Das Chalet der Erinnerung – Tony Judt

Die Texte aus “Das Chalet der Erinnerung” – Tony Judt bezeichnet sie als Feuilletons – waren zunächst nicht für eine Veröffentlichung gedacht. Judt schrieb sie mehr für sich selbst, ermutigt von seinem Freund und Kollegen Timothy Garton Ash – später entschied er sich dann doch für eine Veröffentlichung. Zum Glück – möchte ich sagen.

Tony Judt war Historiker und kann wohl als “politischer Intellektueller” bezeichnet werden. Er starb im August 2010 im Alter von nur 62 Jahren.

“Das Wort ‘Chalet’ löst ein ganz bestimmtes Bild in mir aus. Ich sehe ein kleines Familienhotel in Chesières, einem unspektakulären Wintersportort im Wallis, unweit von Villars.”

In dieses Chalet reiste Tony Judt als kleiner Junge – “1957 oder 1958” – und verbrachte dort seine Winterferien. Obwohl diese Reise schon sehr lange her ist, kann sich Judt immer noch sehr gut an das Chalet erinnern. So gut, dass er in der Lage ist, es in Gedanken immer wieder neu zu besuchen. In den vergangenen fünfzig Jahren gab es nicht viele Gründe, an diesen Ort zurückzudenken, doch dann wurde bei Tony Judt Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. Diese Krankheit hat es Tony Judt innerhalb kürzester Zeit unmöglich gemacht zu reisen; etwas, was er immer sehr gerne gemacht hatte. Das einzige, was ihm immer noch bleibt, sind seine Erinnerungen an vergangene Reisen und Erlebnisse.

“Das Besondere an dieser neurodegenerativen Erkrankung ist, dass man bei klarem Verstand über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachdenken, diese Reflexionen aber immer weniger in Worte fassen kann. Zuerst kann man nicht mehr schreiben. Um die Gedanken festzuhalten, benötigt man einen Assistenten oder eine Maschine. Dann versagen einem die Beine den Dienst, man kann keine neuen Erfahrungen machen, […]. Als nächstes verliert man die Stimme. Nicht nur in dem übertragenen Sinne, dass man mit Hilfe von Maschinen oder menschlichen Vermittlern sprechen muss, sondern buchstäblich – die Zwerchfellmuskeln können keine Luft mehr in Richtung Stimmbänder pumpen, weshalb man keine verständlichen Töne mehr hervorbringen kann. An diesem Punkt ist man meist komplett gelähmt, verdammt zu stummer Unbeweglichkeit, selbst im Beisein anderer.”

Die Erkrankung ALS betrifft das motorische Nervensystem und wird auch als Motoneuronerkrankung bezeichnet. Charakteristisch für diese Erkrankung ist, “dass man erstens seine Wahrnehmungsfähigkeit behält (ein zweifelhaftes Glück) und dass man zweitens keine Schmerzen hat”. Tony Judt bringt das Schreckliche dieser Krankheit sehr nachdrücklich zum Ausdruck:

“ALS heißt fortschreitendes Eingesperrtsein ohne Aussicht auf Bewährung.”

Die Nacht ist die schlimmste Zeit für Tony Judt, da er bewegungsunfähig ist. Er wird ins Bett gebracht und hat dann für sieben Stunden keine Möglichkeit mehr, sich zu bewegen. Es ist ihm nicht möglich, sich zu kratzen, seine Position zu verändern, auf die Toilette zu gehen. Um diese Hilflosigkeit ertragen zu können, hat Tony Judt damit begonnen, in diesen Nächten zu reisen und in seinem Kopf Orte der Erinnerung zu besuchen. Als Resultat dieser Nächte ist die folgende Sammlung an Feuilletons entstanden.

Das ist der Ausgangspunkt von “Das Chalet der Erinnerung” und nur damit kein falscher Eindruck entsteht: in den folgenden 23 Essays spielt diese fürchterliche Erkrankung keine Rolle mehr. Es gibt keine Stelle, an der sich Tony Judt selbst bemitleidet, Angst hat oder sich mit seinem Tod beschäftigt. Es geht ausschließlich um seine Gedanken, Phantasien und Erinnerungen.

In den 23 Feuilletons beschäftigt sich Tony Judt mit ganz unterschiedlichen Themen. In dem ersten Teil setzt er sich vor allem mit seiner Kindheit auseinander. Er erzählt davon, wie er als Jude in einer jüdischen Familie aufgewachsen ist, die jedoch kaum noch jüdische Traditionen pflegte. Großgeworden ist Tony Judt – Sohn eines belgischen Einwanderers – in London, einer Stadt mit der er viele positive Erinnerungen verknüpft. Er erzählt von der Autovernarrtheit seines Vaters. Im zweiten Teil widmet er sich seinem Studium in Cambridge, einem Aufenthalt im Kibbuz und seiner Arbeit als Historiker. Doch nicht nur seine persönliche Geschichte wird thematisiert, im dritten Teil widmet sich Judt auch allgemeineren Themen: er macht sich Gedanken, was als Folge der heutigen SMS-Generation aus unserer Sprache, unserem Wortschatz, werden wird. Er beschäftigt sich mit dem Judentum und jüdischer Identität, vor allem im heutigen Amerika. Es wird zwischen den Zeilen deutlich, dass Tony Judt der heutigen Zeit kritisch gegenüber steht. Zu Recht? Ich weiß es nicht. Und doch konnte ich mich mit vielen seiner Gedanken identifizieren:

“In diesem schönen neuen Zeitalter werden uns die Toleranten fehlen, die Außenseiter, die Menschen am Rand. Meine Leute.”

“Das Chalet der Erinnerung” ist ein beeindruckendes Buch und mir fehlen die adäquaten Worte um meiner Begeisterung wirklich Ausdruck verleihen zu können. Es ist ein kluges und unheimlich wichtiges Buch. Vor allem Tony Judts Umgang mit seiner Erkrankung beeindruckt mich sehr. Da ist kein Platz für Selbstmitleid. Ich habe alle Feuilletons mit großer Begeisterung gelesen – sie gehören zu den besten Essays, die ich jemals gelesen habe und ich werde das Buch in den  kommenden Wochen sicherlich noch das ein oder andere Mal in die Hand nehmen um es erneut zu lesen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass uns Tony Judt diese Aufzeichnungen hinterlassen und uns damit einen faszinierenden Einblick in seine Gedankenwelt ermöglicht hat.

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