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Deutscher Buchpreis 2015

Gehen, ging, gegangen – Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen hochaktuellen, wichtigen und lesenswerten Roman vor. Einen Roman, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung von der Realität eingeholt wurde und dem Buch damit möglicherweise etwas aufbürdet, das dieses gar nicht verdient.

Erpenbeck

Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?

Das beherrschende Thema in Gehen, ging, gegangen ist die Zeit: Richard hat zu viel freie Zeit, seitdem er in Rente gegangen ist. Seine Frau ist verstorben, er lebt alleine und seitdem er nicht mehr arbeitet – er ist viele Jahre lang Professor gewesen – erscheint ihm das Vergehen der Zeit noch bedrückender, noch langsamer, noch kräftezehrender. Die Zeit, die ihm bleibt, ist begrenzt, doch womit soll er sie füllen? Was kann man mit dem Leben anfangen, wenn man plötzlich nichts mehr hat – keine Frau, keine Arbeit, keinen geregelten Tagesablauf?

Auch die Menschen, die auf dem Oranienplatz kampieren, verfügen über viel freie Zeit. Es handelt sich um Flüchtlinge, um Asylbewerber, die in Deutschland ein neues Zuhause finden wollen. Sie hoffen auf Arbeit, auf Sicherheit, auf ein besseres Leben. Sie suchen Schutz vor dem Krieg, vor den Bomben, vor den Gewehrsalven. Auf ihrer Flucht haben sie einen Weg eingeschlagen, der ihnen das Leben hätte kosten können – einzig und allein von der Hoffnung getragen, dort wo sie ankommen, ein besseres Leben führen zu können. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, die Zeit vergeht schleppend, ohne, dass sie sinnvoll gefüllt werden könnte.

Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch.

Jenny Erpenbeck führt beide zusammen: die Gruppe Flüchtlinge und Richard, den emeritierten Professor. Richard wird zufällig auf die Männer aufmerksam, er sieht einen Nachrichtenbeitrag über sie, als sie sich dazu entscheiden, in den Hungerstreik zu treten. Sie haben genug davon, Zeit zu vertun. Richard erinnert sich daran, kurz zuvor am Oranienplatz vorbeigelaufen zu sein – so in seiner Welt gefangen, dass er all die Männer und ihr Schicksal gar nicht wahrgenommen hat. Die hungernden Flüchtlinge vom Oranienplatz lassen Richard nicht mehr los, er möchte sie kennenlernen, möchte etwas über ihre Leben erfahren. Kurzerhand beschließt er, sie aufzusuchen, um ihnen all die Fragen zu stellen, die ihn umtreiben.

Wo sind Sie aufgewachsen? Welches ist Ihre Muttersprache? Welcher Religion gehören Sie an? Wie viele Menschen gehören zu Ihrer Familie? Wie sah die Wohnung, das Haus aus, in dem Sie aufwuchsen? Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt? Gab es einen Fernseher? Wo schliefen sie? Was gab es zu essen? Was war in Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Haben Sie eine Schule besucht? Was für Kleidung trugen Sie? Gab es Haustiere? Haben Sie einen Beruf gelernt? Haben Sie selbst Familie? Wann sind Sie aus Ihrer Heimat weggegangen? Warum? Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Mit welchem Ziel sind Sie aufgebrochen? Wie haben Sie Abschied genommen? Was haben Sie mitgenommen, als Sie weggingen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich? Wenn Sie Kinder hätten, die hier aufwachsen, was würden Sie ihnen von der Heimat erzählen? Können Sie sich vorstellen, dass Sie hier alt werden? Wo soll man Sie begraben?

