“Jeder Ort, an dem man für längere oder kürzere Zeit verweilt, der plötzlich, auf unerklärliche oder scheinbar ganz natürliche Weise wichtig ist, der fast zu so etwas wie einer Gemütsverfassung, einer Geisteshaltung wird oder vielleicht auch nur eine Station darstellt, die man schnell hinter sich lässt, jeder Ort, selbst wenn er einem vielleicht Angst macht, hat, so schien mir, eine kleine Öffnung, einen Riss, durch den jederzeit Liebe hineinsickern kann.”
“Im Winter dein Herz” ist der sechste Roman von Benjamin Lebert, der mittlerweile 30 Jahre alt ist. “Crazy”, sein Debüt und Überraschungserfolg als gefeiertes literarisches Wunderkind, liegt mittlerweile schon mehr als dreizehn Jahre zurück und ein bisschen hat mich zwischendurch immer mal wieder das Gefühl beschlichen, dass der bemitleidenswerte Benjamin Lebert seit Jahren diesem Erstlingserfolg hinterherschreibt. Hinterherschreiben muss. “Crazy” hatte ich damals ausgelassen, vielleicht war ich dafür noch zu jung, als es erschien. Mich hat Benjamin Lebert zum ersten Mal im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2009 beeindruckt. Dort habe ich ihn in einem Interview mit anschließender Lesung erlebt und er hat mich mit seiner ruhigen, bedächtigen Art begeistert. Auf Fragen hat er wohlüberlegt und reflektiert geantwortet und ich hätte ihm wahrscheinlich noch stundenlang weiter zuhören können. Über seine literarischen Qualitäten sagt all dies natürlich nicht viel aus und in der Tat hat mich dann auch “Der Vogel ist ein Rabe”, das einzige Buch, was ich von ihm bisher gelesen habe, nicht vollends überzeugen können. Nun habe ich mich an sein neuestes – gerade erst erschienenes – Werk “Im Winter dein Herz” herangewagt. Neugierig hatte mich ein langes und umfangreiches Interview mit dem tollen Titel “Ins Unglücklichsein kann man sich verlieben” in “Die ZEIT” gemacht.
“‘Weißt du […] man muss im Leben oft schwere Wege gehen. Es hilft nichts. Aber immer, wenn wieder so ein Weg ansteht, dann denk dran: Reise bequem und am besten erster Klasse.”
Benjamin Lebert erzählt von dem jungen Robert, der sich selbst in Anspielung auf Franz Kafka als Hungerkünstler bezeichnet. Er ist dürr und kränklich, da er sich seit einiger Zeit weigert, zu essen oder das, was er isst, herunter zu schlucken. Er nimmt ausschließlich flüssige Nahrung zu sich. Sehr fein und sanft, in wenigen Sätzen, beschreibt Benjamin Lebert Roberts Leben und Nachbarschaft; Robert wohnt in einer kleinen Wohnung im Hamburger Gängeviertel. Man erfährt, dass er sich zu einem freiwilligen Klinikaufenthalt entschlossen hat, in einer therapeutischen Einrichtung in Waldesruh – unter der Auflage, Winterschlaf zu halten. Er fährt mit dem Zug von Hamburg nach Waldesruh, in der ersten Klasse – darauf bezieht sich das Zitat weiter oben, es ist ein Ratschlag, der von Roberts Vater stammt.
“Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.”
Robert ist in Waldesruh, um sich zu erholen und zur Ruhe zu kommen. Dort schreibt er seine Geschichte auf, die in fünf sogenannte “Hefte” aufgeteilt ist. Der Leser lernt Anina und Kudowski kennen. Kudowski ist ein Mitpatient von Robert und Anina arbeitet in einer Tankstelle in der Nähe der Klinik. Alle drei haben sich geweigert, in diesem Jahr am Winterschlaf teilzunehmen und die Pillen, die für einen erfolgreichen Winterschlaf eingenommen werden müssen, einfach weggeworfen. An dieser Stelle erfährt der Leser auch endlich, was es mit diesem Winterschlaf auf sich hat, der in der von Benjamin Lebert geschaffenen Welt nicht nur unter den Tieren, sondern auch von den Menschen durchgeführt wird.
“Alles hatte damit begonnen, dass Arthur McFinnley, ‘Sleepy McFinnley’, wie er genannt wurde, sich intensiv mit den Siebenschläfern auseinandersetzte, die sich im Speicher seines Ferienhauses in Cornwall eingenistet hatten. Und in Roberts Kopf liefen jetzt nochmals einige Bilder der Fernsehsendung ab, die er ein paar Tage zu vor im Aufenthaltsraum der Klink angesehen hatte.”
Robert, Anina und Kudowski wollen während des Winters mit dem Wagen von Waldesruh nach München fahren. Dort möchte Robert seinen schwerkranken Vater besuchen. Benjamin Lebert zeichnet wunderschöne Bilder, die von großer Stille und Zurückgezogenheit geprägt sind: beinahe ausgestorbene, verlassen wirkende Dörfer, verschlossene Fenster, leere Autobahnen, verrammelte Schaufenster. Offene Gaststätten, die von Menschen betrieben werden, die sich auch weigern am Winterschlaf teilzunehmen, finden die drei passenderweise mit der Winter-App auf Kudowskis Iphone. Als sie in München ankommen, kommt ihnen die neu eingeführte 10%-Formel zugute:
“Erst im vergangenen Jahr hatte der Stadtrat von München für den Winterschlaf eine Zehn-Prozent-Formel entwickelt. Zehn Prozent der Straßen waren geräumt. Zehn Prozent der Krankenhäuser waren geöffnet, zehn Prozent der Polizisten hatten Dienst. München war die einzige Stadt, in der es schon geraume Zeit eine Nicht-Schläfer-Partei gab, die das ganze Jahr über versuchte, die Bedingungen für die Nichtschläfer zu verbessern.”
