Emily, allein – Stewart O’Nan

Download Emily“Emily ging allmählich dem Tod entgegen, ja, schön und gut, das galt für sie alle.”

Stewart O’Nan zeichnet in “Emily, allein” das berührende Porträt einer älteren Frau. Emily Maxwell ist Witwe, ihr geliebter Mann Henry ist schon vor sieben Jahren verstorben. Sie lebt immer noch in ihrem gemeinsamen Haus in Pittsburgh und hat es geschafft, sich dort auch alleine einzurichten und mit den Umständen zu arrangieren. Auch wenn es immer wieder Momente gibt, vor allem im trüben und kalten Winter, in denen sie sich alleine fühlt und ihren Mann Henry vermisst. Auch ihre beste Freundin Louise ist schon vor einer Weile verstorben. Aus der ehemaligen Clique ist Emily eine der wenigen, die noch übrig geblieben ist.

Emily hat sich in ihrem Leben gut eingerichtet. Sie lebt zusammen mit ihrem Hund Rufus, einem Spaniel, der auch schon sehr betagt ist und im Alter einige amüsante Macken entwickelt hat. Emily ist vielseitig kulturell interessiert und besucht Ausstellungen, hört gerne klassische Musik und liest sehr viel. Ihre engste Freundin ist ihre Schwägerin Arlene, die ihr vieles abnimmt. Beide unterstützen sich gegenseitig im Alltag. Zusammen sammeln sie Rabattcoupons, gehen essen, besuchen den Club …

Als Arlene ins Krankenhaus kommt, ändert sich Emilys Leben mit einem Schlag:   sie beginnt damit, Dinge wieder selbst in Angriff zu nehmen. Vor Arlenes Unfall hat sie meistens das Auto gesteuert, jetzt muss Emily lernen wieder vieles alleine zu bewältigen. Emily erlebt, wie viel Selbstständigkeit und Energie eigentlich noch in ihr steckt. Sie bringt den alten Oldtimer ihres Mannes wieder in Schuss und plant die Besuche ihrer Kinder.

“Emily sorgte sich um jeden Einzelnen von ihnen und um die Familie als Ganzes, besonders um Sarah und Justin, darum, was aus ihnen mal werden würde, und fand es ungerecht, dass sie es vermutlich nicht mehr miterleben würde. Sie hatte ihre eigenen Kinder aufwachsen sehen, vielleicht war das genug – als dürfe man nur ein gewisses Quäntchen vom Leben sehen, als sei die Zukunft, wie die Vergangenheit, notwendigerweise verborgen und rätselhaft.”

Ihre beiden Kinder Margaret und Kenneth sind schon lange erwachsen und leben mit ihren Partnern und Kindern ihr eigenes Leben. Dies ist nicht immer erfolgreich: man erfährt, dass Margaret lange Alkoholikerin war und erst seit kurzem trocken ist und auch Sam, der Sohn von Kenneth, hat Schwierigkeiten. Er hat die Uni abgebrochen und jobbt in einem Laden. Und Ella, Margarets Tochter hat erst vor kurzem entdeckt, dass sie lesbisch ist. Es fällt Emily immer wieder schwer zu erkennen, dass ihr Einflussbereich als Mutter und Großmutter begrenzt ist. Es ist faszinierend, wie viel Kraft, Aufwand und Planung Emily in diese Besuche steckt und wie schmerzhaft es für sie ist, ihre Lieben wieder gehen zu lassen. Auch wenn sie sich gleichzeitig wünscht, wieder alleine sein zu können.

“Sie war es gewohnt, allein zu leben. Obwohl sie alle von ganzem Herzen liebte, hatte sie vergessen, wie anstrengend andere Menschen sein konnten.”