Richard befragt die Männer, erforscht ihre Geschichten, begleitet sie in den Deutschunterricht. Während ihm die Flüchtlinge zu Beginn noch fremd gewesen sind, ihr Schicksal ihn im Vorbeigehen sogar gar nicht auffiel, werden sie plötzlich zu einem Teil seines eigenen Lebens: er wird für sie zu einem Ersatzvater, zu einem väterlichen Freund. Er unterstützt sie bei Arztbesuchen und Behördengängen, lädt einige von ihnen zu sich nach Hause ein. Richard und die geflüchteten Männer könnten nicht verschiedener sein, sie stammen aus völlig unterschiedlichen Welten. Bevor die Flüchtlinge in sein Leben traten, sah Richard sich mit einer Zeit konfrontiert, die verging ohne gefüllt zu werden. Das Schicksal der traumatisierten Männer füllt sein Leben und seine Zeit nun auf vorher nie geahnte Art und Weise aus. Plötzlich hat er wieder eine Aufgabe, sein Leben hat wieder einen Sinn und die Zeit ist wieder kostbar geworden. Der Schluss, den man hier als Leser ziehen könnte, mag platt wirken und doch hat mich das Aufgehen von Richard in einer neuen Aufhabe tatsächlich gepackt.

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen lesenswerten und wichtigen Roman vor, der mich in seiner Nüchternheit sehr gerührt hat. Die großen Momente des Buches liegen zwischen den Worten, zwischen den Sätzen, in all dem, was auch nicht gesagt wird. Die Sprache ist einfach, angenehm zurückhaltend, beinahe leise. Die Autorin hat sich einen stoischen Erzähler gesucht, der sachlich auf das Leben blickt und sich nur selten aus der Ruhe bringen lässt. Manchen mag das farblos erscheinen, manchen mag das erzählerische Momentum fehlen – für mich ist Gehen, ging, gegangen dennoch stimmig. Im Mittelpunkt stehen – neben dem Thema Zeit – die Geschichten der Flüchtlinge, die viel Geld bezahlt und ihr Leben riskiert haben, um es nach Deutschland zu schaffen. Ohne dort wirklich erwünscht zu sein, ohne die Aussicht zu haben, dort bleiben zu dürfen. Die Geschichten, die sie mit sich tragen, sind herzzerreißend und das, was sie aufgeben mussten unvorstellbar.

“[…] wenn Krieg ist, gibt es nichts anderes als Schlagen und Schießen, Schlagen und Schießen, wenn Krieg ist, geht alles in Scherben, wenn Krieg ist, sieht man den Krieg, und sonst nichts mehr.”

Jenny Erpenbeck hat mit Gehen, ging, gegangen ein Buch geschrieben, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung schon längst von der Wirklichkeit überholt wurde. Wer das Buch heutzutage aufschlägt, der liest es mit einer ganz anderen Erwartungshaltung, denn das, von dem er liest, ist bereits Teil unserer Realität geworden. Ich glaube, dass dieses Schicksal dazu führen kann, dem Buch Unrecht zu tun. Für mich ist Gehen, ging, gegangen ein lesenswerter und wichtiger Roman, der sich auf mehreren Ebenen mit zentralen Themen unserer Zeit beschäftigt: was ist mit Recht und Unrecht? Was ist mit der Zeit, die uns zur Verfügung steht? Wie können wir sie sinnvoll nutzen? Wie weit darf Hilfe gehen?

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Knaus Verlag, München 2015. 352 Seiten, €19,99. Weitere Rezensionen gibt es auf: Literatur leuchtet | Das graue Sofa | Lust auf Lesen

Applaus für Bronikowski – Kai Weyand

Der Job ist weg, die Freundin ist abgehauen, das Geld ist alle: Kai Weyands Protagonist Nies hat es in Applaus für Bronikowski wirklich nicht leicht. Doch dann findet er durch Zufall einen neuen Job in einem Bestattungshaus, der sein Leben auf den Kopf stellen soll. Applaus für Bronikowski ist amüsant, unterhaltsam und überaus lehrreich.

Applaus für Bronikowski

Der achtzehnte März brachte die erste warme Frühlingsluft des Jahres. NC wurde an diesem Tag einunddreißig, und außer der Gewissheit, dass sein Bruder anrufen würde, um ihm zu gratulieren, hatte er keine Vorstellung, was er sich von diesem Ereignis versprach.

