin damals auch über einen sehr interessanten Aufsatz des Lebensmittelchemikers Klaus Dürrschmid und eine Neuerscheinung des Hirnforschers Jonah Lehrer gestoßen. Beides lesenswert.
maragiese
November 7, 2011 at 12:36 pmHallo atalante,
herzlichen Dank für die spannenden Lektüretipps – das Buch von Jonah Lehrer hat mich sofort angesprochen und ich habe es mir gleich bestellt.
Dein Leseprojekt – vielleicht passt sogar fast Lebensprojekt hier besser – mit Marcel Proust verfolge ich schon seit einiger Zeit mit sehr viel Spannung und Begeisterung. Ich hoffe, dass ich irgendwann auch genügend Durchhaltevermögen aufbringen kann um mich durch “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” durchzuarbeiten. Seit einigen Monaten lese ich auf der Toilette immer einen Eintrag aus “Schmidt liest Proust”, wodurch man zumindest kleine Einblicke bekommen kann …
Donnerstags bei Kanakis - Elisabeth de Waal
August 12, 2014 at 3:54 pm[…] Edmund de Waal, der vor drei Jahren die Geschichte seiner Familie niederschrieb und unter dem Titel Der Hase mit den Bernsteinaugen veröffentlichte. Im Vorwort von Donnerstags bei Kanakis erzählt Edmund de Waal davon, wie er […]