Stewart O’Nan schaut in diesem leisen, aber nie langweiligen Roman, mit großer Ruhe und Gelassenheit auf die schmerzhaften Stellen. Auf die Stellen, die Angst machen. Nicht nur Emily, sondern wahrscheinlich jedem Menschen, der älter wird. Als Emily mitbekommt, dass das Haus ihrer langjährigen Nachbarin und Freundin Kay Miller verkauft werden soll, löst das einen unfassbaren Schmerz in ihr aus. Kay ist in einem Altersheim gestorben, einen Besuch hatte Emily bis zu ihrem Tod immer wieder aufgeschoben. Jetzt ist es zu spät dafür.

“Sie musste an die ganze Zeit denken, die sie vergeudet an all die sinnlosen Kämpfe, die sie ausgefochten hatten […].”

Als Leser begleitet man Emily durch ihren Alltag. Immer an ihrer Seite ist ihr Hund Rufus. Ich habe es als ermutigend und beeindruckend empfunden, wie viele Stolpersteine Emily trotz ihres Alters und ihres Alleinseins meistert.

Stewart O’Nan ist es gelungen, eine wundervolle, berührende, alte Frau zu zeichnen, die “gezwungenermaßen” entdeckt, wie viel Kraft eigentlich noch trotz all ihrer Zweifel in ihr steckt. Und Emily gelingt es, ein für sie erfülltes Leben zu führen.

“Sie würde danach beurteilt werden, wie sie ihr Leben gelebt hatte, nicht danach, wie sie es sich gewünscht hatte.”

Ich könnte mir vorstellen, dass der Roman viele Leser gespalten zurücklassen könnte. Der Roman wird sicherlich Gefahr laufen, als langweilig oder auch langatmig abgestempelt zu werden. Doch die, die sich auf den Roman einlassen, werden ein wunderschönes, berührendes Buch entdecken können. Eine ruhige, distanzierte Geschichte.

Ich hätte noch einmal weitere dreihundert Seiten über Emily lesen können, so habe ich mich in ihre kleine Welt versenkt. Und ich hoffe, dass ich – falls ich auch so alt werden sollte – ein bisschen was von Emily haben werden …

7 Comments

  • Reply
    Klappentexterin
    February 4, 2012 at 6:59 pm

    Liebe Mara,

    ich glaube, mir würde das Buch sehr gefallen, wohl auch deshalb, weil ich Stewart O’Nan sehr schätze. Ich habe noch einige Bücher von dem Amerikaner bei mir im Regal zu stehen. Das ist so eine Marotte von mir: Wenn mich ein Autor oder eine Autorin begeistert, möchte ich mehr als ein Buch haben, auch wenn mir durchaus bewusst ist, dass nicht alle Bücher gleich gut sind. “Alle, alle lieben dich” hat mich damals begeistert und mir Appetit auf mehr gemacht. Auch dieses hier wird meine Sammlung ergänzen. Danke, dass du für mich diesen schönen Buchdeckel geöffnet hast. Allein schon das Cover ist fantastisch! Darin kann ich mich so richtig verlieren wie du kürzlich in der Lektüre…

    Viele Grüße

    Klappentexterin

  • Reply
    buechermaniac
    February 6, 2012 at 11:09 am

    Liebe Mara

    Von Stewart O’Nan habe ich bereits “Letzte Nacht” gelesen, das mir sehr gut gefallen hat. Ich bin überzeugt, nach deiner schönen Rezension, würde mir auch dieser Roman sehr gefallen. Bücher dürfen ruhig leise sein, das heisst nie, dass diese langweilig sind. Vielleicht gerade diese Werke klingen lange in einem nach.
    Literarische Grüsse
    buechermaniac

    • Reply
      maragiese
      February 6, 2012 at 2:37 pm

      Hallo ihr beiden,

      ich habe mich sehr über eure Kommentare gefreut und dass ich mit meiner Rezension euer Interesse wecken konnte. Ich wünsche “Emily, allein” viele Leser und ich hoffe, falls ihr euch für das Buch entscheidet, dass es euch gefallen wird. Ich empfinde es genauso wie buechermaniac, dass Bücher gerne ruhig und leise sein dürfen und habe auch aus diesem Grund “Emily, allein” sehr gerne gelesen – ich bin mir nur nicht sicher, wie sehr dies den Massengeschmack trifft.

