“Zunächst erinnerte ich mich an die dreiwöchige Seereise als an eine ruhige Zeit. Erst heute, Jahre später, nachdem meine Kinder mich aufgefordert haben, die Reise zu schildern, wird sie zu einem Abenteuer und sogar zu etwas Bedeutsamen im Verlauf eines Lebens, wenn ich sie mit ihren Augen sehe. Zu einem Initiationsritus.”
Den Schriftsteller Michael Ondaatje kannte ich lange nur als Autor von “Der englische Patient”, das ich vor vielen vielen Jahren gelesen habe. Seine neueste Veröffentlichung “Katzentisch” wäre höchstwahrscheinlich an mir vorbeigegangen, wenn ich nicht einige begeisterte Stimmen darüber in dem Bücherforum Leselust gelesen hätte – und was für ein Buch mir dann entgangen wäre.
Michael Ondaatje erzählt in seinem Roman “Katzentisch” von drei Jungen, die auf dem Schiff Oronsay von Sri Lanka (was damals noch Ceylon hieß) alleine nach England reisen um dorthin auszuwandern. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des elfjährigen Michael, der mittlerweile schon ein alter Mann ist und sich an diese Reise als kleiner Junge zurück erinnert. An Bord wird Michael von allen nur Mynah genannt. Der Mynah ist ein
“[…] unzuverlässiger Vogel, dem man trotz seiner erstaunlichen stimmlichen Fähigkeiten nicht trauen kann. Damals war ich vermutlich der Mynah unserer Gruppe, der alles, was er aufschnappte, den beiden anderen weitererzählte.”
Auf dem Schiff gelingt es Michael sich schnell mit zwei anderen Jungen seines Alters anzufreunden: Ramadhin und Cassius, den er schon aus Schulzeiten kennt.
“Was hatte ich vor diesem Schiff in meinem Leben gekannt? […] Aber nun war beschlossen worden, dass ich mit dem Schiff nach England reisen sollte, und zwar ganz allein.”
Als einzige Ansprechpartner hat Michael seine Cousine Emily und Flavia eine Freundin seiner Familie, die sich auch beide auf dem Schiff befinden. Und am Ende seiner Reise wartet auf ihn in England seine Mutter, das hofft er zumindest.
Die Oronsay ist auch noch für heutige Verhältnisse ein recht großes Schiff, mit sieben Decks und mehr als sechshundert Passagieren, einem eigenen Gefängnis, einem Hundezwinger und sogar einem kleinen Swimmingpool. Also genug Raum für drei Jungen an der “Schwelle zur Pubertät” um sich auszutoben und vieles von der zwar begrenzten, aber sehr vielfältigen Welt auf dem Schiff zu entdecken. Mynah, Ramadhin und Cassius sitzen zusammen an Tisch Nr. 76, der auch als Katzentisch bezeichnet wird. Umgangssprachlich werden Tische, die weit weg stehen und aus der sonstigen Tischordnung fallen im übertragenen Sinn als Katzentisch bezeichnet. Auch auf der Oronsay ist der Katzentisch einer der unattraktivsten Tische, der in weiter Entfernung zum Tisch des Kapitäns steht. Zusammen mit den drei Jungen sitzen noch sieben Erwachsene an diesem Katzentisch. Alle diese sieben gehen – wie die Jungen im Laufe der Reise feststellen – interessanten Tätigkeiten nach oder verbergen sogar ein Geheimnis.
“Aber das Gute an unserem Tisch war, dass es offenbar verschiedene interessante Erwachsene gab. Wir hatten einen Botaniker unter uns und einen Schneider, der einen Laden in Kandy besaß. Und das Tollste war, dass wir einen Pianisten unter uns hatten, der heiter erklärte, er sei ‘auf den Hund gekommen’.”
