Über den Namen Salvatore Scibona war ich zum ersten Mal vor einigen Wochen gestolpert: Scibona ist einer der Autoren, der es auf die Liste der “20 under 40” geschafft hat, also unter die zwanzig besten Schriftsteller unter vierzig Jahren.
“Das Ende” ist Scibonas Romandebüt, der selbst in einer großen italienischstämmigen Familie aufgewachsen ist.
Der Roman entfaltet sich ausgehend von einem einzigen Tag – dem 5. August 1953 – in ganz viele unterschiedliche Richtungen und Charaktere. Das, was Salvatore Scibona erzählt, erstreckt sich über beinahe vierzig Jahre und spielt abwechselnd in Italien und Amerika. Der Roman beginnt mit der Geschichte des italienischen Bäckers Rocco LaGrassa, der im Elephant Park eine Bäckerei betreibt. Bei dem Elephant Park handelt es sich um ein Viertel Ohios, das viele Jahre lang überwiegend von Italienern bewohnt wurde.
„Rocco hatte immer, wirklich immer geöffnet, und so machten sie sich nur selten Gedanken über Rocco, nicht wahr? Sie gingen davon aus, dass Rocco immer da sein werde, mit seinen Aniskeksen zur Weihnachtszeit und mit den glasierten Zuckerbatzen im Februar […].“
Rocco wird an diesem Tag darüber informiert, dass einer seiner Söhne in einem Kriegsgefangenenlager in Korea gestorben ist. Es ist der erste Tag seit mehr als 29 Jahren, an dem sich Rocco dazu entscheidet, seine Bäckerei geschlossen zu lassen – da es Mariä Himmelfahrt ist, stehen beinahe 200 Menschen vor seinem Geschäft und warten auf ihn. Rocco hat sich jedoch dazu entschlossen, seine Frau und seine anderen beiden Söhne zu besuchen, die schon lange von ihm getrennt leben. Seine Frau hat ihn damals verlassen. Und doch sieht sich Rocco immer noch als Ehemann und Vater, in dem Glauben eine Familie zu haben. Alles andere wäre zu schrecklich, um es ertragen zu können.
„Das Gegenteil von Sterben ist, eine Familie zu haben. Wer keine Familie hat, ist folglich tot.“
Der zweite Teil des Buches spielt 25 Jahre vorher und im Mittelpunkt steht Mrs. Marini, eine ältere Witwe, die eine geheime Praxis betreibt, in der sie jungen Frauen Abtreibungen anbietet. Den ersten Eindruck, den man von ihr bekommt, ist eine alles umfassende Verbitterung. Diese Verbitterung richtet sich hauptsächlich gegen ihren Mann Nico, für den sie mit nur 16 Jahren ihre Heimat verlassen hat und nach Amerika ausgewandert ist.
„Die Frau hatte bestimmte Augenblicke der Vergangenheit so oft vor ihrem inneren Auge ablaufen lassen, dass es ihr unmöglich geworden war, zu unterscheiden, was tatsächlich geschehen war und was nur in ihrer Erinnerung existiert. Man stelle sich ein Haus vor, das in hundertausend Schichten übermalt wurde, unter denen das ursprüngliche Haus weggefault ist. Und dennoch steht das Haus noch da, nur dass es jetzt völlig aus Farbe besteht.“
Mrs. Marini kümmert sich um das junge Mädchen Lina, die von ihren Eltern mit dem jungen Italiener Enzo verheiratet werden soll. Später im dritten Teil des Romans springt die Geschichte wieder vor in das Jahr 1952: Lina hat neun Jahre zuvor ihren Mann Enzo und ihren sechzehnjährigen Sohn Ciccio alleine zurückgelassen. Im dritten Teil gelingt es Scibona sehr unauffällig und fast im Vorbeigehen, die losen Fäden und Stränge etwas stärker zusammenzufügen und miteinander zu verknüpfen. Von Beginn an ist das Buch wie von einem Geheimnis durchzogen, das Ungesagte, Unausgesprochene überwiegt und überschattet fast alles andere. Stück für Stück erfährt der Leser, dass Lina sechzehn Jahre zuvor etwas Schreckliches passiert sein muss – daran beteiligt war der “Waldläufer”, ein namenloser Mann der als Juwelier arbeitet. Trotz dieses Wissens herrscht ein erdrückendes Schweigen: “Man will ein Warum. Aber es gibt kein Warum.”
An einer Stelle sagt Lina, dass sie eine Linie sein möchte, aber “[…] ich bin das alles nicht, ich bin unzusammenhängend.” Ein ähnliches Gefühl hat mich auch beim Lesen des Romans beschlichen: es gibt so viele Charaktere, Schauplätze, Handlungsstränge, dass der Roman an manchen Stellen auf mich beinahe unzusammenhängend gewirkt hat. Das Thema, was jedoch über allem steht, ist die Abwesenheit. Die Abwesenheit von Müttern, Kindern, Vätern. Das Gefühl nicht mehr komplett zu sein.
Ich habe das Gefühl, nur wenig über das Buch sagen zu können, ohne zu viel zu sagen. Wenn ich mehr über die Handlung verraten würde, würde ich dem interessierten Leser höchstwahrscheinlich zu viel verraten. Ich hatte lange Schwierigkeiten mit den wechselnden Schauplätzen und vielen Figuren, ich hatte Schwierigkeiten mit dem Schweigen, dem Unausgesprochenen, all dem, was nicht gesagt wird, erst im dritten Teil des Romans haben sich diese Schwierigkeiten ein Stück weit aufgelöst: Scibona gelingt es die einzelnen Stränge immer näher zusammenzuführen. Trotz all meiner Schwierigkeiten kann ich Scibona nur bewundern für diese großartige Komposition.
“Das Ende” ist ein Roman, der nicht leicht ist. Es ist nicht leicht ihn zu mögen, es ist noch schwieriger ihn zu verstehen, geschweige denn in einer Rezension zu erklären. An vielen Stellen habe ich mich verwirrt gefühlt und frustriert über die Tatsache, der Handlung nur schwer folgen zu können. Und doch gibt es zwischendurch immer wieder Passagen, die mir buchstäblich den Atem genommen haben. Passagen, die wunderschön geschrieben und wunderschön übersetzt worden sind – an dieser Stelle ein Lob an den Übersetzer Steffen Jacobs.
Vor allem im dritten Teil, als ich mich an alle Figuren gewöhnt hatte, hätte ich mir gewünscht, noch weiter in diese italienische Welt in Amerika hinab tauchen zu können. Oder den Roman noch einmal von vorne zu beginnen, um ihn beim zweiten Lesen noch besser verstehen, noch stärker genießen zu können.
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