Seit er dreizehn Jahre alt ist, möchte Nies nur noch NC genannt werden. NC steht für No Canadian – als seine Eltern im Lotto gewannen, beschlossen sie, nach Kanada auszuwandern und die Kinder auf sich allein gestellt zurück zu lassen. Sie wollten sich endlich ihren Lebenstraum erfüllen – einen Traum, in dem ihre Kinder keinen Platz hatten. Nies blieb mit seinem achtzehn Jahre alten Bruder Roland zurück und nannte sich seitdem nur noch NC. Die Brüder sind so unterschiedlich, dass sie sich kaum verstehen. Während Roland später ein erfolgreicher Banker wird, entwickelt sich NC zu einem Sonderling. Eine Lehre als Landschaftsgärtner hat er abgebrochen, auch in der Systemgastronomie kann er nicht Fuß fassen. Die Anstellung als Hausmeister verliert er kurz vor seinem einunddreißigsten Geburtstag – genauso wie seine Freundin Kornelia.

Es ist eine Entscheidung, die man Kornelia kaum übel nehmen kann: NC ist ein Tagträumer, der sein Leben denkt, statt es zu leben. Worte zerlegt er in ihre einzelnen Bestandteile, macht sich Gedanken über Silben und den Sinn der Sprache. Verliert sich in Philosophiererein über die Frage, wie es einem dreibeinigen Hund gelingen kann zu pinkeln  – nur um dann festzustellen, dass der Hund es einfach tut. Ohne lange nachzudenken, ohne das Für und Wider abzuwägen. Eine Fähigkeit, die NC eindeutig nicht besitzt.

NC hatte schon immer viel gelesen, aber nun fing er an, Bücher zu verschlingen. Nicht nur Romane, sondern auch Gedichte. Er wollte hinter das Geheimnis der Wörter kommen, wollte verstehen, was sie in ihrem Kern bedeuteten, warum manche so tief in einen eindrangen, als wären sie Messer, und manche an einem abprallten, als wären sie Gummibälle, warum ihr Klang nicht unbedingt ihre Bedeutung widerspiegelte und warum man ihnen hilflos ausgeliefert war.

Es ist ein Zufall, der NC aus seiner Lethargie befreit: an seinem Geburtstag lässt er sich beim Besuch einer Bäckerei von der Verkäuferin eine Straße empfehlen, in die er spazieren könnte. Sein Weg führt ihn in die Holpenstraße, dort stößt er auf ein Bestattungsinstitut und – es ist ein ziemlich großer Zufall – findet dort schlussendlich einen Job. Doch nicht nur das: NC lernt als Bestatter plötzlich ganz erstaunliche Dinge über Leben und Tod. Vor allen Dingen lernt er, wie wohltuend es sein kann, das eigene Leben in die Hand zu nehmen …

Er war einunddreißig, hatte keinen Job, keine Freundin und nicht genügend Geld, um die Miete für den nächsten Monat bezahlen zu können. Börsennotiert wäre der Kurs seiner Lebensaktie wohl wirklich auf Ramschniveau gesunken. Aber: Er glaubte nicht an Aktien, und er wollte nicht heute damit anfangen.

Kai Weyand legt mit Applaus für Bronikowski ein erstaunliches Buch vor, das auf herrlich amüsante Weise einen Blick auf das Leben und den Tod wirft und dabei gleichzeitig mit den Vorurteilen und Klischees gegenüber dem Bestatterberuf aufräumt. Komik und Tragik gehen dabei Hand in Hand, wobei das Komische eindeutig überwiegt. Kai Weyand ist es ganz wunderbar gelungen, eine etwas unschlüssige und verzagte Hauptfigur zu zeichnen und sie immer wieder in grotesk-skurrile Situationen zu schicken. Obwohl NC schon einunddreißig Jahre alt ist, liest sich Applaus für Bronikowski fast wie ein Coming-of-Age-Roman: erst als Bestatter und im Anblick des Todes, gelingt es dem friedvollen Taugenichts, sein Leben endlich zu meistern und in die eigene Hand zu nehmen. Als ich das Buch zuklappte, fühlte ich mich erheitert, gut unterhalten und seltsam berührt – es ist uncool, ein Träumer und kein Macher zu sein, aber NC hat sich dann irgendwie doch in mein Herz geschlichen. Und ganz nebenbei habe ich auch noch alle Feinheiten des Bestatterwesens kennengelernt.

Für mich ist Applaus für Bronikowski ein feiner kleiner Roman, der mich gut unterhalten und dennoch nachdenklich gemacht hat. Eine schöne Unterhaltung und ein Roman, der in diesem Jahr zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreis stand.

