The Corner (Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt) – David Simon und Ed Burns

“Die Corner ist längst eine Welt für sich. Eine knallharte Subkultur, erwachsen aus dem Schmelztiegel der Verlorenen Amerikas.”

Der Journalist David Simon hat sich zusammen mit dem ehemaligen Polizisten Ed Burns in das Drogenmilieu seiner Heimatstadt Baltimore gewagt. Ein Jahr lang haben beide ein besonders stark vom Drogenmissbrauch gezeichnetes Viertel in West Baltimore beobachtet. Ihre journalistische Methode beschreiben sie als “Herumstehen und Beobachten” – den Notizblock immer griffbereit, um sich Begebenheiten und Szenen sofort notieren zu können. Die Beobachtungen begannen 1992, also schon vor zwanzig Jahren und zogen sich über ein Jahr hin – drei weitere Jahre hat es gedauert, die Beobachtungen aufzuschreiben. Am häufigsten hielten sich David Simon und Ed Burns in der Fayette Street auf, dem größten Drogenumschlagplatz in ganz Maryland.

“Heroin und Koks. Koks und Heroin. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.”

Im Mittelpunkt dieser Beobachtungen steht die Familie McCullough. Eine Familie, die bereits in der dritten Generation von der Corner verschlungen wird. Während William noch mit gerade erst fünfzehn Jahren und als hart arbeitender junger Mann nach Baltimore kam und es sein Leben lang blieb (er hat bis kurz vor seinem Tod als Taxifahrer gearbeitet), hat es den Großteil seiner vielen Kinder an die Corner verschlagen und auch seine Enkel treiben sich schon dort rum. Ein besonderes erschreckender Fall ist der seines Sohnes Gary, der jahrelang eine erfolgreiche Baufirma leitete, bis er langsam in die Abhängigkeit geriet. Aus einem intellektuell interessierten Mann, der gutes Geld verdiente, ist in kürzester Zeit ein stehlender und betrügender Junkie geworden. Sein rasanter Aufstieg in die Mittelschicht endet mit einem ernüchternden Fall in die Drogensucht. Seine ehemalige Freundin Fran lebt schon länger von Gary getrennt, sie haust mit ihren beiden Kinder DeRodd und DeAndre in einer Drückerbude an der Fayette Street. Auch wenn sie sich um eine gute Erziehung ihrer Kinder bemüht, ist sie den größten Teil des Tages zugedröhnt. Ihr ältester Sohn DeAndre ist fünfzehn und hat schon angefangen an der Corner zu dealen.

Die Familie der McCulloughs zerbricht an der Corner, zerfällt in einzelne Süchtige, die sich gegenseitig betrügen, belügen und bestehlen. Fran bestiehlt ihren Sohn DeAndre, DeAndre belügt seine Mutter; es ist ein ewiger und erschreckender Kreislauf, der scheinbar nicht aufzuhalten ist. DeAndre kann sich, obwohl er das Beispiel seiner eigenen heroinabhängigen Mutter vor Augen hat, scheinbar kein anderes Leben als ein Leben an der Corner vorstellen. Hier spielt er zumindest eine Rolle, hier ist er der King …

“DeAndre McCullough beugt sich nicht, er verzeiht nichts und vergisst nichts. Im Unterricht hisst er die Flagge der Piraterie und der Aufsässigkeit. Sein Leben ist Kampf.”

Es war für mich ein geradezu beängstigender Moment, als ich erkannt habe, dass ein Großteil der Menschen, die von der Corner verschluckt worden sind, kaum eine andere Wahlmöglichkeit gehabt haben. Sie hatten kaum eine reelle Chance. Das Leben außerhalb der Corner ist bedrohlich, unbekannt, beängstigend. Wie soll man sich für einen anderen Lebensweg entscheiden, wenn dir kaum jemand vorlebt, dass dieser Weg funktioniert? Wenn du nicht belohnt wirst für Aufrichtigkeit oder Interesse an Bildung, sondern nur beschimpft und geärgert? Wie soll man sich für die Schule entscheiden, wenn sogar deine Mutter keine Arbeit hat und Heroin drückt? Wie soll man sich gegen Drogen entscheiden, wenn alle um dich herum Drogen nehmen? Wie soll man sich gegen den Ort entscheiden, an dem man zumindest eine Funktion, eine Rolle hat? Der Ort, an dem man scheinbar zurechtkommt.

