Wenn ich an David Foster Wallace denke, muss ich zwangsläufig immer auch an seinen Selbstmord denken, der mittlerweile beinahe schon vier Jahre zurückliegt. Am 12. September 2008 erhängte der Schriftsteller sich, er hatte jahrelang unter sehr schweren Depressionen gelitten.
Gelesen habe ich von David Foster Wallace bisher leider noch nie etwas. Natürlich kenne ich seinen Namen und vor allem auch nach seinem Selbstmord habe ich viele Artikel über ihn gelesen. Bei mir im Regal steht von ihm “Unendlicher Spaß”, sein sicherlich berühmtestes Werk, was ich bisher aber noch nicht gelesen habe. Ich habe Angst, dass die Lektüre eine zu große Herausforderung für mich sein könnte.
“Das ist Wasser/This is water” ist ein schmales Bändchen und enthält eine berühmte Rede von David Foster Wallace, der 2005 gebeten wurde, vor Absolventen des Kenyon College eine Abschlussrede zu halten. Es ist die einzige Rede dieser Art, die David Foster Wallace je gehalten hat. Untertitelt ist das Buch mit den Worten “Anstiftung zum Denken”, im Einband stehen die Worte:
“Gedanken zu einer Lebensführung der Anteilnahme vorgebracht bei einem wichtigen Anlass.”
Ich empfinde vor allem die Worte “Anstiftung zum Denken” als sehr passend, denn David Foster Wallace spricht in seiner Rede viel über das Denken und bezieht sich dabei vor allem auf den Satz, der häufig bei Abschlussreden fällt, dass Studenten in Universitäten “das Denken beigebracht” werden soll. Wallace weitet dies aus und schreibt:
“[…] denn die wirklich wichtige Ausbildung im Denken, um die es in Institutionen wie dieser geht, betrifft gar nicht die Fähigkeit zu denken, sondern die Entscheidung für das, worüber es sich nachzudenken lohnt.”
Laut David Foster Wallace neigt der Mensch – und da nimmt er sich selbst nicht aus – dazu, sich als Mittelpunkt des Universums zu sehen. Er bezeichnet dies als Selbstzentriertheit und als “Standardeinstellung” des Menschen: es dreht sich alles um mich, darum wie ich die Wirklichkeit und die Welt wahrnehme. Wallace möchte kein Moralapostel sein und es geht ihm auch nicht um Tugend,
“es geht vielmehr darum, ob ich diese angeborene, fest verdrahtete Standardeinstellung irgendwie ändern oder überwinden möchte, diese tief sitzende und im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehende Ichbezogenheit, deretwegen wir alles durch die Linse des Selbst sehen und interpretieren.”
Selber denken lernen bedeutet für David Foster Wallace die bewusste Entscheidung, “wie man über das Wie und Was des eigenen Denken eine gewisse Kontrolle ausübt”. Zentral dabei ist für Wallace der Begriff der Entscheidung, man hat die Entscheidung darüber, worauf man achten möchte, man hat die Entscheidung darüber, wie man Dinge interpretieren möchte. David Foster Wallace versucht den Absolventen zu vermitteln,
„dass es Ihre Entscheidung ist, wie Sie die Dinge sehen wollen. Und das, behaupte ich, ist die Freiheit wahrer Bildung, die Selbsterziehung zur Anpassung: Es wird Ihre bewusste Entscheidung, was Sinn hat und was nicht. Sie entscheiden, was Sie glauben. […] Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.“
Mich haben die Worte von David Foster Wallace sehr beeindruckt. Ich habe seine Rede bereits mehrmals gelesen. Bei der Ausgabe vom Kiepenheuer & Witsch Verlag handelt es sich um eine zweisprachige Ausgabe, so dass im zweiten Teil des Buches die Rede auch noch einmal auf Englisch abgedruckt ist. Ich habe das Gefühl, bei jeden Lesen wieder etwas Neues zu entdecken: einen neuen Gedanken, einen bisher unbeachteten Aspekt. Die Gedanken von David Foster Wallace sind eigentlich sehr einfach und doch so komplex umzusetzen und im Alltag auf das eigene Leben zu übertragen. Er erläutert seine Denkidee anhand von sehr griffigen Beispielen, die jeder nachempfinden kann (der Ärger am Abend nach der Arbeit an der Supermarktkasse oder beim täglichen Kampf um den Parkplatz) und ich weiß, wie häufig es mir so geht, dass ich mich persönlich beleidigt fühle, wenn ich es eilig habe und im Supermarkt keine zweite Kasse geöffnet wird. Dieses Denken wird von Wallace als Standardeinstellung bezeichnet und es lässt sich wohl kaum behaupten, dass man sich dazu entscheidet, so zu denken: es ist einfach zu leicht, zu naheliegend, sich genervt und geärgert zu fühlen. Es erfordert Anstrengung, Mitgefühl mit der Kassiererin zu haben, die wahrscheinlich einen anstrengenden Tag hatte oder auch Verständnis für die Umstehenden zu haben, die auch alle lange gearbeitet haben und erst spät einkaufen können.
