Am 26. April 1986, vor 26 Jahren, kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zu einer Reaktorkatastrophe. Ich war damals vier Monate alt und habe von dieser Katastrophe und ihren Folgen nichts mitbekommen. Erst letztes Jahr – ausgelöst durch die Katastrophe in Fukushima – habe ich mich auch etwas mehr mit den Ereignissen in Tschernobyl auseinandergesetzt.
Es gibt nicht viele Schriftsteller, die sich bisher an dieses Thema literarisch herangewagt haben. Im letzten Jahr habe ich “Der Reaktor” von Elisabeth Filhol aus der Edition Nautilus gelesen, die sich mit der Situation von sogenannten Nuklearnomaden in Frankreich beschäftigte. Nuklearnomaden ziehen mit ihren Habseligkeiten von Kraftwerk zu Kraftwerk. Ihr Einsatzgebiet ist die Revision. Wenn das Kraftwerk abgeschaltet ist, steigen sie in das Abkühlbecken, säubern dies und befreien es von radioaktiven Partikeln.
Der spanische Autor Javier Sebastián schildert in seinem Roman “Der Radfahrer von Tschernobyl” die Folgen der Reaktorkatastrophe. Seine Schilderungen sind erschreckend realistisch, er beschönigt nichts. Der Text ist in zwei Erzählstränge aufgeteilt, die sich mit der Zeit immer stärker miteinander vermischen. Es gibt zum einen den namenlosen Erzähler, der spanischer Delegierter ist und sich im Rahmen einer Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Paris aufhält. Von seinen Kollegen wird er Dos Kilos genannt, da er der einzige Vertreter ist, der zwei Kilosteine dabei hat. In einem Pariser Fastfoodrestaurant beobachtet er, wie ein alter Mann ausgesetzt wird. Der Mann kann sich vor Schwäche kaum noch auf seinem Stuhl halten. Er spricht nicht und hat auch keine Papiere bei sich. Durch eine Aneinanderreihung von Zufällen und Missverständnissen wird der Erzähler mit der Aufgabe betraut, sich um den alten Mann zu kümmern – die französischen Behörden nehmen irrtümlich an, es würde sich um seinen Vater handeln. Der Erzähler entdeckt auf dem Arm des Mannes eine Tätowierung: samosjol. Dieser Begriff hängt mit Tschernobyl und den Menschen zusammen, die man damals evakuiert ist. Samosjol bezeichnet “einen, der wieder dorthin zurückgegangen ist”.
Im anderen Erzählstrang vermischen sich Realität und Fiktion: der Erzähler gibt Episoden aus dem Leben des alten Mannes wider. Man erfährt, dass es sich bei dem alten Mann um Wassili Nesterenko handelt, einem Kernphysiker, der in Tschernobyl tätig war. Javier Sebastián erzählt in diesen Passagen aus dem Leben von Nesterenko, angelehnt an die wahre Biographie des Wissenschaftlers, der 2005 mit dem Bremer Friedenspreis ausgezeichnet wurde: Nesterenko hat damals trotz behördlicher und politischer Widerstände gegen die gesundheitlichen Folgen der Katastrophe angekämpft. Er hat darum gekämpft, dass die Kinder aus den betroffenen Regionen evakuiert und eine sofortige Jodprophylaxe durchgeführt werden sollte. Mit einem Messgerät für radioaktive Strahlung war Nesterenko darum bemüht, exakt zu messen, wie stark die Gebiete verseucht waren. Zusätzlich gab er praktische Unterstützung, in dem er und seine Mitarbeiter den Bewohnern erklärten, wie sie ihr Gemüse möglichst “strahlenfrei” kochen konnten. Mit dieser Arbeit und seinem unermüdlichen Drang, den Menschen zu helfen und die atomaren Folgen der Katastrophe nicht zu verschleiern, sondern öffentlich zu machen, geriet Nesterenko natürlich auch in die Kritik. Es kam sogar zu zwei mysteriösen Autounfällen, die nahelegen, dass Nesterenkos Leben in Gefahr war.
An dieser Stelle baut Javier Sebastián fiktive Elemente in seine Erzählung ein: als Nesterenko von einem Auto verfolgt wird, flüchtet er nach Prypjat. Die Stadt ist nur vier Kilometer vom Reaktor entfernt und wurde zur Sperrzone erklärt. Dort versteckt er sich vor seinen Verfolgern. Er findet ein altes Fahrrad und ist ab diesem Zeitpunkt als Radfahrer durch die verseuchte und verlassene Siedlung unterwegs.
“Aber irgendjemand in Prypjat sollte doch existieren.”
Diese Fahrradfahrten haben zwar einen fiktiven Charakter, schildern aber sehr realitätsnah die Zustände, unter denen die Menschen damals nach der Katastrophe in Prypjat gelebt haben. Sebastián beschönigt nichts und schildert in einzelnen Passagen immer wieder die schrecklichen Folgen der Verstrahlung und auch den Strahlentod, der einige Bewohner von Prypjat trifft.
“Das Atmen fiel ihm schwer, die Leute sagen, am Ende wird einem die Zunge schwarz. Die Haut löst sich ab, und man fängt an sich zu übergeben. Oder man spuckt gelben Schleim. Aber die Leute sagen alles Mögliche, also kann man nie wissen.”