Schnell wird deutlich, dass jeder der drei im Auto seine eigene, nicht unbedingt leichte, Geschichte hat. Robert ernährt sich von Flüssignahrung, da er nicht mehr in der Lage ist, festes Essen zu schlucken. Er verweigert die Nahrungsaufnahme. Auch das Leben von Anina und Kudowski ist nicht immer wie gewünscht verlaufen. Besonders fasziniert hat mich die Geschichte von Anina, einem ungewollten Mädchen türkischer Eltern, die sich selbst einen deutschen Namen gegeben hat. Leider erfährt man nicht viel über sie, aber sie sagt einen sehr wichtigen Satz:
“Muslimin oder nicht. Ich glaube, eine der wichtigen und zugleich schwierigsten Aufgaben im Leben ist es, zu erreichen, dass das Wort ‘man’ einen nicht in die Knie zwingt.”
Es geht um verpasste Chancen, verpatzte Prüfungen, Lebensentwürfe, die in der Sackgasse verlaufen. Die drei Wachgebliebenen versuchen auf der Reise zu sich selbst zu finden, sich selbst wieder näher zu kommen. Am Ende jedes “Hefts” gibt es die “Momente der Geborgenheit”, alle drei erzählen von Momenten in ihrem Leben, in denen sie sich geborgen gefühlt haben. Zufrieden. Glücklich. Geborgen. Diese Passagen haben mich am stärksten beeindruckt.
Das Ende bleibt offen. Ich habe es als überraschend empfunden, doch ob das nun positiv oder negativ ist, weiß ich noch nicht einmal genau. Ist Roberts Geschichte Realität oder träumt er vielleicht nur während seines Winterschlafs? Was ist wahr und was nicht? Ich glaube, jeder Leser muss für sich selbst entscheiden, wie er die Geschichte interpretiert.
“Wenn ich mir ein Zuhause vorstelle, dachte er, muss es wie eine Muschel sein. Glatt, still, beschützend. Mit einem Innern, in dem ich ganz verschwinden kann. Vielleicht ist das, wovon ich träume, auch das Haus einer Schnecke. Einer schönen, großen Meeresschnecke.”
Das ist einer der Absätze, die der Grund dafür sind, warum mir dieser Roman gefallen hat. “Im Winter ist dein Herz” ist surreal und beruht auf der Grundlage einer absurden Idee – auch Menschen machen nun Winterschlaf. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir nach dem Lesen des Klappentextes eigentlich etwas ganz anderes vorgestellt, aber nach anfänglichem Zögern habe ich es geschafft, mich auf Benjamin Leberts Idee einzulassen.
Benjamin Lebert gelingen einige fantastische Bilder, vor allem von der winterlichen, einsamen Landschaft. In wenigen Sätzen drückt er sehr vieles aus und lässt dabei auch immer wieder philosophische Gedanken anklingen. Gefallen haben mir auch die Anspielungen auf Franz Kafka. Ein besonderes Highlight sind die “Momente der Geborgenheit” am Ende jedes Hefts. Die Sprache ist poetisch, wunderschön an vielen Stellen – leider leidet eine etwas verkürzte, stark reduzierte Geschichte darunter, das vieles nur angerissen, aber nicht ausgeführt wird. Die Charaktere bleiben insgesamt leider etwas flach, vor allem von Anina hätte ich gerne noch etwas mehr erfahren.
Insgesamt dennoch ein sicherlich lesenswerter Roman eines mittlerweile gereiften Autoren. Wer sich auf “Im Winter dein Herz” einlässt, wird einem peotischen und rätselhaften Roman begegnen, der es wert ist, entdeckt zu werden und dem eine ausgereiftere Geschichte sicherlich gut getan hätte.
2 Comments
Klappentexterin
March 12, 2012 at 7:15 amDie Sache mit dem Winterschlaf, liebe Mara, ist mir ja total neu. Damit hätte ich nicht gerechnet. Interessant! (Wo ich ja selbst dafür schon jahrelang plädiere. ; ) Ich mag Benjamin Leberts Schreibstil und habe damals “Crazy” sehr gern gelesen und wie du “Der Vogel ist ein Rabe”. Hab vielen Dank für deine ausführliche Rezension, die mir einen tiefen Einblick in die Geschichte geschenkt hat. Ich konnte die Stimmung des Buches regelrecht zwischen meinen Augen spüren.
Liebe Grüße
Klappentexterin
buzzaldrinsblog
March 13, 2012 at 1:21 pmLiebe Klappentexterin,
vielen Dank für deinen wunderschönen Kommentar. Ich würde Benjamin Lebert viele Leser wünschen, er hätte sie verdient – und ein wenig überrascht war ich dann schon, dass meine Rezension kaum auf Interesse stieß. Wobei es mich sowieso immer überrascht, welche Rezension Interesse generieren und welche nicht, dass ist etwas für mich kaum vorhersagbares.
“Crazy” habe ich noch nicht gelesen und vielleicht bin ich aus diesem Alter auch mittlerweile raus, aber ich mag Benjamin Leberts unaufgeregte Art des Erzählens und der Winterschlaf ist ein wirklich schöner Einfall.
Liebe Grüße
Mara