Kai Weyand: Applaus für Bronikowski. Wallstein, Göttingen 2015. 188 Seiten, €19,90. Weitere Besprechungen bei: Fantasie und Träumerei, Fräulein Julia, Zeilensprünge und Poesierausch.

Winters Garten – Valerie Fritsch

Valerie Fritsch erzählt in Winters Garten mit Eleganz und Wucht vom drohenden Untergang der Welt. Ihre Sprache ist dabei kunstvoll, ihre Bilder eindrucksvoll – nur eine wirkliche Geschichte, die hat mir irgendwie gefehlt.

Fritsch

Die Kindheit erschien ihm jetzt als ein Ort, an dem man später groß sein möchte, um endlich für nichts mehr zu klein zu sein, und gleichzeitig als einer, vor dem man sich ein Leben lang retten muss.

Anton Winter wächst idyllisch auf, mit seinen Eltern und seinem Bruder Leander lebt er in einer Gartenkolonie – fernab der großen Stadt. Seine Kindheit erlebt er im Einklang mit der Natur – er erlebt, wie Neues geboren wird und Altes stirbt. Seine Großmutter bewahrt in Formalin eingelegte Föten in der Speisekammer auf, doch selbst das kann den Jungen nicht wirklich gruseln. Die Kinder in der Kolonie leben ihre Leben mit ungeheuer viel Intensität – alles, was sie wahrnehmen, nehmen sie intensiv war: sie riechen, schmecken und sehen  und stürzen sich ins Leben. Als die Großmutter stirbt, wird die Kolonie für Anton jedoch unbewohnbar. Hals über Kopf lässt er den Garten und die eigene Familie hinter sich, um in die Stadt zu ziehen.

Damit beginnt der zweite Teil des Romans, in dem Valerie Fritsch von dem erwachsenen Anton erzählt. Dieser ist Vogelzüchter geworden und lebt das Leben eines Eigenbrötlers. Er ist ein wenig kauzig, ein bisschen verschroben. Die Stadt in der er lebt ist nicht mehr vergleichbar mit einer Stadt, wie wir sie heutzutage kennen. Es gibt Massenselbstmorde und in den Krankenhäusern arbeiten nur noch Freiwillige. Ein Weltuntergang steht bevor. Mitten in diesem apokalyptischen Chaos begegnet er Frederike und verliebt sich in die verhärmte und seltsame Frau – Anton, der eigentlich ewiger Junggeselle ist. Zum ersten Mal im Leben begegnet Anton der Liebe und muss gleichsam feststellen, dass diese endlich ist …

Es schien, als fräßen die Träume auf, was man je gesehen hatte, als zersetzte sich die Welt im Traum und wurde fremd, wie sie auch am Tag, den Menschen von einer bekannten zu einer unbekannten geworden war. Ähnlich den Farben, die mit der Zeit immer mehr verblassten, lösten sich auch die Formen ein nach der anderen auf. Die Geraden der Häuser und des Horizonts, die Ecken der Gegenstände, die Windungen der Treppen, die Rundungen der Kaffeetassen und der Wellen, die Linien der Gesichte wichen erst ab von ihrer gewohnten Beschaffenheit, gingen später verloren und kamen nicht wieder, wenn man nur lange genug schlief. Man wurde blind über Nacht.

In Winters Garten entwirft Valerie Fritsch mit großartigen Worten ein bedrohliches Szenario, ohne dieses jedoch genauer zu beschreiben. Vieles bleibt diffus, vieles wird lediglich angedeutet. Klar ist nur eines: die Welt, wie wir sie kennen, ist nicht mehr und ihr drohender Untergang steht kurz bevor.

Diese bezaubernde und wuchtige Sprache ist etwas, für das Valerie Fritsch allerorts gelobt wird und diesem Lob kann ich mich nur anschließen. Der jungen Autorin gelingt es tatsächlich, traumhafte Bilder zu schaffen und dabei so zu erzählen, dass man beim Lesen wie in einem Sog in das Buch gezogen wird. Während mir der erste Teil des Buches noch ausgesprochen gut gefallen hat und ich die Beschreibungen der idyllischen Kindheit sehr genossen habe, hatte ich mit dem zweiten Teil doch meine Schwierigkeiten. Der Weltuntergang schwebt bedrohlich über dem Text, doch dabei bleibt alles sehr vage. Es herrscht eine große Sprach- und Wortlosigkeit, auch zwischen Anton und Frederike, die ich mir beim Lesen kaum vorstellen konnte, weil sie so blass bleibt.