Die Bewohner von Prypjat wurden erst 36 Stunden nach der nuklearen Katastrophe evakuiert. Sie verließen ihre Häuser unter der Annahme, bald wieder zurückkehren zu dürfen. Wichtige, überlebenswichtige Informationen wurden ihnen von den Behörden vorenthalten.
“Als der Unfall war damals, hat uns kein Mensch informiert, was los war.”
Das, was in Prypjat passiert, wird von Javier Sebastián sehr nüchtern und sachlich geschildert. Gerade diese Schilderung macht einen großen Teil der ungeheuren Eindringlichkeit des Buches aus. An manchen Stellen habe ich mich fast erschlagen von Informationen gefühlt, von Schrecklichkeiten. Im Gedächtnis geblieben ist mir der Taucher, der für 1000 Rubel in das Abkühlbecken des Reaktors taucht, um eine Abdeckung zu öffnen. Er kehrt nicht zurück, erst löst sich seine Haut von seinem Körper, schließlich stirbt er.
Auch der Kampf von Nesterenko und seinen Mitarbeitern gegen die Behörden und die Politik wird immer wieder aufgegriffen. Es werden Namen erwähnt von Wissenschaftlern, die sich um Aufklärung bemüht haben und einfach verschwunden sind, die sich umgebracht haben oder die in ein “Irrenhaus” gesperrt wurden. Man enthält einen Einblick in das, was damals passiert ist und ich glaube, ich bin vor allem darüber schockiert, wie skrupellos die Politiker und Machthaber mit dem Leben und der Gesundheit ihrer Bevölkerung gespielt haben.
Sebastián wirft zwischendurch auch immer wieder einen kritischen Blick auf die heutige Situation von Prypjat und die immer stärker zunehmenden Busreisen, die in die Stadt unternommen werden. Im Jahr 2009 haben bereits 7900 Menschen die Stadt besucht, mittlerweile rechnet man sogar mit einer Million Besucher im Jahr – so etwas wird dann als “Extremtourismus” bezeichnet.
Der Roman stellt die Folgen und die Opfer der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in das Zentrum der Erzählung und macht deutlich, dass die nuklearen Folgen dieser Katastrophe unüberblickbar und für niemanden mehr zu beherrschen waren.
“Und dann die Stille. Verseuchte, tödliche Erde.”
Javier Sebastián hat in “Der Radfahrer von Tschernobyl” dem Kernphysiker Wassili Nesterenko ein beeindruckendes Denkmal gesetzt. Nesterenko hat sich – ähnlich wie viele seiner Mitarbeiter – vom ersten Tag der Katastrophe an, um das Schicksal und die Gesundheit der Bevölkerung bemüht, auch wenn diese Bemühungen sein eigenes Leben gefährdet haben. “Der Radfahrer von Tschernobyl” ist sicherlich kein leicht zu ertragenes Buch, aber eines, das man lesen sollte.
Wer sich noch weiter mit der Thematik des Romans beschäftigen möchte, kann sich auch auf der Homepage des Autors informieren, der für diesen Roman unermüdlich recherchiert hat.
Sehr beeindruckend fand ich folgendes Video:
6 Comments
BlauRaum
May 27, 2012 at 7:11 pmMit dem Buch habe ich auch geliebäugelt. Eine gewisse Zeit war meine Interesse für Tschernbyl recht gross. Ich habe damals vor allem Dokumentationen gesehen (aktuell empfehlenswert, aber auch gruselig ist: Tscherenobyl forever).
buzzaldrinsblog
May 28, 2012 at 11:20 amHallo BlauRaum,
danke für deinen Besuch bei mir (herzlich Willkommen!) und besonders auch für deinen Kommentar – darüber habe ich mich sehr gefreut. Mein Interesse an Tschernobyl war bis jetzt noch nicht so ausgeprägt, wurde aber durch das Buch von Filhol und vor allem die Reportage (leider erinnere ich den Titel nicht mehr) geweckt. Deshalb auch danke für deine Empfehlung, ich werde mir “Tschernobyl forever” sicherlich mal anschauen.
Liebe Grüße
Mara
Beatrix Alfs
February 13, 2013 at 5:15 pmIch kann der Buchbesprechung nur zustimmen: Dieses Buch ist nicht leicht zu lesen und man möchte manchmal nicht glauben, dass es mehr ist als nur ein Roman. Aber damit sich diese Dinge nicht wiederholen, kann ich das Buch auch nur jedem empfehlen.
buzzaldrinsblog
February 15, 2013 at 5:13 pmDanke für deine Zustimmung! 🙂 Meine Lektüre ist ja jetzt bereits einige Zeit her, ich habe sie aber immer noch sehr eindrücklich im Gedächtnis, da sie mir vieles aufgezeigt hat, das mir zuvor nicht klar gewesen ist. Ich hoffe sehr, dass das Buch noch viele Leser finden wird.
Beatrix Alfs
February 15, 2013 at 6:02 pmÜbrigens: wer sich für das Thema interessiert, dem sei auch noch das Sachbuch “Ich war im Sarkophag von Tschernobyl” von Anatoly N. Tkachuk empfohlen. Der Autor ist der einzige Überlebende und schildert aus erster Hand, was sich den Wissenschaftlern damals nach dem Unglück präsentierte. Es geht unter die Haut!
buzzaldrinsblog
February 17, 2013 at 4:20 pmDanke für diesen interessanten Buchtipp zu einem Thema, über das ich gerne noch mehr lesen möchte. Das Buch wandert auf jeden Fall schon mal auf die Wunschliste. 😀