“Wie werde ich reagieren, wenn der Tod kommt, wenn er vor mir steht? Alles, was ich gelernt habe, was ich seit zwanzig Jahren praktiziere, all die Vorbereitungen in Erwartung des Endes – wird es die Konfrontation mit der Realität aushalten?”
Bei dem Arzt und Forscher David Servan-Schreiber, der als Neurowissenschaftler in den USA ausgebildet wurde, wird mit 31 Jahren ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert. Ihm ist es gelungen, nach einer schwierigen Operation und nachfolgenden Behandlungen noch weitere 19 Jahre zu leben. In diesen 19 Jahren macht er es sich zu einer seiner wichtigsten Aufgaben, anderen Menschen bei ihrem Kampf gegen den Krebs zu helfen und sie zu unterstützen. Er schreibt mehrere Bücher, hält Vorträge, fährt auf Kongresse und gibt seine eigenen Erfahrungen an die Öffentlichkeit weiter, auch wenn er selber einschränkt, kein Patentrezept dafür zu haben, sich gegen Krebs zu schützen:
“Man muss die eigene Gesundheit pflegen, sein seelisches Gleichgewicht pflegen, die Erde um uns herum pflegen. Die Gesamtheit dieser Bemühungen trägt dazu bei, uns vor Krebs zu schützen, individuell und kollektiv, auch wenn es nie eine hunderprozentige Garantie geben wird.”
Nach beinahe zwanzig Jahren kehrt der Tumor zurück, größer und gefährlicher als zuvor und beeinträchtigt innerhalb kürzester Zeit sehr stark sein Leben. David Servan-Schreiber hat zunehmend motorische Einschränkungen, er kippt immer wieder einfach um, zieht sein linkes Bein nach, schielt. Mit der Zeit wird auch seine Stimme immer brüchiger, häufig kann er nur noch flüstern und kurz vor seinem Ende kann er sich nur noch durch leichtes Heben seiner rechten Hand und Bewegungen seiner Augenbrauen verständigen. Zwischen dem erneuten Entdecken des Tumors und dem Tod von David Servan-Schreiber liegen nur noch wenige Monate.
An diesem Punkt setzt “Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl” ein. David Servan-Schreiber schreibt über den Schmerz, den er dabei empfindet, drei junge Kinder zurücklassen zu müssen. Sein jüngstes Kind Anna wird erst geboren, nachdem der Gehirntumor schon wieder aufgetreten ist und er hat kaum noch Zeit sie kennen zu lernen. Er schreibt über die Monate nach dem erneuten Auftreten des Tumors – innerhalb kürzester Zeit wird er dreimal am Frontallappen operiert, unterzieht sich unterschiedlicher Therapien. Mitunter sehr schmerzhafter Therapien, die ihn sehr viel Kraft kosten. Und er schreibt über die Angst vor dem Tod, die Angst davor sterben zu müssen, die Angst davor, seine Kinder nicht mehr aufwachsen sehen zu können:
“Heute, wo meine Frist abzulaufen scheint, registriere ich, dass ich im großen Ganzen genauso reagiere wie viele Patienten, die ich als Psychiater behandelt habe, an Krebs oder anderen Leiden Erkrankte, die dem Tod ins Auge blicken mussten. Wie viele von ihnen habe ich Angst zu leiden, aber keine Angst zu sterben. Was ich fürchte, ist unter Schmerzen zu sterben.”
David Servan-Schreiber empfindet es als großes “Privileg”, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, seinen Abschied vorzubereiten. Zeit dafür zu haben, sich zu verabschieden. Er hat ein sehr großes Umfeld, viele Freunde und Verwandte, die stetig bei ihm sind, die ihn unterstützen und liebevoll auf seinem Weg begleiten und auf den Moment des Todes vorbereiten:
“Diesen entscheidenden Augenblick kann man mit der Hilfe guter ‘Verbündeter’ vorbereiten: mit Pflegekräften, Juristen und natürlich mit Freunden und Angehörigen. Ich empfinde diese Prüfung als lebenswichtig und es ist für mich noch eine Quelle der Hoffnung, dass ich sie gut bestehen werde. Und was wird danach ‘auf der anderen Seite’ passieren? Ich weiß es nicht.”