      Von Stewart O’Nan hatte ich zuvor nur “Eine gute Ehefrau” gelesen, was mir gut gefallen hat. “Emily, allein” hatte mich vom Thema so sehr überzeugt, dass es sofort gekauft werden musste. Auf meinem Stapel ungelesener Bücher liegt auch schon “Alle, alle lieben dich” …

      Ich bräuchte nur ein wenig mehr Zeit um alle Bücher auf diesem Stapel möglichst bald lesen zu können!
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    lesesilly
    February 7, 2012 at 6:19 am

    Liebe Mara,

    ich bin ein begeisterter Stewart O’Nan-Fan (habe bereits 5 Bücher von ihm gelesen) und habe gestern gerade Emily, allein angefangen. O’Nan ist ein wunderbarer Erzähler, man kann sich in seinen Geschichten verlieren.

    Auf Emily Maxwell trifft man übrigens auch schon in einem seiner früheren Werke. Dies ist “Abschied von Chautauqua”, in welchem Emily erst kurz verwitwet ist und nun ihr Sommerhaus in Chautauqua verkaufen muss, in dem jedes Jahr die ganze Familie zusammenkommt. Man lernt ihre Kinder und Enkelkinder kennen, welches sicherlich interessant für die neue Geschichte sein wird. Kann ich nur empfehlen!

    Liebe Grüße
    lesesilly

    • Reply
      maragiese
      February 7, 2012 at 12:46 pm

      Liebe Lesesilly,

      herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe! Ich bin schon sehr gespannt auf dein Urteil zu “Emily, allein” und würde mich natürlich über eine kurze Rückmeldung von dir hier sehr freuen!

      Auch in “Emily, allein” spielt das Sommerhaus in Chautauqua eine Rolle, ganz am Ende des Romans fährt sie dort hin und durch den Winter bringt sie eigentlich auch nur der Gedanke an den kommenden Sommer und den Besuch in Chautauqua. Danke dir für die tolle Buchempfehlung mit “Abschied von Chautauqua”, nach meiner Begeisterung über “Emily, allein” werde ich dieses Buch sicherlich auch bald lesen. Auch wenn ich ein wenig traurig darüber bin, dass ich die beiden Bücher wohl nicht in der richtigen Reihenfolge lesen werde …

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    lesesilly
    February 9, 2012 at 8:31 pm

    Liebe Mara,

    habe mich soeben von Emily verabschiedet. Wie immer bei Stewart O’Nan habe ich mich auch hier wieder sehr wohlgefühlt. Es wäre wirklich schön, wenn man seinen “Lebensabend” auch so wie Emily verbringen könnte. Ich finde, diese Geschichte hört sich nach einem zwar unspektakulären, aber schönen Leben an. Im Grunde so, wie es die meisten von uns führen. Wieder einmal muss ich sagen, dass O’Nan zu einem meiner Lieblingsschriftsteller gehört. Ein wundervolles Buch!

    Liebe Grüße
    lesesilly

    • Reply
      maragiese
      February 10, 2012 at 12:37 pm

      Liebe Lesesilly,

      ach, ich freue mich so sehr, dass auch dir “Emily, allein” so gut gefallen hat! Stewart O’Nan ist in der Tat ein toller Schriftsteller und auch ich zähle ihn nun sicherlich zum erweiterten Kreis meiner Lieblingsschriftsteller. “Emily, allein” ist nicht das letzte Buch, was ich von ihm gelesen haben werde.
      Ich finde es auch sehr mutig von ihm, sich an ein so auf den ersten Blick unspektakuläres Thema heranzuwagen … einer Figur wie Emily bin ich in der Literatur zuvor noch nicht so häufig begegnet.

      Ganz liebe literarische Grüße
      Mara

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: