Die sterblich Verliebten – Javier Marías

Berühmt wurde Javier Marías durch seinen Welterfolg “Mein Herz so weiß”, der in den neunziger Jahren erschien. Ein Buch, von dem ich zwar schon viel gehört habe, das ich bisher jedoch noch nicht gelesen habe. Auf seine aktuelle Veröffentlichung “Die sterblich Verliebten” bin ich erneut durch das Forum Leselust aufmerksam geworden. Im Klappentext lobt der von mir sehr hoch geschätzte Autor Roberto Bolano Javier Marías als den “herausragendste[n] spanische[n] Erzähler”. Nach Beendigung der Lektüre, glaube ich dieses Urteil unterschreiben zu können – beim Zuklappen des Buches hat mich das Gefühl durchflutet, ein großes Werk in den Händen zu halten.

Es ist sehr schwierig, die Geschichte zusammenzufassen, ohne schon zu viel zu verraten. Aus diesem Grund würde ich auch jedem davon abraten, die Rezension in “Die ZEIT” zu dem Roman zu lesen – zumindest nicht, bevor man nicht auch das Buch gelesen hat.

In dem Roman “Die sterblich Verliebten” erzählt Javier Marías die Geschichte eines perfekten Paars: Luisa und Miguel. Beide gehen unter der Woche jeden Tag in dasselbe Café, um zusammen zu frühstücken. Beobachtet werden sie dabei von María Dolz, einer jungen – ungefähr dreißigjährigen – Verlagsangestelltin, die auch jeden Morgen dasselbe Café aufsucht.

“Vom ersten Tag an war mir klar, dass sie ein Ehepaar waren, er, um die fünfzig, sie, ein gutes Stück jünger, wohl noch nicht vierzig.”

Marías beobachtet die beiden eines Morgens eher zufällig und kann sich danach nicht mehr lösen von diesem Anblick eines scheinbar perfekten Paars. Beide jeden Morgen beobachten zu können, erleichtert ihr den Start in ihren Arbeitstag; manchmal kommt sie sogar verspätet in ihr Büro, weil sie sich einfach nicht lösen kann. Die Liebe und Zärtlichkeit stimmt María “heiter” und “optimistisch”. Ihr Anblick bedeutet für sie eine “heile”, eine “harmonische” Welt. Doch plötzlich kommen Miguel und Luisa nicht mehr. Zunächst glaubt María noch, dass beide verreist sein könnten, doch schon bald muss sie erkennen, dass etwas Schreckliches passiert ist. Durch Zufall findet sie heraus, dass Miguel ermordet wurde – mit sechzehn Messerstichen auf einem Parkplatz. Der geistig verwirrte Täter wurde verhaftet.

“Der Vorfall hatte sich an dem Tag ereignet, an dem ich ihn zum letzten Mal dort gesehen hatte, und deshalb wusste ich, dass seine Frau und ich uns zur gleichen Zeit von ihm verabschiedet hatten, sie mit den Lippen, ich nur mit den Augen. Es war – grausame Ironie des Schicksals – sein Geburtstag gewesen, so dass er ein Jahr älter als am Vortag gestorben war, mit fünfzig.”

María liest die Presseberichte über das Verbrechen im Internet und bemüht sich, sich ein Bild von dem zu machen, was geschehen ist. Als Luisa eines Morgens in Begleitung von ihren Freundinnen wieder im Café erscheint, entscheidet sich María dazu, sie anzusprechen.

“‘Ich heiße María Dolz, Sie kennen mich nicht. Aber jahrelang habe ich zur gleichen Zeit hier gefrühstückt wie Sie und Ihr Mann. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es mir ungeheuer leidtut, wie es ihm ergangen ist und wie es nun bestimmt Ihnen ergeht.”

Luisa lädt María noch am selben Abend zu sich nach Hause ein. Warum genau wird nicht ganz klar, wahrscheinlich um sich selbst die Möglichkeit zu geben, über Miguel und die Trauer, die sie über seinen Tod empfindet zu sprechen.

“Immer wenn ich mich an etwas Gutes erinnere, taucht sofort das letzte Bild auf, das seines willkürlichen, grausamen Todes, so vermeidbar, so sinnlos. Ja, das macht mir am meisten zu schaffen: so ganz ohne Schuldigen, so sinnlos. Dann trübt sich die Erinnerung ein und wird zu einer schlechten. Im Grunde bleibt mir keine gute mehr. Alle kommen sie mir blauäugig vor. Alle sind verdorben.”

Zufällig lernt María an diesem Abend Luisas und Miguels gemeinsamen Bekannten Javier Díaz-Varela kennen, in den sie sich, nach einer erneuten Begegnung, verliebt und sich auf eine Affäre mit ihm einlässt. Schnell wird ihr klar, dass es sich um eine reine Bettbeziehung handelt und immer handeln wird – egal wie stark ihre eigenen Gefühle sind. Javier würde sie jederzeit wieder fallen lassen, da er eigentlich in die Frau seines besten Freundes Miguel verliebt ist – in Luisa. Ab diesem Punkt in der Geschichte kann man den Inhalt kaum noch weiter zusammenfassen, ohne gleichzeitig schon zu viel zu verraten.

Javier Marías behandelt in seinem Roman sehr gewichtige tief menschliche Themen: präzise und sehr nachvollziehbar, in einer immer wieder beeindruckenden Sprache, wird Luisas Trauer um ihren Mann Miguel dargestellt und ihr Umgang damit, zu einer Witwe geworden zu sein.

“Dann denke ich an das eindringende Messer und daran, was Miguel empfunden haben muss, ob er Zeit hatte, an etwas zu denken, ob er gedacht hat, dass er stirbt. Dann werde ich krank vor Verzweiflung. Und das ist nicht nur so eine Redensart: Es macht mich buchstäblich krank. Der Schmerz fährt mir durch den ganzen Leib.”

Daneben steht aber auch das Verliebtsein im Mittelpunkt des Romans: was bedeutet es verliebt zu sein? Was unterscheidet Verliebtsein von Obession? Was ist man bereit in Kauf zu nehmen, wenn man verliebt ist? María erfährt Dinge über Javier, die schwer zu begreifen sind für sie. Und doch steht über allem der Gedanke:

“Ja, es ist schlimm, sehr schlimm. Aber er ist doch er, noch immer er.”

Wieweit ist man noch “ich”, wenn man verliebt ist oder inwieweit denkt man nur noch an ein gemeinsames “wir”. An den anderen. Auch wenn der andere und das “wir” einem eigentlich nur noch Angst machen. Inwieweit ist man noch der Mensch, der man vor dem Verliebtsein war. Auch María stellt sich diese Fragen:

“[…] ich bin nicht mehr die, die ich war. Der Haken ist nur, auch wenn ich es nicht mehr bin, kann ich oft nicht vergessen, was ich war, und dann ist mir schlichtweg mein Name zuwider, und ich wünschte, ich wäre nicht ich. 

Zwischendurch eingeflochten werden immer wieder Stellen aus Balzacs Erzählung “Oberst Chabert” und Alexandre Dumas “Die vier Musketiere”, die Javier Marías quasi als Leitmotive dienen.

Die Geschichte, die Javier Marías aus der Perspektive von María erzählt, gründet auf vielen Zufälligkeiten und zwischendurch war ich immer wieder kurz davor, etwas auszurufen, wie “absurd!” oder “an den Haaren herbeigezogen”. Ein Stück weit trifft das sicherlich auch zu. Unterfüttert ist diese, auf den ersten Blick vielleicht etwas oberflächlich anmutende Geschichte, jedoch mit sehr gewichtigen, großen Themen, die Marías mit einer faszinierenden Leichtigkeit in die Geschichte eingeflochten hat. Auf anspruchsvolle, aber nicht elitäre Art und Weise hat Javier Marías mit “Die sterblich Verliebten” ein wahres Schwergewicht vorgelegt, das jedoch federleicht daherkommt. Seine Sprache – jedes einzelne seiner Worte – entwickelt einen Sog, dem ich mich nicht mehr entziehen konnte. Auch die literarischen Exkurse haben mir ausgesprochen gut gefallen.

“Die sterblich Verliebten” ist ein wunderschön geschriebener Roman, der sich mit den großen Themen der Menschheit beschäftigt: mit dem Tod und mit der Liebe. Eine ganz eindeutige Leseempfehlung!

13 Comments

  • Reply
    Bücherliebhaberin
    March 6, 2012 at 12:28 pm

    Auch wenn du versprichst nicht zu viel zu verraten, hab ich nur deine Einleitung gelesen. Ich will einfach so wenig wie möglich wissen, denn dieses Buch steht ganz oben auf meiner Liste und ich freu mich schon sehr auf die Lektüre. Das i-Tüpfelchen gibt es dann in wenigen Wochen, wenn Marías hier in Frankfurt sein Buch vorstellen wird. Ich werde berichten ….

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 7, 2012 at 7:02 pm

      Liebe Bücherliebhaberin,
      das kann ich verstehen und ich möchte dir auch auf gar keinen Fall die Vorfreude auf das Buch nehmen! Um sie dir zu erhalten, solltest du aber auch vermeiden, die Rezension von Herrn Mangold zu lesen, der einfach viel zu viel verrät. Leider!
      Ich beneide dich um das Erlebnis Marías live lesen zu sehen und freue mich schon jetzt sehr auf deinen Bericht. Und auch darauf zu hören, wie dir das Buch denn gefallen hat, wenn du es liest!
      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Bücherliebhaberin
        March 8, 2012 at 10:52 am

        Ja, ich freu mich schon auf ihn. Hatte ihn vor ein paar Jahren schon einmal live in Leipzig gelesen und bin jetzt gespannt, wie er sich verändert hat.

  • Reply
    nantik
    March 6, 2012 at 3:06 pm

    Ah, ich liebe, liebe, liebe die Romane von Javier Marías! Ich weiß noch ganz genau, wie ich mit ihnen zum ersten Mal in Berührung gekommen bin: Es war 2001. An der Musikhochschule Hamburg habe ich bei einer Operninszenierung hospitiert, für die auch Zitate aus “Der Gefühlsmensch” verwendet wurden. Allein diese Zitate hatten eine derartige Strahlkraft, dass ich mir den Roman sofort kaufen musste. Noch bevor die Inszenierung abgespielt war, hatte ich dann auch “Alle Seelen”, “Mein Herz so weiß”, “Morgen in der Schlacht denk an mich” und “Schwarzer Rücken der Zeit” gelesen. Das war ein regelrechter Marías-Rausch damals. Aber ich bin ihm über die Jahre treu geblieben und habe nach und nach auch die Trilogie “Dein Gesicht morgen” verschlungen. Das war nicht immer einfach, denn Marías ist mit den Jahren erzählerisch immer dichter und tiefer geworden – seine Gefühlsteppiche wurden immer hintegründiger. Aber genau so macht Literatur ja letztlich erst richtig Spaß, oder? Wenn man sie eben nicht in einem Bissen verschlingen kann, sondern Stück für Stück genießen muss, um sie richtig verdauen zu können. Was ich eigentlich sagen wollte: “Die sterblich Verliebten” liegt hier auch schon und lockt mich. Aber noch habe ich nicht die innere Ruhe, um mich auf die literarische Schönheit von Marías einzulassen. Da brauche ich sehr viel Zeit und Ruhe für.

    • Reply
      Bücherliebhaberin
      March 6, 2012 at 8:45 pm

      Liebe Nantik,

      auch mich begeistert Marías, habe aber noch längst nicht alles gelesen. Von “Alle Seelen” war ich jedoch zutiefst enttäuscht und habe es vorzeitig abgebrochen. Der Triologie stehe ich auch eher skeptisch gegenüber. Aber ich glaube, der neue Roman wird mich wieder überzeugen.

      • Reply
        nantik
        March 6, 2012 at 9:00 pm

        Warum warst du denn von “Alle Seelen” enttäuscht, liebe Bücherliebhaberin? Weil Marías da ein wenig mit seiner sonstigen Erzähltechnik experimentiert und abweicht? Oder hat dir das Thema einfach nicht gefallen? Ja, die Trilogie ist … anders. Wenn ich die drei Romane mit nur zwei Wörtern beschreiben müsste, würde ich “Gefühlsteppich” und “absolut” wählen. Das war beim Lesen ab und zu ziemlich anstrengend. Aber gerade durch die emotionale Überlastung fühlte ich mich irgendwann … ähm … geläutert. Dabei hat Marías gar nicht gefühlsmissioniert. Erstaunliche Sache, das. Hach, keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Es ist eben so, das Marías eher mein Gemüt fordert. da die richtigen Worte zu finden, ist schwierig.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 7, 2012 at 7:07 pm