Es ist nicht leicht den Text nicht im Kontext von David Foster Wallace’ Selbstmord zu lesen. Es gibt einige direkte Anspielungen in der Rede auf eine Selbstmordthematik. Besonders beeindruckt haben mich die Worte am Ende der Rede:
“Die Wahrheit im Vollsinn des Wortes dreht sich um das Leben vor dem Tod. Sie dreht sich um die Frage, wie man dreißig oder sogar fünfzig Jahre alt wird, ohne sich die Kugel zu geben. Sie dreht sich um den wahren Wert wahrer Bildung, die nichts mit Noten oder Abschlüssen, dafür aber alles mit schlichter Offenheit zu tun hat […].”
Ich bin traurig, dass David Foster Wallace keinen anderen Weg gesehen hat, als sich selbst zu töten. Aber ich bin froh, dass er uns diese Worte hinterlassen hat. Mich hat er nicht nur „angestiftet“ zum Denken, sondern auch zum Handeln.
Wer sich David Foster Wallace noch gerne anhören oder auch ansehen möchte, kann dies bei YouTube tun:
29 Comments
caterina
May 15, 2012 at 8:30 pmAusschnitte der Rede geistern durchs Internet, hin und wieder begegnen mir Wallace’ so klugen Worte, die sich jeder junge Mensche zu Herzen nehmen sollte…
Wo du’s schon angesprochen hast: Seit geraumer Zeit liegt Unendlicher Spaß auf meinem Nachttisch, am Anfang habe ich es noch geschafft, jeden Abend ein paar Seiten zu lesen, mittlerweile gucke ich alle paar Wochen mal rein, dabei bin ich gerade mal auf Seite 350. Das Buch ist wahnsinnig spannend – natürlich nicht im Sinne von Spannungsliteratur, bei der nicht aufhören kannst zu lesen, weil du unbedingt wissen willst, wie es weitergeht; es ist spannend, was Wallace mit Sprache macht, wie er Geschichten erzählt, wie er Figuren und ganze Welten erschafft und darüber hunderte von Seiten lang fabulieren kann, ohne dass viel geschieht. Es macht in gewissem Maße sogar Spaß, dieses enorme Konstrukt zu durchdringen, aber vor allem ist es – wie du schon ahnst – eine enorme Herausforderung, an der ich zu scheitern drohe. Und trotzdem sind schon die ersten paar Hundert Seiten eine Bereicherung – egal, ob man letztendlich die Geschichte zu Ende liest oder nicht. Bisher habe ich ohnehin das Gefühl, dass es nicht vordergründig um die Geschichte im Sinne von “Plot” geht… Also: Ein Blick ins Buch lohnt sich! (Ich bekomme direkt wieder Lust, heute Abend zwei, drei Seiten zu lesen.)
buzzaldrinsblog
May 16, 2012 at 2:44 pmLiebe Caterina,
ich hatte – da muss ich ehrlich sein – vor der Veröffentlichung durch den Kiepenheuer & Witsch Verlag noch nie zuvor etwas von dieser Rede gehört, leider. Da ich auch einen geisteswissenschaftlichen Studiengang studiere, konnte ich mich mit den Worten von David Foster Wallace sehr identifizieren …
Ich finde es sehr spannend, was du über deine Lektüreerfahrungen bezüglich “Unendlicher Spaß” berichtest. Es steht bei mir noch eingeschweißt im Regal, irgendwie habe ich schon vor Beginn der Lektüre kapituliert. Bewundernswert finde ich ja die Arbeit des Übersetzers, mit dem ich mal ein längeres Interview gesehen habe … er muss wohl vor einer Mammutaufgabe gestanden haben. Deine begeisterten Worte werden mich aber wohl doch dazu verleiten, mal die Folie vom Buch zu lösen und ein paar vorsichtige Blicke zu riskieren … hast du noch etwas anderes von Wallace gelesen, was du vielleicht empfehlen könntest?
Liebe Grüße
Mara.
caterina
May 17, 2012 at 11:21 amJa, auch mich hat die Arbeit des Übersetzers schon im Vorhinein stark beeindruckt. Und wenn du dann das Ergebnis liest, bist einfach nur vollkommen verblüfft angesichts der Wort- und Satzgewalten, die da auf dich zurollen. (Was das Lesen aber nicht unbedingt zu einem Spaziergang macht.)