Ich habe schon lange mit keinem Menschen mehr gesprochen. Manche haben mir zugewinkt, aber niemand hat ein Wort gesagt in den letzten Wochen. Die Kinder weinen, und alle anderen schweigen. Vielleicht ist die Sprache verlorengegangen da draußen.

Sprachlich schafft die Autorin es, mich zu beeindrucken, doch ihr Roman bleibt mir dabei zu sehr Stückwerk, das aus vielen einzelnen Szenen zusammengesetzt wurde. Vielleicht bin ich als Leserin zu verwöhnt, doch ich habe mich in Winters Garten nicht ausreichend an die Hand genommen gefühlt – als Leserin muss man sicherlich nicht alles erklärt bekommen, aber ich hätte mir gewünscht, dass Zusammenhänge offensichtlicher gewesen wären. Stattdessen habe ich den Roman als sperrig empfunden, der nicht unbedingt dazu einlädt, an der Seite der Figuren in eine Geschichte einzutauchen.

Winters Garten ist ein sprachmächtiger Roman einer hochveranlagten Autorin, dem es jedoch für mein Empfinden an Charakteren und einer wirklichen Handlung fehlt. Beim Zuklappen des schmalen Büchleins habe ich mich mal wieder gefragt, was eigentlich wichtiger ist: die Sprache oder der Inhalt? In diesem Fall hätte eine bessere Mischung dem Buch gut getan. Neben der wahrlich bezaubernden Sprache bleibt dieser ungewöhnliche Roman dann doch erschreckend blass und dürr.

Valerie Fritsch: Winters Garten. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 154 Seiten, €16,95. Ein ganz anderes Leseerlebnis hatte Buchpreisblogger Tobias Nazemi, für den “Winters Garten” ein Meisterwerk ist.

Die Shortlist: eine kleine Enttäuschung

Endlich ist sie da, die Shortlist! Heute um genau 10 Uhr wurde bekannt gegeben, welche sechs der insgesamt 20 Titel es auf die finale Liste geschafft haben. Jetzt müssen wir uns noch bis zum 12. Oktober gedulden, denn dann wird der Gewinner bekannt gegeben.

Auf der Shortlist stehen:

Jenny Erpenbeck: „Gehen, ging, gegangen“ (Knaus Verlag)
Rolf Lappert: „Über den Winter“ (Hanser Verlag)
Inger-Maria Mahlke: „Wie Ihr wollt“ (Berlin Verlag)
Ulrich Peltzer: „Das bessere Leben“ (S. Fischer)
Monique Schwitter: „Eins im Andern“ (Droschl-Verlag)
Frank Witzel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ (Matthes & Seitz)

PicMonkey Collage

Claudia Kramatschek begründete die Wahl, die natürlich nicht unbeeinflusst von der aktuellen politischen Situation gewesen sein kann, wie folgt:

„Familiäre Fluchtwege und interkontinentale Flüchtlingsschicksale, einstige ideologische Kämpfe und der melancholische Abschied von solchen, Varianten männlicher Liebe und weiblichen Ringens mit der Macht: Die sechs von uns ausgewählten Romane sind bilanzierende Rückschau und kritische Bestandsaufnahme zugleich, die unserer Gegenwart noch im Gewand der Historie – seien das die Kulissen des elisabethanischen Zeitalters, seien das die zwölf Apostel – einen erhellenden Spiegel vorhalten. Dies gelingt ihnen in je eigener Weise mit sprachlicher Verve ebenso wie mit formaler Finesse. Dieses Vertrauen in die Kraft der Fiktion als ein immer wieder wagnisreiches Kräftemessen mit Sprache und Form verbindet alle sechs Romane. Das sehr unterschiedliche Ergebnis dieses Kräftemessens hat uns in jedem einzelnen der nun ausgewählten Romane einhellig überzeugt“