“Außerhalb der Szene lassen es die Leute immer so klingen, als würde man sich dafür entscheiden, Drogen zu verkaufen, high zu werden und zur Gewalt zu greifen. In Wirklichkeit ist es gar keine Entscheidung, hier wird keine Wahl getroffen. DeAndre hätte geradezu übermenschliche Kräfte haben müssen, um eine andere Richtung einzuschlagen und sich von der einzigen Welt abzuwenden, in der er jemals zurechtgekommen ist.”

Doch nicht nur das Leben der McCulloughs wird beschrieben, sondern auch das Schicksal einer Vielzahl anderer Personen. Personen, die auftauchen, wieder abtauchen, verschwinden, zurückkommen, versuchen clean zu werden und dann doch wieder abstürzen. Jeder davon hat sein eigenes Schicksal, seine eigene Geschichte. Besonders erschreckt hat mich die von Curtis Davis, genannt Fat Curt, der zwar erst Mitte vierzig ist, aber seinen Körper durch den Drogenkonsum zugrunde gerichtet hat.

“Um eins ist es eine Nacht wie jede andere, und Curtis Davis weiß, dass es niemals endet, Geld und Gier haben immer Konjunktur. Er weiß es seit einem Vierteljahrhundert, seit dem Tag, als er zum ersten Mal hier an den Ecken stand, als das Spiel gerade erst begann. Damals hatte er Geld, und weiß Gott auch die Gier. Seither hat er jede Nacht hier verbracht, bis ihm nur noch seine Gier blieb. Er war gestern hier und er ist heute Nacht hier, und er wird morgen wiederkommen, zur Ecke Monroe/Fayette, wo das immer gleiche Stück gegeben wird.”

Es werden jedoch auch andere Beispiel beschrieben: besonders stechen dabei Ella und Blue heraus. Blue, bürgerlich George Epps, schafft es nach jahrelanger Drogensucht clean zu werden und auch clean zu bleiben – später arbeitet er sogar in einem Beratungszentrum für Süchtige. Still und leise hat er sich ohne große Hilfe und Unterstützung an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen, wofür ihm viel Respekt und Anerkennung gebührt. Ella hat eine besondere Geschichte: sie ist die Leiterin des Jugendzentrums. Dem einzigen sicheren Ort, der die Jugendlichen auffangen und ihnen für kurze Zeit ein Zuhause bieten kann. Sie investiert einen Großteil ihrer Zeit und Kraft in diese Arbeit, obwohl sie schlecht bezahlt wird und leicht eine bessere Anstellung finden könnte. Ihre Motivation zieht sie aus dem schlimmsten Unglück, dass ihr widerfahren ist: die Ermordung ihrer zwölfjährigen Tochter Andrea. Auch Tyreeka, die Freundin von DeAndre, die mit vierzehn Jahren ein Kind von ihm bekommt, entwickelt sich im Laufe der Reportage sehr positiv.

Zwischendurch widmen sich David Simon und Ed Burns auch immer wieder politischen Diskussionen, setzen sich mit der Drogenpolitik auseinander, widmen sich der Schulpolitik und stellen auch Amerikas Umgang mit Straftaten in Frage. An vielen Stellen üben sie immer wieder massive Kritik an politischen Entscheidungen: im Mittelpunkt steht dabei vor allem Amerikas Vorgehen gegen den Drogenkrieg. An einer Stelle in der Reportage ziehen sie das ernüchternde Fazit: “Wir können es nicht aufhalten.” Weder die Justiz, noch das Geld, noch Waffen werden in der Lage sein, den Drogenkrieg zu stoppen.

Auch wenn die Reportage mittlerweile schon über fünfzehn Jahre alt ist, hat sie ihre Aktualität und ihren Schrecken nicht verloren. Das Schicksal der Menschen wird sehr eindringlich geschildert. Menschen, die ihr Leben an eine Sucht verlieren, die ihre ganze Selbstachtung aufgeben müssen, um sich ihren täglichen Schuss zu sichern. Der tägliche Kreislauf der Sucht ist erschreckend, genauso wie die wiederholten Versuche der Süchtigen clean zu werden. Erschreckend und mitleiderregend. Und es hat mich auch wütend gemacht. An einigen Stellen möchte man Fran oder Gary am liebsten packen und schütteln.  Die Analysen der politischen Aspekte im Kampf gegen die Drogen sind sehr weitsichtig und gestochen scharf. An vielen Stellen blitzt auch die Wut der Journalisten auf. Die Wut auf ein System, das ganze Generationen an Menschen aufgegeben hat. Abgerundet und ergänzt wird die Reportage mit einem aktuellen Nachwort der beiden Autoren, in dem auch die Situation einiger Menschen aus dem Buch fünfzehn Jahre später noch einmal angesprochen wird.