Nein, leider kenne ich noch nichts anderes von ihm. Sein erst kürzlich veröffentlichter, unvollendeter Roman The Pale King hat keine sonderlich positiven Kritiken erhalten, sodass es nicht mein Interesse wecken konnte, und auch auf andere Sachen bin ich noch nicht aufmerksam geworden…
buzzaldrinsblog
May 20, 2012 at 10:10 amDas, was du über “Unendlicher Spaß” schreibst, klingt wirklich sehr reizvoll und doch gleichzeitig auch nach einer großen Herausforderung. Ich habe mir jetzt vorgenommen, ähnlich zu verfahren wie du und am Abend immer mal wieder zu versuchen einen Blick in das Buch zu werden. Ich kann hier dann gerne über meine Lektürefortschritte berichten. 🙂
“The Pale King” hatte mich schon einige Male auf Englisch im Buchladen angelacht, aber war mir dann auf Englisch doch etwas zu kompliziert und wenn du schreibst, dass es auch keine guten Kritiken erhalten hat, werde ich da wohl eher einen Bogen drum machen.
muetzenfalterin
May 16, 2012 at 6:33 amSchöner Artikel. Ich habe mir das Büchlein bestellt und warte jetzt jeden Tag.
buzzaldrinsblog
May 16, 2012 at 2:47 pmHallo liebe muetzenfalterin,
mich freuen deine Worte und die Tatsache, dass dir der Artikel gefallen hat. Genauso gespannt bin ich auf deine Gedanken zu der Rede von David Foster Wallace, die ich hoffentlich hier oder auf deinem Blog lesen kann … 🙂
Liebe Grüße
Mara
muetzenfalterin
May 16, 2012 at 4:41 pmIch habe es jetzt gelesen und glaube, es geht um Freiheit. Um die Freiheit, sich zu entscheiden, statt sich den “Standardeinstellungen” zu überlassen. Im Prinzip ist es sicher nichts Neues, was er sagt, aber er sagt es auf eine bestechend klare Weise. Und es ist ja gerade das Offensichtliche, das wir ständig übersehen. Das ist Wasser.
juneautumn
May 16, 2012 at 7:25 amDanke für den schönen Artikel! Zum “Unendlichen Spaß” kann ich nur sagen: trau Dich, es lohnt sich. Die Geschichte wird hauptsächlich dadurch anspruchsvoll, dass sie so komplex ist, aber wenn Du ein bisschen Zeit mitbringst und keine zu großen Lücken zwischen dem Lesen lässt, ist es durchaus machbar. Ich kann es auf jeden Fall nur empfehlen.
Sehr versöhnlich finde ich Wallaces Wahrnehmung, dass an den Unis sehr häufig das eigenständige Denken zu kurz kommt, aber das doch genau der Sinn und Zweck der Unis sein sollte. Die Erfahrung hab ich auch gemacht. Lehrplan hier, vorgesetztes Denkschema da…Roboter werden erschaffen. Blöd von ihm, sich umzubringen, die Welt braucht Leute, die aufmerksam machen und anprangern.
buzzaldrinsblog
May 16, 2012 at 2:50 pmDanke für deine ermutigenden Worte bezüglich “Unendlicher Spaß”. ich freue mich auf jemanden zu treffen, der das Buch in der Tat auch gelesen hat. Ich habe gelesen, dass über 100000 Exemplare davon verkauft worden sind und da frage ich mich dann immer, wie viele ihr Exemplar auch wirklich gelesen haben … 😉
Deine Erfahrungen an der Universität kann ich teilen, vor allem durch die modularisierten Bachelor- und Masterstudiengängen und durch irgendwelche Credit Points die man zu einer bestimmten Zeit erwerben muss, kommt das eigenständig Denken leider zu kurz. Dabei ist das eigentlich das wichtigste, um ein gutes, um ein langes Leben führen zu können.