Bei dem Pianisten handelt es sich um Mr. Mazappa, der dem Schiffsorchester angehört und den Jungs sehr viele musikalische Anekdoten erzählen kann … bis er unterwegs nach einem Halt in einem der Häfen das Schiff verlässt und nicht wieder zurückkehrt. Neben den Erwachsenen vom Katzentisch lernen die Jungen während der Überfahrt aber auch andere interessante Menschen kennen: einen Baron, der Mynah zu Diebstählen überredet, den todkranken Millionär Sir Hector und nachts beobachten sie immer den geheimnisvollen Gefangenen bei seinem Ausgang. Auch zu Emily hat Mynah während der Überfahrt Kontakt. Mynah, Ramadhin und Cassius lernen während der Überfahrt eine buntgemischte Schar fremder Menschen kennen; dies sind Begegnungen, die die drei für den Rest ihres Lebens prägen werden.
“Es würden immer Fremde wie sie sein, die mich an den verschiedenen Katzentischen meines Lebens zu einem anderen Menschen machen sollten.”
Auch nach der Ankunft bleiben Ramadhin und Mynah in Verbindung, später heiratet er sogar Ramadhins Schwester. Und auch Emily begegnet er viele Jahre später als anderer Mensch, in einem anderen Leben und auf einem anderen Kontinent wieder.
Michael Ondaatje ist mit dem Roman “Katzentisch” eine wunderschöne Geschichte gelungen, die mich von der ersten Seite an sofort gefangen genommen hat – als hätte ich selbst die drei Wochen zusammen mit Mynah, Ramadhin und Cassius auf dem Schiff verbracht. Die Sprache ist nüchtern und in fein miteinander verwobenen Bildern entwirft Ondaatje ein buntes Panorama an ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten. Trotz der Vielzahl an Figuren und Strängen (im Verlauf des Buches werden auch Episoden aus der Zeit vor der Schifffahrt, nach der Ankunft und der Jetztzeit berichtet), behält Ondaatje all diese Handlungsfäden sicher in der Hand. Fasziniert haben mich auch immer wieder die kurzen Passagen, in denen Ondaatje sein weitgefächertes Allgemeinwissen offenbart – sei es über verschiedene Pappelsorten oder auch Schiffe. Ondaatje entscheidet sich dafür, die Überfahrt aus der Perspektive von Michael als altem Mann zu erzählen. Eine kluge Entscheidung.
“Katzentisch” ist ein wunderschöner und eleganter Bericht über eine faszinierende Reise ohne jedoch auch die Schattenseiten eines Exillebens in einer fremden Kultur unerwähnt zu lassen.
18 Comments
Klappentexterin
February 26, 2012 at 5:51 pmMmmm, ich weiß nicht, liebe Mara, ob ich mich noch einmal an Herrn Ondaatje wagen soll? Ich hatte damals etliche Anläufe und habe “Der englische Patient” nie zu Ende gelesen, aber deine Rezension klingt so verführerisch… Mmmm.
buzzaldrinsblog
February 26, 2012 at 5:59 pmLiebe Klappentexterin,
ich kann deine Zweifel verstehen, da ich “Der englische Patient” zwar gelesen hatte, aber auch nicht wirklich begeistert gewesen bin. Seinen Roman “Divisadero” habe ich hier immer noch ungelesen im Regal stehen, mein Interesse wecken konnte er irgendwie nie so richtig bisher.
Aber “Katzentisch” ist wirklich grandios – ich stand dem Roman sehr zweifelnd gegenüber (das Cover ist ja auch nicht wirklich eine Augenweide), auch noch nach dem Kauf und mit Beginn des Lesens. Aber nach den ersten Seiten haben sich alle Zweifel zerstreut und ich bin für ein paar Tage nur noch mitgefahren auf der Oronsay, mit meinen drei Freunden.
Ich kann dich nur bestärken, dich doch noch mal an Michael Ondaatje zu wagen, da dir sonst ein wirklich großartiges Buch entgehen würde.