      Liebe nantik,

      herzlichen Dank für deinen tollen und informativen Kommentar. Ich habe das Glück, dass mit dir scheinbar eine wirkliche Marías-Expertin bei mir kommentiert hat … und ich finde es sehr berührend deinen Kommentar zu lesen und deine Begeisterung und Liebe zu seinen Werken in jeder Zeile zu spüren.
      Wie gesagt: ich habe bisher noch nichts anderes von Javier Marías gelesen – bin nun aber in der Tat doch auf den Geschmack gekommen. Mich hat sein ganz besonderer Stil einfach unheimlich angesprochen … könntest du mir einen Roman empfehlen, der besonders dafür geeignet wäre, ihn als nächstes zu lesen? Mich würde auch seine Trilogie reizen, die mir jedoch aufgrund ihres Umfangs etwas ängstigt!

      Auf den Geschmack gekommene Grüße
      Mara

      • Reply
        Bücherliebhaberin
        March 8, 2012 at 10:49 am

        @ nantik
        Die Lektüre von “Alle Seelen” ist schon eine Weile her aber ich weiß noch ganz genau, dass mich der “Held” einfach nur genervt hat und ich auch mit der Atmosphäre des Romans nicht klar kam.
        @ mara
        Bin gespannt, was dir nantik empfiehlt. Meine Favoriten sind: “Mein Herz so weiß” und “Morgen in der Schlacht…”
        Viel Freude beim Entdecken dieses tollen Schriftstellers.

      • Reply
        nantik
        March 8, 2012 at 6:11 pm

        Ich schließe mich der Bücherliebhaberin an und empfehle dir “Mein Herz so weiß”, liebe Mara. Eigentlich ist dieser Roman die ideale Einstiegsdroge. Gut, die Phase hast du schon hinter dir, aber das Buch ist auch ganz eindeutig etwas für Leser, die Marías schon einmal literarisch begegnet sind. Na ja, und dann lege ich dir natürlich noch “Der Gefühlsmensch” ans Herz. Da kann ich nicht anders. Denn mit diesem Roman hat meine Liebe zu diesem Schriftsteller schließlich begonnen. 🙂
        P.S.: Als Expertin würde ich mich übrigens nicht bezeichnen. Nur als große Verehrerin. 😉

  • Reply
    buzzaldrinsblog
    March 10, 2012 at 8:30 pm

    Liebe nantik, liebe Bücherliebhaberin,
    danke für eure tollen Empfehlungen. Angefixt bin ich durch “Die sterblichen Verliebten” auf jeden Fall und nun werde ich mir als nächstes wohl “Mein Herz so weiß” und “Der Gefühlsmensch” von ihm besorgen und bin schon sehr gespannt. Ich freue mich sehr darauf, einen mir bis dahin unbekannten Schriftsteller noch entdecken zu können und werde darüber berichten, wie mir “Mein Herz so weiß” gefällt. Ich wage es noch nicht von Liebe zu sprechen, aber auch ich bin von Javier Marías nach “Die sterblich Verliebten” sehr angetan!
    Begeisterte Grüße
    Mara

  • Reply
    Klappentexterin
    March 12, 2012 at 7:09 am

    Liebe Mara,

    “Mein Herz so weiß” habe ich so gern gelesen! Aber nicht in einem Zug, sondern ganz langsam wie eine Tasse heißen Tee. Du kannst dich also auf ein gutes Buch freuen, so wie ich mich auf dieses hier noch mehr freuen kann, dank deiner Rezension, die wieder einmal wunderbare Zitate enthielt.

    Herzlichst,

    Klappentexterin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 13, 2012 at 1:27 pm

      Liebe Klappentexterin,

      ich freue mich, dass ich mit meiner Rezension dein Interesse wecken konnte. Und noch mehr freue ich mich nun auf “Mein Herz so weiß”, dass dich scheinbar auch begeistert hat. Zu “Die sterblich Verliebten” scheint es sehr unterschiedliche Meinungen zu geben, auch im Literaturclub wurde es nicht unbedingt wohlwollend besprochen. Ich würde mich über andere Rezensionen freuen um zu sehen, ob ich mit meiner Begeisterung alleine da stehe …
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Bücherliebhaberin
    March 29, 2012 at 10:56 am

    So liebe Mara,

    Javier war da und hat mich mal wieder in seinen Bann gezogen:
    http://glasperlenspiel13.blogspot.de/2012/03/javier-marias-in-frankfurt.html

    Liebe Grüße

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