Manuel
December 31, 2012 at 2:10 pmHallo,
dieser kommentar kommt wahrscheinlich etwas spät, aber besser spät als nie 😉
Ich habe unendlichen Spaß gelesen, aber auch schon 2009/2010 es hat ca 9 Monate gedauert bis ich ihn gelesen hatte. Ich kann dir nur empfehlen Kurzgeschichten von David Foster Wallace zu lesen bevor du dich an diese Mamutaufgabe wagst. Sehr empfehlen kann ich dir die Bücher “In alter vertrautheit” und “vergessenheit” und “Der Besen im System” da bekommst du schon mal einen guten Eindruck wie er schreibt und erzählt. Das erleichtert einem dann auch das lesen von “Unendlicher Spass”
Viel Spaß beim lesen
Grüße
Manuel
buzzaldrinsblog
January 1, 2013 at 5:45 pmHallo Manuel,
ach Qautsch, etwas spät kommt er auf gar keinen Fall. Ich freue mich immer sehr, auch noch etwas verspätet Kommentare zu meinen Rezensionen zu bekommen und habe mich über deinen und deinen Besuch bei mir sehr gefreut. 🙂
Ich habe “Unendlichen Spaß” hier bereits stehen, habe mich aber noch nicht rangetraut, es ist ja einfach sehr dick und wirkt fast schon erschlagend. Wobei ich sonst eigentlich keine Scheu habe, auch mal ein dickes Buch zu lesen. Danke für die empfohlenen Kurzgeschichten – da werde ich in diesem Jahr sicherlich mal in die ein oder andere reinschauen, denn ich würde gerne etwas von ihm lesen. Ich habe mir “In alter Vertrautheit” und “Der Besen im System” mal notiert und werde beim nächsten Besuch der Buchhandlung einen Blick hineinwerfen.
Ganz liebe Grüße
Mara
Sherry
May 17, 2012 at 5:46 pmAuch ich möchte mich bei dir bedanken. Ich möchte mir das Buch jetzt auch bestellen.
buzzaldrinsblog
May 20, 2012 at 10:06 amLiebe Sherry,
ich habe mich sehr über deinen Kommentar auf meinem Blog gefreut und natürlich noch mehr darüber, dass du das Buch nun auch lesen möchtest. Deine Gedanken dazu würden mich sehr interessieren. 🙂
Sherry
May 20, 2012 at 3:02 pmIch hab’s gelesen! Ich denke, wenn es den Rahmen einer solchen Rede nicht gesprengt hätte, er hätte viel mehr schreiben können und wollen. Mir sind einige Gedanken in den Kopf geschossen. Einerseits konnte ich dieses “Das ist noch nicht alles, das ist nicht genug” von Mützenfalterin sehr gut nachvollziehenen, andererseits haben mich seine Gedanken auch traurig gestimmt. Er hat gedacht, wir können wirklich unsere Perspektive wechseln, er hat an die freie Verfügbarkeit unseres Willens geglaubt; und dann frage ich mich: Warum konnte er das mit seiner Depression nicht? Warum entkam er ihr nicht? Und ich weiß die Antwort: Weil das eben nicht geht, weil es nicht so einfach ist, weil wir von mehr geprägt sind als nur der Illusion, eine Wahl zu haben.
Ich habe es dann noch einmal gelesen; und er hatte einige wirklich geniale Sätze drauf, welche, die es auf den Punkt bringen. Aber die hast du auch schon hier zitiert. Danke nochmal für den Tipp.
buzzaldrinsblog
May 20, 2012 at 7:09 pmLiebe Sherry,
das ging aber schnell – obwohl die Rede natürlich auch nicht so lang ist. Ich musste sie dennoch mehrmals lesen, bevor ich mich überhaupt getraut habe, den Versuch einer Rezension dazu zu schreiben. Ich glaube auch, dass er – wenn dies den Rahmen nicht gesprengt hätte – viel mehr hätte sagen können. Schade, dass er es nicht getan hat und auch nie mehr wird tun können. Ich hätte gerne mehr gehört und mehr gelesen von diesen Gedanken.
Mir fiel es schwer den Text losgelöst von Wallace Selbstmord zu lesen und ich habe es immer wieder als schrecklich empfunden, dass er es nicht geschafft hat, dass es nicht gereicht hat für ihn. Vielleicht hast du Recht, dass es in der Tat nicht so einfach sein kann.
Ich weiß nicht, ob dich oder jemanden anderen das interessiert, aber ich habe vor Jahren einen wirklich interessanten und faszinierenden, gleichzeitig unendlich traurigen Artikel über David Foster Wallace im Rolling Stone gelesen. Hier kann man sich den Artikel, den es online leider nicht mehr gibt, als PDF runterladen:
http://www.thedudeman.net/wp-content/uploads/docs/class/j280/TheLastDays.pdf
Eine ausgesprochen empfehlenswerte Lektüre!
Klappentexterin
May 28, 2012 at 9:10 amLiebe Mara,
ich bin überwältigt! So ein schmales Buch und so viele Gedanken und Wörter, die du zu der Rede gefunden hast. Momentan spricht mich das Buch leider nicht an, aber es kommt in jedem Fall in die hauseigene Bibliothek nebst seinem Roman “Unendlicher Spaß”.
Viele Grüße
Klappentexterin
buzzaldrinsblog
May 28, 2012 at 11:31 amLiebe Klappentexterin,
ich habe mich sehr über deine Worte gefreut! Das Buch ist in der Tat ein schmales Bändchen – umfasst gerade einmal 35 Seiten, beinhaltet zwischen den Zeilen aber um so mehr. Ich habe es wie bereits erwähnt mehrmals gelesen und immer wieder etwas Neues entdecken dürfen.
Es tut mir leid, dass dich das Buch im Moment nicht anspricht, aber ich freue mich auf jeden Fall darüber, dass es einen Platz in der Bibliothek erhält – vielleicht fühlst du dich dann auch irgendwann danach, auch einen Blick reinzuwerfen.
Liebe Grüße
Mara
kommentarblog
July 19, 2012 at 6:23 pmLieber oder liebe Mara,
über Travniceks Blog bin ich bei dir gelandet und einmal quer über deine Einträge geflogen. Zuallererst Respekt. Du bist ein Vielleser, definitiv. Schön, dass du mit deinen Leseerfahrungen das www. bereicherst. Das eine oder andere Mal musste ich auch schmunzeln, dass es so klassische Bücherwürmer überhaupt noch gibt. Die meisten deiner Tips interessieren mich weniger. Als ehemaliger Buchhändler habe ich einige Jahre vor allem mit zeitgenössischer Literatur verbracht, aber seit ich den permanent drängelnden neuen Programmen den Rücken zugewandt habe, halte mich eher an Bücher, die überdauert haben. Und deshalb melde ich mich hier zu Wort: “Unendlicher Spass” – Wallace hat es glaube ich bereits in den 90igern geschrieben – war eines dieser Büchern. Ich habe es vor etwa zwei Jahren gelesen. Als ich fertig war, habe direkt wieder angefangen, weil ich am Anfang teilweise noch sehr orientierungslos durch den Text geschwommen bin. Ohne es wirklich zu bemerken, war ich wieder bei S. 400, obwohl ich definitiv kein Raketenleser bin. Nie hatte ich ein so umfangreiches Buch gelesen. Wenn andere hier schreiben, dass sie täglich ein paar Seiten lesen, kann ich das nicht nachvollziehen. Bei mir hat der Text oft einen solchen Sog entwickelt, dass ich hunderte Seiten einfach einatmet habe. Bis Foster mir einen Knüppel zwischen die Füße warf, mich ausbremste, und das Lesen zur Strapaze wurde. Wie er seinen Text appetitlich und recht leicht verdaulich auf den Tisch bringt, scheint Foster nich gekümmert zu haben. Ihm kann es nur um sein Werk gegangen sein, und ich glaube auch nicht, dass er selbst sein Werk in all seinen Nuancen verstehen konnte. Das Buch enthält drei oder vier Hauptstränge, unzählige Diskurse und kleinere und größere prosaische Ausschweifungen. Zwei der Hauptstränge waren für mich absolut mitreißend, mit einem habe ich mich bis zum Schluss sehr schwer getan. Mit “This is water” ist der Text freilich nicht zu vergleichen, aber wenn du dich darauf einlässt, kannst du hier noch weit mehr Weisheit und Lebensfülle entdecken. Im Rückblick fallen auch hier die vielen Suizid-Bezüge auf. Etliche Romanfiguren nehmen sich das Leben, oder versuchen es zumindest. “Sich die Karte umdekorieren” nennt das Foster Wallace. An einer Stelle beschrieb er eine Situation, in der mir völlig plausibel wurde, dass es unter gewissen Vorraussetzungen als die schlüssigste Lösung erscheinen muss, sich das Leben zu nehmen, bzw. dass “Selbstmord” die letzte Konsequenz einer Vielzahl tödlicher Krankheiten zwischen Sucht und Depression ist. Hier könnte nun der Eindruck aufkommen, dass “Unendlicher Spass” ein deprimierender Schinken ist. Ist es nicht. Der Roman ist manchmal deprimierend, oft zärtlich, lustig, albern, brutal. Er lotet etliche Themen in all ihren Facetten aus und darin liegt in meinen Augen sein großer Verdienst: Ich hatte nach dem Lesen das Gefühl, dass mein Denken und Fühlen klarer und schärfer funktioniert, als hätte der Roman verwaiste und vernachlässigte Gegenden meines Gehirns entschlackt und überhaupt erst gangbar gemacht. Ein Gefühl, das bis heute anhält. Bestimmt werde ich mir den Text früher oder später wieder vornehmen und wieder mit Gewinn lesen. Als überschaubare Einstimmung würde ich dir zunächst allerdings noch “Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich” empfehlen.
So weit. Beste Grüße
kommenta Rblog
buzzaldrinsblog
July 19, 2012 at 7:09 pmLieber kommenta Rblog,
mit “liebe Mara” liegst du schon ganz richtig. Bisher ist es mir noch nicht sehr häufig passiert, dass mein Vorname nicht eindeutig zuzuordnen ist, auch wenn er eher selten ist. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um nun mit der deinem schönen Kommentar angemessenen Ruhe antworten zu können. Ich habe mich über deine Worte sehr gefreut.
Ich finde deine Einstellung schön, dich an Bücher zu halten, die überdauert haben. Ich fände es sehr spannend zu erfahren, was du gerne liest, was deine Empfehlungen sind. “Das drängelnde neue Programm” erlebe ich erst seit Beginn meines Blogs stärker als zuvor. Früher habe ich auch gerne ältere Bücher gelesen und habe mit sehr viel Freude Schriftsteller wie Yates, Salter, Wolff, Ford und Roth Stück für Stück für mich entdeckt. Mit meinem Blog ist der Wunsch stärker geworden, überwiegend aktuelle Erscheinungen vorzustellen.
Deine Ausführungen zu “Unendlicher Spaß” habe ich mit sehr viel Begeisterung und Freude gelesen. Man merkt an deinen Worten, wie viel Spaß die Lektüre dir gemacht haben muss. Mir haben die Gedanken von David Foster Wallace in “Das ist Wasser” sehr gut gefallen, ich habe das Büchlein bereits mehrere Male durchgeblättert, Stellen markiert, in bestimmten Situationen wieder einen Blick hineingeworfen. Die Aussicht, noch mehr dieser Gedanken, dieser Weisheit, in “Unendlicher Spaß” finden zu können, macht die Lektüre noch reizvoller für mich. An meiner Blogstatistik sehe ich täglich, was für ein großes Interesse an David Foster Wallace herrscht – Tag ein, Tag aus, kommen Leser auf meinen Blog, weil sie genau nach diesem Buch gesucht haben. Das es da ein solches Bedürfnis gibt, hat mich überrascht, aber auch erfreut.
“Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich” habe ich mir notiert und werde ich mir bald zur Einstimmung in Wallace Werk besorgen. Ich freue mich – auch wenn ich Angst habe – diesen Schriftsteller weiter zu entdecken.
Über deinen Kommentar habe ich mich sehr gefreut und ich hoffe, dich noch häufiger auf meinem Blog begrüßen zu dürfen, auch wenn die meisten meiner Besprechungen dich nicht ganz ansprechen!
Liebe Grüße
Mara
kommentarblog
July 19, 2012 at 8:25 pmLiebe Mara,
o-ha, pardon. Ich habe das Gesicht hinter dem Buch in deinem Profilbild so eindeutig mit einem jungen Mann assoziiert, dass mich weder dein Name, noch die Anreden der Mitblogger, von dieser Fährte abbringen konnten. Ich entschuldige mich vielmals. Ziemlich ignorant, finde ich jetzt, wo ich es besser weiß.
Freut mich, dass mein Kommentar dir gefällt.
Ein paar Sachen möchte ich dazu noch ergänzen: Du schreibst, man merkt mir den Spaß an, den ich beim Lesen von David Foster Wallace hatte. “Spaß” ist hier aber der falsche Begriff. In mancher Hinsicht war das Buch eine Zumutung. Aber eben eine Zumutung, die sich lohnt. Wie ein Gebirgsweg, der derbe anstrengt, aber ständig die herrlichsten Panoramen anbietet, und darüber hinaus noch frisches Bergwasser, Beeren und Heublumenduft. Oder eine riesigeStadt, die Straßen voller Siff und Taschendiebe, aber eben auch vibrierend vor Leben.
“Unendlicher Spass” hat mich umgehauen, und gleichzeitig aufgerichtet.
unendlicherspass.de, die öffentliche Lesegruppe, die der Verlag nach der Veröffentlichung eine Zeit lang im Internet moderiert hat, habe ich leider verpasst. Aber ein Blick darauf, lohnt sich auf jeden Fall.
Von den Autoren, die du dir Stück für Stück erschlossen hast, habe ich lediglich Roth gelesen. Obwohl der bestimmt früher oder später den Nobelpreis bekommen wird, ist er für mich nichts, im Moment jedenfalls. Mir ist Roths Schreibe auf eine unangenehme Art zu dicht. Seine Texte führen mich durch seine Geschichten, wie die Hand einer überfürsorglichen Mutter ihr erstes Kind. Roth lässt mir keine Luft, die Dinge selbst so oder so zu sehen. Aber das ist ihm nicht anzulasten. Er macht das, was er macht, gut, nur ist es nicht meins.
Was ich sonst lese, geht wie auch bei dir quer durch die Literaturen der Welt, doch im Rückblick fällt auf, dass die Amerikaner zuletzt am meisten Eindruck gemacht haben:
Im Moment lese ich noch “Die Abenteuer von Huckleberry Finn” und finde es großartig. Hemingway behauptet, dass alle amerikanische Literatur, von diesem Buch kommt. Obwohl ich nicht allzu viel auf Hemingway gebe, hat mich das Zitat zur Lektüre inspiriert. Davor schlich schon eine Weile um das Buch herum. An das bisschen, was ich von Huck Finn wusste, dachte ich oft, während ich Kerouacs “On the road“ gelesen habe (die kürzlich veröffentlichte Urfassung hat übrigens ebenfalls Blumenbach übersetzt).
Zwischen beiden Büchern gibt es so viele Parallelen:
– Eine leidenschaftliche Freundschaft zwischen zwei ungleichen Jungs – der eine aus einigermaßen soliden Verhältnissen, der andere Sohn eines Säufers, der ohne Wurzeln durch die Welt treibt.
– Die Reisen durch die Staaten, an denen die Protagonisten wachsen, und auf denen sich ihr Verhältnis zum Mutterland so sehr verändert.
– Beide Bücher tragen die Essenz des “Jung-Seins” in sich – einmal aus einer eher präpubertären Perspektive, einmal aus einer postpubertären.
Der Sprung weiter zu “Catcher in the Rye“ ist nicht weit. Ich habe es am Anfang des Jahres gelesen, nicht zum ersten Mal. Eigentlich finde ich, sollte man sich mindestens einmal im Jahr mit Holden auf die Fahrt nach New York machen . Oder, alternativ dazu, Salingers Erzählungen lesen. Ich finde Holden so klug, so witzig, und er tut mir so leid.
Du schreibst an anderer Stelle über ein Buch, in dem der Held behauptet, er wäre wie Holden. Ich würde ja darauf warten, dass ein Autor, der in seinem Text solche Referenzen bringt, die Latte reißt. Ich erinnere mich an wenige Romanfiguren, die mir so nahe gegangen sind, wie Holden Caulfield.
Außer vielleicht dem “Konsul” aus “Unter dem Vulcan” von Malcom Lowry. Das Buch erzählt von einem Trinker, den die Liebe seines Lebens verlassen hat. Nach einem Jahr kommt sie wieder, bereit, es noch einmal mit ihm zu versuchen. Er würde gerne, er will sogar unbedingt, aber er schafft es nicht, und zerstört in ein paar Tagen alles, für immer. Dieses Buch leuchtet und trieft vor Leben, und ich bin überzeugt, dass ich ihm auch beim zehnten Mal lesen noch Neues abgewinnen kann.
Zur Abwechslung noch ein paar Bücher, die nicht in Englisch geschrieben sind:
Du schreibst über Javier Marias. Ich habe damals “Mein Herz so weiß“ und “Morgen in der Schlacht denk an mich“ gelesen, und war hingerissen, von dieser fiebrigen, atemlosen Sprache, die einen packt und nicht mehr loslässt.
Ähnlich erging es mir eine Zeit lang mit den Büchern von José Saramago, allen voran “Alle Namen”. Allerdings muss ich zugeben, dass ich kürzlich “Hoffnung im Alentejo” angelesen habe, und mich Saramagos umständlicher, blumiger Stil, nach ungefähr der Hälfte genervt hat.
Ein fast aktuelles, und daher für dein Blog relevanteres Buch, wäre Houellebecqs “Karte und Gebiet“. Eine Mischung aus Künstlerroman, Krimi, Vexierspiel. Houellebecqs Art, mitten in die Erzählung derbe Diskurse einzuflechten, fand ich zunächst speziell, doch dadurch ist es ihm gelungen, zum Teil wirklich komplexe Ideen und Botschaften, völlig klar zu vermitteln, ohne dass der Gesamt-Text dadurch besonders kantig werden würde.
Mein letztes zeitgenössisches Buch aus Deutschland war Frank Schulz, “Morbus Fonticuli“. Einiges daran – der zähe Einstieg, das abgeschmacktes Thema: es geht um einen Quartalssäufer, der seine Partnerin betrügt – hat mich gehörig genervt. Dennoch habe ich den 766 Seiten starken Roman zu Ende gelesen, und seit dem halte ich Frank Schulz für das größte lebende deutsche Sprachgenie. Sein jüngster Roman, “Onno Viets und der irre vom Kiez“, liegt bereit und wartet auf seine Gelegenheit, zwischen all den Klassikern.