Im Gegensatz zum vergangenen Jahr, überrascht mich die Shortlist in diesem Jahr doch sehr – das spiegelt sich auch darin wider, das es keiner von unseren Favoriten auf die Shortlist geschafft hat. Mir fehlt vor allen Dingen der Roman von Kai Weyand, aber auch die Abwesenheit vom hochgelobten Clemens Setz überrascht mich natürlich. Auch mit der Wahl von Ulrich Peltzers Roman bin ich nicht zufrieden – von Tobias Nazemi wurde das Lektüreerlebnis mit diesem Buch als Qual beschrieben. Nachdem mich die Auswahl auf der Longlist begeistern konnte, muss ich gestehen, dass mich die kurze Liste doch enttäuscht – der Deutsche Buchpreis versteht sich auch als Marketingpreis, doch ich frage mich, ob man mit diesen Büchern wirklich viele Menschen zum Lesen verführen kann. Ich werde mich auf jeden Fall überraschen lassen: die Bücher von Jenny Erpenbeck, Inger-Maria Mahlke und Frank Witzel.

Wie ergeht es euch mit der Shortlist? Seid ihr zufrieden? Welche Bücher fehlen euch?

Die Shortlist-Favoriten der Buchpreisblogger

So langsam beginnt die heiße Phase des Deutschen Buchpreis: morgen um 10 Uhr wird die Jury endlich die mit Spannung erwartete Shortlist bekannt geben. Selbstverständlich sind wir Buchpreisblogger auch schon aufgeregt und gespannt darauf, welche Titel sich auf der kurzen Liste wiederfinden werden. Wir haben uns hinter den Kulissen ein paar Gedanken gemacht, angeregt diskutiert und veröffentlichen heute – vierundzwanzig Stunden vor der offiziellen Shortlist – unsere eigene Favoritenliste.

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Seit dem 20. August lesen sich sieben ausgewählte Literaturblogger durch die Longlist des Deutschen Buchpreises. 24 Stunden vor der offiziellen Bekanntgabe der offiziellen Shortlist stellen die Buchpreisblogger jetzt ihre Favoriten für die Shortlist vor.

Zwei Frauen und vier Männer haben nach Ansicht der Literaturblogger gute Chancen am 12.Oktober für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet zu werden. Mit dabei sind die Autorinnen Getraud Klemm mit Ihrem Roman „Aberland“ und Valerie Fritsch mit „Winters Garten“. Unter den männlichen Autoren haben es Peter Richter, Clemens J. Setz, Heinz Helle und Kai Weyand mit ihren nominierten Romanen auf die Blogger-Shortlist geschafft.

Ob die Favoriten der Blogger es einen Tag später auch auf die offizielle Jury-Shortlist des Buchpreises schaffen, bleibt abzuwarten. Eines ist aber jetzt schon sicher: die Blogger-Empfehlungen aus der Longlist werden im Web vielbeachtet und in den sozialen Netzen eifrig kommentiert und geteilt.

Die Buchpreisblogger sind:

buchrevier – Tobias Nazemi | Buzzaldrins Bücher – Mara Giese |Kaffeehaussitzer – Uwe Kalkowski | Klappentexterin – Simone Finkenwirth | lustauflesen.de – Jochen Kienbaum | masuko 13 – Jacqueline Masuck | Sätze & Schätze – Birgit Böllinger

Und hier unsere Shortlist-Favoriten:

Valerie Fritsch, Winters Garten
Heinz Helle, Eigentlich müssten wir tanzen
Gertraud Klemm, Aberland
Peter Richter, 89/90
Clemens J. Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Kai Weyand, Applaus für Bronikowski


Unsere eigene Favoritenliste ist selbstverständlich genauso angreifbar, wie die offizielle Liste – wir sind auf jeden Fall schon jetzt gespannt, ob es Überschneidungen geben wird. Ich selbst muss ja gestehen, dass ich bisher noch kein Longlistbuch gelesen habe, das mich überzeugen konnte: Winters Garten ist zwar sprachgewaltig, hat darüber hinaus aber nur noch wenig zu bieten. Baba Dunjas letzte Liebe ist eine leichte Lektüre für einen Nachmittag und auch Über den Winter konnte mich leider nicht begeistern.