Dies war meine erste Begegnung mit Ed Burns und David Simon, da ich weder den Vorgänger “Homocide” noch die TV-Serie “The Wire” kenne. Ich bin begeistert und beeindruckt und gleichzeitig auch zutiefst erschrocken.

“The Corner” ist ein erschreckendes und trauriges Zeugnis davon, was Sucht aus Menschen machen kann und öffnet die Augen dafür, wie wenig Chancen Menschen haben, die in ein solches Milieu hineingeboren werden.

4 Comments

  • Reply
    Doris Küstner
    April 7, 2012 at 4:38 am

    Liebe Mara,

    vielen Dank für deinen ausführlichen Eindruck.
    Ich habe das Buch noch vor mir, kann aber sehr gut nachempfinden was du schreibst denn mir ging es so mit Homicide…und die Tatsache dass man hier keine Fiktion in den Händen hält sondern harte, grausame Realität.

    Liebe Grüße
    Doris

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 7, 2012 at 12:05 pm

      Liebe Doris,

      ich habe mich sehr über deinen Kommentar bei mir gefreut und beneide dich ein Stück weit darum, dass du dieses Leseerlebnis noch vor dir hast. Homocide kenne ich wie gesagt noch nicht, es steht aber schon auf meiner Wunschliste. Wenn ich das richtig verstanden habe, wird in Homocide ja die Arbeit der Polizei beschrieben – das beeindruckende an The Corner finde ich vor allen Dingen, dass dort das Schicksal von ganz normalen Menschen beschrieben und über einen langen Zeitraum verfolgt wird. Die Tatsache, dass es sich um eine Reportage handelt und damit um “harte, grausame Realität” hat das ganze Leseerlebnis für mich noch um so erschreckender gemacht.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    wortlandschaften
    April 7, 2012 at 1:24 pm

    Hallo Mara,

    danke für Deine Besprechung, die ich schon mit Spannung erwartete, seit das Cover in der „Ich lese gerade“-Ecke aufgetaucht ist. Ich habe mit Begeisterung alle 5 Staffeln von „The Wire“ verschlungen und halte sie für eine der besten Serien, die je gedreht wurden. Und eine der komplexesten. Wenn man aber mal alle Charaktere näher kennen gelernt hat, dann gehen deren Schicksale manchmal mächtig an die Nieren. Das Milieu und der Teufelskreis, aus dem nur die wenigsten ausbrechen können, werden sehr realistisch und differenziert dargestellt.

    Es wäre natürlich interessant zu erfahren, ob und inwieweit sich in den vergangenen 15 Jahren etwas geändert hat. Wenn man sich bei Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/Baltimore) den Artikel bezüglich der Kriminalität ansieht, dann hat diese in den letzten Jahren schon signifikant abgenommen. Baltimore zählt aber immer noch zu den 10 gefährlichsten Städten der USA.

    Viele Grüße!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 7, 2012 at 4:29 pm

      Hallo wortlandschaften,

      danke für deinen Kommentar!
      Ich wusste gar nicht, was mich bei “The Corner” erwarten würde; es fällt ein Stückchen aus meinem eigentlichen Beuteschema heraus, aber als es hier dann als Rezensionsexemplar eintrudelte, war ich dann doch sehr gespannt. Ich hatte keine Erwartungen als ich letzte Woche damit begann, es zu lesen – doch schon nach kurzer Zeit konnte ich es kaum noch aus der Hand legen. Auch mir ist das Schicksal der einzelnen Personen in The Corner sehr nahe gegangen – es ist schrecklich über diese Schicksale in dem Wissen zu lesen, dass all dies wirklich passiert ist.

      Deine begeisterten Worte über “The Wire” bestätigen mich noch einmal darin, dass es die richtige Entscheidung war, mir die Serie in der vergangenen Woche zu kaufen. Sie wurde mir bereits von der Klappentexterin wärmstens ans Herz gelegt und ich bin schon sehr gespannt darauf, wie sie mir gefällt.

      Das Nachwort im Anschluss an die Lektüre greift einige der Charaktere noch einmal auf und geht darauf ein, wie diese heutzutage (15 Jahre später) zurecht kommen. Das ist noch einmal ganz interessant. Es wird jedoch nicht näher darauf eingegangen, wie es ganz allgemein mittlerweile in Baltimore mit dem Kampf gegen die Drogen aussieht. Es wird nur erwähnt, dass Stadträte eine Ausgabe von The Corner gerne mal in der Hand halten, wenn sie gewählt werden möchten. 😉

      Österliche Grüße
      Mara

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