Literarische Grüße in der Hoffnung, dich überzeugt haben zu können,
Mara
haushundhirschblog
February 26, 2012 at 6:52 pmMir geht es wie der Klappentexterin! 🙂
Vielen Dank, Mara!
buechermaniac
February 27, 2012 at 9:49 amDa bin ich doch froh, habe ich “Der englische Patient” nicht an mich herangelassen, sondern nur den Film gesehen. Da kann ich mich unvoreingenommen an dieses Buch wagen, das mir, durch deine Rezension, Lust macht, es zu lesen.
Literarische Grüsse
buzzaldrinsblog
March 1, 2012 at 1:32 pmDa kannst du auch froh sein, liebe buechermaniac! Ich habe “Der englische Patient” zwar gelesen, aber wie schon erwähnt nicht so negative Erinnerungen daran, wie einige andere hier …
Ich bin schon sehr gespannt darauf zu lesen, wie dir “Katzentisch” gefallen wird!
atalante
February 27, 2012 at 1:23 pmDeine ausführliche Rezension, mara, ist mir ein willkommener Tipp für ein Geschenk.
buzzaldrinsblog
March 1, 2012 at 1:31 pmHallo atalante,
oh, das freut mich zu hören – auch wenn es schade ist, dass ich dich selbst scheinbar nicht überzeugen konnte, hoffe ich dann doch, dass zumindest das Geschenk gut ankommen wird! 😉
Liebe Grüße
Mara
atalante
March 2, 2012 at 2:42 pmDoch das ist Dir gelungen, schließlich verschenke ich nur Bücher von denen ich überzeugt bin. 😉
Das gelang übrigens dem Englischen Patienten nicht, auch nicht als Film, den Roman habe ich dann gleich sein lassen, um auch noch meinen Senf zu diesem Roman hier zu lassen. 😉
synaesthetisch
February 29, 2012 at 4:07 pmIch habe auch so meine Schwierigkeiten mit Herrn Ondaatje – und die englische Version vom “Katzentisch” auf dem Kindle. Aber so richtig kann ich mich noch nicht entschließen zum Lesen, obwohl so viele schwärmen…
buzzaldrinsblog
March 1, 2012 at 1:30 pmHallo synaesthetisch,
hat dir etwa auch “Der englische Patient” Ondaatje verleidet? Das ist ja schrecklich, wie sehr einen eine Lektüreerfahrung das Werk eines gesamten Autors manchmal verleiden kann … aber ich habe auch so die ein oder anderen Kandidaten, bei denen es mir ähnlich geht.
Wenn du “Katzentisch” aber schon auf Kindle hast, würde ich auf jeden Fall mal reinlesen … vielleicht nimmt dich die Geschichte der drei Jungen sofort gefangen. So ist es mir bei der Lektüre gegangen.
Liebe Grüße
Mara
synaesthetisch
March 1, 2012 at 3:20 pmNein, ich las “Divisadero” und blieb ziemlich ratlos zurück http://synaesthetisch.wordpress.com/2011/03/30/michael-ondaatje-divisadero/ …
weltfabelhaft
March 1, 2012 at 12:36 pm@mara @klappentexterin oh! “divisadero” MÜSST ihr unbedingt mal lesen… dieses buch ist wie eine komposition, wunderbar gewoben aus worten und erzählung… es ist eins meiner allerliebsten bücher…
@mara und “ich nannte ihn krawatte”, so sehr berührt und bewegt hat mich schon lange kein buch mehr… es ist eins dieser seltenen kostbarkeiten…
buzzaldrinsblog
March 1, 2012 at 1:34 pmLiebe weltfabelhaft,
erst einmal: willkommen auf meinem Blog!
Nach deinen Worten über “Divisadero” komme ich daran wohl nicht mehr vorbei. Es steht schon in meinem Regal, bisher aber wie erwähnt noch ungelesen. Das wird sich aber sicherlich bald ändern!