Wie geht es euch denn? Habt ihr schon Longlistbücher gelesen, die einen Platz auf der kurzen Liste verdient hätten?

Baba Dunjas letzte Liebe – Alina Bronsky

Alina Bronsky erzählt in ihrem neuen Roman eine Geschichte von Heimat und Heimkehr. Es geht um Tschernobyl und es geht um die Menschen, die trotz der Gefahr zurückkehren, um dort zu sterben, wo sie geboren worden. Aus diesem ernsten Thema macht Alina Bronsky einen sommerlich leichten Roman – das ist nett zu lesen, kann mich aber nicht gänzlich überzeugen.

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Nach dem Reaktorunglück bin ich, wie fast alle, weggegangen. Es war 1986, und am Anfang wussten wir nicht, was passiert war. 

Baba Dunja kehrt in ihr Heimatdorf Tschernowo zurück, um die letzten Tage ihres Lebens dort verbringen zu können, wo sie ihr ganzes vorheriges Leben gelebt hat. Dort wo sie ihre zwei Kinder groß gezogen hat, die schon längst nicht mehr in Russland wohnen. Dort, wo sie ihren Mann Jegor kennengelernt hat. Das Dorf ist idyllisch – von den dreißig halbverfallenden Häusern ist mehr als die Hälfte wieder bewohnt.

Es ist ein erstaunliches Phantasiekonstrukt, das Alina Bronsky in ihrem Roman beschwört: sie erzählt von Menschen, die in die Sperrzone rund um Tschernobyl zurückkehren. Es handelt sich um alte Menschen, um Menschen die bereits erkrankt sind, die nicht mehr viel Leben vor sich haben. Es handelt sich um Menschen, die ihr restliches Leben lieber in ihrer verstrahlten Heimat verbringen, als in einer anonymen Hochhaussiedlung in der Großstadt. Also Gemeinschaft statt Entfremdung und sozialer Kälte. In Tschernowo hat sich tatsächlich eine erstaunliche Gemeinschaft gebildet: da gibt es Baba Dunja, die ehemalige Krankenschwester, die für alle die Dorfvorsteherin ist. Da gibt es Marja und ihren Hahn Konstantin. Da gibt es Petrow, der vom Krebs zerfressen wird. Da gibt es den alten Sidorow, der glaubt, mit seinem Plastiktelefon in die weite Welt hinaustelefonieren zu können. Dabei sind die Leitungen nach Tschernowo schon lange tot. Den Kontakt zur Außenwelt hält Baba Dunja per Post, Brief um Brief schickt sie zu ihrer Tochter und Enkelin nach Deutschland.

Tschernowo ist nicht groß, aber wir haben einen eigenen Friedhof, weil die in Malyschi unsere Leichen nicht mehr wollen. Im Moment wird in der Stadtverwaltung diskutiert, ob für eine Beisetzung der Tschernowo-Leute in Malyschi ein Bleisarg vorgeschrieben werden soll, weil verstrahlte Materie auch dann weiterstrahlt, wenn sie nicht mehr lebt.

Alina Bronsky erzählt diese Geschichte erstaunlich und poetisch – trotz der bedrückenden Lage, in der sich die Dorfgemeinschaft befindet, tragen die Bewohner ihr selbstgewähltes Schicksal mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Resignation. Der ruhige Erzählfluss nimmt zur Hälfte des Buches dann schließlich doch noch Fahrt auf: plötzlichen tauchen Fremde im Dorf auf und der Zusammenhalt der dörflichen Gemeinschaft wird nachhaltig erschüttert. Die plötzlich rasant einsetzende Handlung wirkte auf mich wenig stimmig, sondern schon fast ein bisschen herbeigezwungen. Ohne zu viel darüber zu verraten, was passiert, kann ich doch so viel sagen, dass die Handlung ab einem gewissen Punkt eine Wendung nimmt, mit der ich mich nur noch schwer anfreunden konnte.