“Man sagt sich mehr als einmal Lebwohl” fällt eigentlich nicht in mein herkömmliches Beuteschema und aus diesem Grund hatte ich vor dem Beginn der Lektüre auch kaum Erwartungen an das Buch. Doch nun nach Beendigung muss ich zugeben, dass es mich sehr tief berührt, sehr nachhaltig beeindruckt hat. David Servan-Schreiber berichtet nüchtern und kühl über seine Ängste und Schmerzen und doch habe ich das, was er schreibt an keiner Stelle als emotionslos empfunden. Er kämpft sehr tapfer einen beinahe aussichtslosen Kampf, ohne aufzugeben. Ohne sich selbst aufzugeben. Nie, an keiner Stelle, habe ich das Gefühl gehabt, dass er die “Lust” am Leben verliert. Trotz der Situation, in der er sich befindet, empfindet er immer noch Glück. Die einfachsten Tätigkeiten wie spazieren gehen, einen Film schauen, ein gutes Essen genießen machen ihn glücklich.
“Ich tue jeden Tag etwas, das mir Freude bereitet, mehrmals am Tag. Ich habe viel Glück.”
Dieses schmale Büchlein ist ein beeindruckendes Zeugnis, eines beeindruckenden Menschen, der unnachgiebig um sein Leben gekämpft hat – dem es aber auch gelungen ist, im richtigen Moment den Tod zu akzeptieren und in Würde Abschied zu nehmen. Gerade dieser Aspekt, die Tatsache, dass das Sterben und der Tod nicht allein etwas sein muss, vor dem man Angst haben muss, etwas was man fürchten muss, hat mich sehr beeindruckt. David Servan-Schreiber bereitet sich mit einem gewissen Abschiedsschmerz auf den Tod vor (er plant seine Beerdigung, stellt eine Playlist zusammen, schreibt sein Testament), fühlt sich jedoch auch getröstet bei der Vorstellung von all dem Leid und den Schmerzen befreit zu sein. Für mein Empfinden gelingt es ihm sehr eindrücklich dem Tod, dem Prozess des Sterbens und der Angst vor dem Ungewissen zumindest ein ganz kleines bisschen den Schrecken zu nehmen und dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Ein nüchternes, unsentimentales Buch. Gerade diese Tatsache hat es für mich unendlich beeindruckend gemacht.
4 Comments
buechermaniac
February 16, 2012 at 11:35 amIch glaube, da müsste ich haufenweise Taschentücher neben mich legen. Schon nur deine Rezension treibt mir beinahe die Tränen in die Augen. Ich bewundere jeden Menschen, der seine Krankheit annehmen kann und vor seinem Tod noch alles organisieren kann und will. Es erfordert so viel Mut dazu.
LG buechermaniac
maragiese
February 16, 2012 at 12:57 pmLiebe buechermaniac,
es tut mir leid, dass ich schon allein durch meine Rezension dafür gesorgt habe, dass dir beinahe die Tränen kommen. Das lag ganz sicherlich nicht in meiner Absicht. Ganz im Gegenteil: mich hat das Buch weniger traurig, als zufrieden und ruhig zurückgelassen. David Servan-Schreiber gelingt es wirklich – zumindest für einen Moment – dem Tod seinen Schrecken zu nehmen und den Fokus darauf zu richten, sich in Frieden und Würde verabschieden zu können. Es gelingt ihm, das in den Mittelpunkt zu stellen, was ihn glücklich macht – nicht nur die Schmerzen und die Angst. Ein in der Tat sehr bewundernswerters und beeindruckendes Buch!
Liebe Grüße
Mara
Petra Gust-Kazakos
February 16, 2012 at 2:46 pmPuh, mir geht’s wie Büchermaniac, liebe Mara. Aber eine sehr gelungene Rezension, mit oder ohne Taschentuch!
Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl | David Servan-Schreiber | manfred schindler
March 10, 2012 at 7:13 pm[…] eine sehr ausführliche Rezension mit einer Reihe von Zitaten: http://buzzaldrins.wordpress.com/2012/02/15/man-sagt-sich-mehr-als-einmal-lebewohl-david-servan-schr… Die ersten drei Seiten vorgelesen: […]