Ich freue mich, dass dir auch “Ich nannte ihn Krawatte” gut gefallen hat – wir scheinen ja ähnliche literarische Vorlieben zu haben. 🙂
Literarische Grüße
Mara
buzzaldrinsblog
March 2, 2012 at 2:27 pmLiebe synästhetisch, das hört sich ja in der Tat etwas konfus an, vielleicht sollte ich dann doch erstmal die Finger von “Divisadero” lassen *lach*. Schon interessant, was es für polarisierende Meinungen hier gibt über Ondaatje …
Ich würde mir natürlich trotzdem wünschen, dass du dem “Katzentisch” eine Chance geben würdest!
Conor
April 19, 2012 at 2:56 pmLiebe Mara!
Dank deiner Rezension (und noch anderer positiven Stimmen) habe ich mir “Katzentisch” gekauft und soeben beendet -ein wundervoller Roman! Ich kann mich deiner Meinung nur anschließen.
Mit “Der englische Patient” hatte ich vor vielen Jahren so meine Schwierigkeiten – ob ich dem Roman noch einmal eine Chance geben sollte?
Dein blog ist ziemlich gefährlich für meinen SUB… – ständig wird er erhöht!:))
Das hält mich nicht ab, weiter deinen schönen Blog zu besuchen.:)
Ich habe mir “Ich nannte ihn Krawatte” gekauft und das Buch von Janet Frame “Wenn Eulen schreien” hört sich auch gut an. Von der Autorin habe ich vor längerer Zeit “Dem neuen Sommer entgegen” gelesen und war sehr angetan.
Liebe Grüße
Conor
buzzaldrinsblog
April 19, 2012 at 6:11 pmHallo Conor,
ich freue mich sehr über deinen lieben Kommentar bei mir! Noch viel mehr freue ich mich darüber, dass dir der “Katzentisch” so gut gefallen hat. Auch für mich war der Roman ein großartiges Lektüreereignis und ich freue mich, dass er auch von anderen Lesern entdeckt wird. Von Schwierigkeiten mit “Der englische Patient” haben hier ja schon einige berichtet – ich habe es vor vielen Jahren auch gelesen, ohne damit heutzutage noch viele Erinnerungen oder Emotionen zu verknüpfen. Ich weiß nicht, ob du dem Buch noch einmal eine Chance geben solltest … ich werde mich als nächste wohl eher an “Divisadero” versuchen und bin darauf schon sehr gespannt.
Ich freue mich, dass du meinen Blog so gut besuchst und etwas mit meinen Lektürevorstellungen anfangen kannst! “Ich nannte ihn Krawatte” ist ja mein Geheimtipp – es hat mir einfach so gut gefallen und ich bin sehr gespannt, ob du es auch mögen wirst. “Dem neuen Sommer entgegen” möchte ich nun auch endlich lesen – ich freue mich schon so darauf, noch mehr von Janet Frame entdecken zu dürfen.
Ganz liebe Grüße
Mara
Gaby
September 8, 2012 at 9:07 pmLiebe Mara,
ich kann mich Connor nur anschließen ‘Dein blog ist ziemlich gefährlich für meinen SUB… – ständig wird er erhöht!:))’…. habe Katzentisch auf Grund deiner Rezension eine Chance gegeben und wurde reich belohnt! Vielen Dank! Ich liebe deinen Blog und freue mich immer schon darauf, neues von dir zu lesen. Lieben Gruß Gaby
buzzaldrinsblog
September 9, 2012 at 7:51 pmLiebe Gaby,
so geht es mir mit anderen Blogs auch immer: die Wunschliste wächst und wächst, beinahe so kontinuierlich wie der Stapel an Büchern, die ich gerne lesen würde. Ich freue mich sehr, dass dir Katzentisch gefallen hat. Es hat ja doch ein eher unscheinbares Cover und doch verbirgt es dahinter eine sehr spannende, aufregende und gut erzählte Geschichte – ich habe den Roman sehr gerne gelesen.
Ich sende liebe Grüße zurück
Mara