Baba Dunjas letzte Liebe ist ein seltsames kleines Büchlein: gemocht habe ich die alte Dame. Baba Dunja geht tapfer durch ihr Leben und strahlt dabei eine gewisse melancholische Heiterkeit aus. Die Schwierigkeiten, die ihr im Leben begegnen, meistert sie mit stoischer Ruhe. Diese kleine Frau, die eigentlich gar nicht wirklich Baba Dunja heißt, hat mich mit ihrem Durchhaltewillen beeindruckt: sie liebt ihr Leben und sie liebt ihre Heimat, auch wenn sich diese in eine verstrahlte Sperrzone verwandelt hat.

Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht mal mehr zum Zähneputzen.

Alina Bronsky schafft auf gerade einmal 150 Seiten ein kleines Paradies, bei dem man manchmal fast vergessen kann, dass es verstrahlt ist. Es ist ein Paradies, das von Pragmatismus und Zufriedenheit geprägt ist, einer Zufriedenheit, die sich dadurch auszeichnet, dass auf diesem kleinen Fleckchen Erde eine Handvoll älterer Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das lässt sich schnell lesen, das berührt stellenweise, ab und an kann man auch lachen – doch sehr viel mehr bleibt leider für mich nicht übrig. Es gäbe so viel mehr zu erzählen über die Menschen in Tschernowo, es gäbe so viel mehr zu erzählen über all die losen Fäden, über das Reaktorunglück, über die seltsamen Fremden, die das Dorf aufsuchen, über die Enkeltochter. Doch all das wird nur angerissen und gestreift – was mir dabei fehlt, ist die Tiefe, die aus Baba Dunjas letzte Liebe mehr macht als eine nette und schnell zu lesende Lektüre für den Nachmittag.

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 160 Seiten, 16,90€. Auf Buzzaldrins Bücher gibt es bereits eine Besprechung zu Nenn mich einfach und Superheld sowie ein Interview mit der Autorin.

Die lange Liste: immer wieder ein großes Getöse

Am Mittwoch wurde sie endlich bekannt gegeben, die Longlist. Nun haben es Listen  an sich, dass sie immer unvollständig sind – keine Liste wird es schaffen, alle Leser und Leserinnen zufriedenzustellen. Es wird immer etwas fehlen: mal sind es die Frauen, mal die kleinen Verlage, mal ganz bestimmte Bücher. In diesem Jahr können einem übrigens – amüsanterweise – schon fast die großen Verlage fehlen: von Rowohlt ist kein einziges Buch nominiert und auch Hanser wurde nur ein einziges Mal auf die Liste gesetzt. Wie auch immer: fehlen kann einem immer etwas, mir fehlt z.B. “Altes Land”, das ich sehr gerne gelesen habe, und dennoch steckt mich die Begeisterung und Aufregung rund um den Deutschen Buchpreis einfach an. Für mich ist diese Liste eine große Entdeckungsreise – wie langweilig wäre es, dort nur Bücher zu finden, die ich bereits gerne gelesen habe. Wie schön ist es dagegen, dort auf Bücher aufmerksam zu werden, die man ansonsten vielleicht nicht entdeckt hätte: ich denke dabei an “Der Fuchs und Dr. Shimamura” oder “Lucia Binar und die russische Seele”.

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Für mich hat der Deutsche Buchpreis bereits seit Jahren eine große Strahlkraft – ich hole mir das Leseheftchen, laufe in die Buchhandlung und würde mir jedes Mal wieder am liebsten alle zwanzig Bücher auf einmal kaufen. Wenn der Deutsche Buchpreis lediglich ein Marketingpreis sein sollte, hat er bei mir damit zumindest durchschlagenden Erfolg. Aber im Ernst: ich glaube wirklich daran, dass dieser Preis viele Menschen zum Lesen und Kaufen von Büchern verführen kann, die sie ansonsten vielleicht nicht in die Hand genommen hätten.

Was ich eigentlich sagen möchte: mich hat bereits jetzt schon wieder das Longlist-Fieber gepackt und ich freue mich sehr darauf loszulesen. Wem es ähnlich geht, der hat nun bei mir die Chance, einen der nominierten Titel – “Winters Garten” von Valerie Fritsch – zu gewinnen. Kommentiert einfach bis zum 27.8.2015 diesen Beitrag und schon hüpft ihr in den Lostopf. Selbstverständlich könnt ihr mir auch eine E-Mail schreiben: mara.giese@buzzaldrins.de

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