So far. Ich danke dir für die Aufmerksamkeit. Wiederkommen werde ich bestimmt. Mir tut das gut, mich über solche Dinge auszutauschen. Wenn ich hier aus dem Fenster schaue, sehe ich bei klarer Luft den Meereshorizont, manchmal ein Rudel streunender Hunde, das sich jeden Tag näher herantraut, jede Menge Staub und Steine, ein paar Bäume (ich muss unbedingt herausbekommen, was für Bäume das sind. Begriffe wie “Dattelpalme” oder “Feigenbaum” erwecken sowieso ganz andere Begehrlichkeiten). Nach meinen literarischen Vorlieben, fragt mich hier nie einer. Dabei habe ich die so gern.
Bis bald
kommenta
Private Büchersammlungen: Maras Bücher « kbvollmarblog
December 18, 2012 at 6:10 pm[…] jeder Zeit, und die mir immer etwas zurückgeben. Dabei handelt es sich um David Foster Wallace „Das ist Wasser“, „vielleicht lieber morgen“ von Stephen Chbosky und den Roman „Buzz Aldrin wo warst du in […]
Blogparade 2012 « buzzaldrins Bücher
December 31, 2012 at 11:40 am[…] Das ist Wasser, David Foster Wallace […]
isolierstationen
January 10, 2013 at 3:26 pmDem Rat, sich vom Umfang von “Undendlicher Spaß” nicht abschrecken zu lassen, kann ich mich nur anschließen, es ist eines der besten und vor allem beeindruckensten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe (und enthält eine Definition oder besser Beschreibung dessen, was “Depression” bedeutet, die sich jeder Psychiater oder Therapeut zur Gemüte führen sollte). Bemerkenswert gelungen war übrigens auch die Adaption im Münchner Volkstheater, die sich auf einige wenige Auszüge beschränkt hat.
Einfacher zu lesen, aber nicht weniger lesenswert ist “The Broom of the System”, ein früherer Roman und etwas näher an der Realität.
kommentarblog
January 4, 2014 at 7:55 pmIch erlaube mir an der Stelle noch einen Hinweis auf http://kommentarblog.wordpress.com/2013/12/28/das-hier-ist-wasser-konrad-1/ — nur bedingt eine Rezension von “Das hier ist Wasser”, aber eine Verbeugung vor David Foster Wallace und vor allem vor meinem schlauen Freund Hamid …
buzzaldrinsblog
January 6, 2014 at 12:28 pmDanke für den Hinweis, ich hüpfe gleich mal rüber und werfe einen Blick in deinen Text. 🙂
martin
September 5, 2014 at 11:24 pmHallo liebe lesende,
Ich befinde mich hier in einer Runde, die für mich sehr ungewöhnlich ist, und zwar unter Leuten, die viel lesen.
Ich bin oder vielleicht war nie einer, der gerne Bücher lass. Ich werde es demnächst vielleicht herausfinden.
Habe die Rede, das ist wasser von Wallace, empfohlen bekommen.
Wenn ich hier lese, das er unter Depressionen litt und sich dann aus seiner Depression selbst erlöst hat, kann ich nur zu gut nachvollziehen.
Schwer zu verstehen für jemanden, der nie über Jahre unter Depressionen leidet. Ich kann ihn gut verstehen, ohne seine genauen Umstände zu kennen.
Das krasse an Depressionen ist, man weiss was man hat, man funktioniert in der Arbeitswelt, überspielt die eigene Situation automatisch, niemand merkt es, ausser man klappt zusammen.
Man ist so frei im Geist, um anderen sogar
Tipps zu geben, um das leben besser meistern zu können, aber selber ist man im eigenen Geist gefangen. Man will dem entfliehen, kann aber nicht.
Ich freue mich auf das Buch “das ist Wasser”. Habe es heute bestellt. Nimmt mich wunder, was Wallace über das freie denken geschrieben hat, obwohl er selbst gefangen war. RIP
Gruss an alle
Martin
Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte - D.T. Max
December 12, 2014 at 12:04 pm[…] auch an seine Texte. Leicht beschämt muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich – bis auf Das ist Wasser – noch nichts von Wallace gelesen habe. All denen, denen es genauso geht wie mir, kann ich […]
Colima
December 23, 2014 at 2:10 amHallo, könntest du bitte noch einmal den Rolling-Stone-Artikel hochladen/verlinken? Der Link ist leider nicht mehr funktionsfähig. Danke im Voraus 🙂
Mara
January 6, 2015 at 1:30 pmHallo Colima,
dieser Artikel ist in der Tat nicht mehr online zu finden, über das großartige Internet Archiv kannst du aber auf eine alte Version des Artikels zugreifen: http://web.archive.org/web/20090505020146/http://www.rollingstone.com/news/story/23638511/the_lost_years__last_days_of_david_foster_wallace/print
Ich hoffe, damit ist dir geholfen. Der Artikel ist wirklich sehr lesenswert!
Liebe Grüße
Mara