Toine Heijmans ist Journalist bei de Volkskrant und “Irrfahrt” ist sein erster Roman. 2011, nach seiner Veröffentlichung in den Niederlanden, avancierte der Roman dort überraschend zu einem Publikumserfolg. In Deutschland ist er in der “Arche Paradies” Edition erschienen, die von dem Literaturkritiker Denis Scheck herausgegeben wird.
Dem Buch vorangestellt werden zwei Zitate von Donald Crowhurst, der 1968 als Solosegler in seinem Boot Teignmouth Electron aufbrach. Er hatte sich zu einem der schwersten Segel-Wettbewerbe der Welt angemeldet, ohne je zuvor Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt zu haben. In seinen letzten getätigten Logbucheinträgen spiegelte sich immer stärker eine Mischung aus Wahn und Irrationalität wider. Man fand sein leeres Boot im Juli 1969, Donald Crowhurst wurde dagegen nie gefunden. Sein Sohn Simon sagte 2006 der Times über die Reise seines Vaters: “Er war der Architekt seines eigenen Niedergangs. Er wollte etwas tun, was katastrophal schiefging.”
Der Protagonist aus Toine Heijmans Roman “Irrfahrt” hat mit Crowhurst nicht nur den Vornamen gemeinsam, denn auch er heißt Donald – was man jedoch erst sehr spät im Roman erfährt. Donald entschließt sich dazu, mit seinem Boot “Ismael” zu einem dreimonatigen Segeltörn quer durch die Nordsee aufzubrechen – als Solosegler. Nur das letzte Stück der Reise, von der dänischen Stadt Thyborøn bis nach Harlingen in den Niederlanden, Donalds Heimatstadt, möchte er gemeinsam mit seiner siebenjährigen Tochter Maria zurücklegen. In Harlingen wartet Donalds Frau Hagar, besorgt und unruhig – sie war eigentlich dagegen, dass Donald die gemeinsame Tochter auf diese kleine Reise, die gerade einmal 48 Stunden dauern soll, mitnimmt.
Obwohl die gemeinsame Reise von Vater und Tochter noch sehr harmonisch beginnt, wird schnell deutlich, dass die Sorgen seiner Frau berechtigt sind. Ein Sturm zieht auf und Donald gerät mit seinem Boot in Schwierigkeiten.
“Jetzt kommt es darauf an, dass alles heil bleibt.”
Damit bezieht sich Donald nicht nur auf sein Boot selbst, sondern auch auf seine Tochter, die er sicher und heil wieder ans Ufer bringen möchte. Die er nach Hause bringen möchte, zurück zu Hagar – als triumphierender Held und Vater. Donald fällt es schwer, den Überblick zu bewahren auf der stürmischen See. Er ist mittlerweile schon den zweiten Tag in Folge wach, hat kaum geschlafen. Als er am frühen Morgen, als der Sturm abgeklungen ist, unter Deck geht, um nach seiner Tochter zu schauen, wird für ihn der Alptraum aller Eltern Wirklichkeit:
“Ich will Maria nur kurz berühren, um sie zu beruhigen. In der dunklen Koje taste ich mit der rechten Hand unter die Decke, finde aber nichts. Das ist sonderbar. Kurz muss ich mich abstützten, weil das Boot so schwankt. Ich schwitze. Dann versuche ich es noch einmal. Ich mähe mit dem Arm unter der Decke hindurch, ziehe die Decke aus der Koje heraus, klettere auf die Matratze. Nichts. Sie ist nicht da. Maria ist verschwunden. Und ihr Eisbär auch.”
In den folgenden Passagen wird in Form von Rückblenden erzählt, wie es zu dem Segelausflug von Donald kam – nach fünfzehn anstrengenden Jahren in einer Firma, ohne, dass er mittlerweile seine gewünschte Position erreicht hätte, entscheidet Donald sich zu einem Sabbatical. Die Arbeit im Büro erfüllt ihn nicht mehr, doch auch zu Hause fühlt er sich überflüssig, unerwünscht, ersetzbar, austauschbar. Während seines Segeltörns spürt er zum ersten Mal, dass er sich wieder nach zu Hause sehnt. Vorher war nur noch in der Lage, die Nutzlosigkeit des Lebens zu spüren.
“[…] – ich will das Ding am liebsten ausschalten, damit ich nicht an zu Hause denken muss, wo sich alle gegenseitig SMS und Mails und Sprachnachrichten schicken, wo es Millionen kleine Blinklichter auf Millionen von Handys gibt.”
Gleichzeitig wird sehr eindrücklich die Situation auf der “Ismael” nach dem Verschwinden von Maria beschrieben: die verzweifelte, hilflose Suche eines Vaters. Donald riskiert sein eigenes Leben, in der Hoffnung, sein Kind wiederfinden zu können.
“Mein Körper ist aus Gummi. Mein Kopf ist aus Eis. Alles, was ich sage oder denke, ist wertlos. Ich habe meine Tochter mit auf See genommen, und dort habe ich sie verloren.”
“Irrfahrt” erzählt eine etwas andere Vater-Tochter-Geschichte. Toine Heijmans erzählt eine Geschichte, bei der mit zunehmender Dauer der gemeinsamen Reise die Grenze zwischen Wahn und Realität, zwischen Einbildung und Wirklichkeit verschwimmt. Toine Heijmans erzählt die Geschichte eines Vaters, der Büromensch ist, aber noch gerne Abenteurer wäre und verzweifelt hofft, einen Kontakt zu seiner Tochter zu finden, eine Bindung zu finden. Donald glaubt, dass Mütter einen Vorsprung gegenüber Vätern haben, der nie mehr aufzuholen ist – der naturgegeben ist und für den es keinen Ausgleich gibt. Er hofft, Maria dennoch etwas von seinem eigenen Abenteuergeist, der schon so lange verkümmert, vermitteln zu können.
“Ich möchte Maria etwas beibringen […]. Ihr zeigen, dass man auch anders leben kann. Dass man keine Marionette zu sein braucht, wenn man nicht will. Keine Puppe an Fäden, die andere in der Hand halten, nicht abhängig davon, was sich gehört, was als akzeptabel oder normal gilt. Ich möchte ihr zeigen, dass es eine andere Welt gibt, mit anderen Regeln. Ihr zeigen, wie es ist, auf dem Meer zu leben.”
Donald ist ein Getriebener, auch diese Tatsache ist vergleichbar mit Donald Crowhursts Getriebenheit und Abenteuerlust. Eine Abenteuerlust, die bei Crowhurst im Wahnsinn und schlussendlich im Tod endet.
Ergänzt wird der Text durch Zeichnungen der erst zwanzigjährigen niederländischen Künstlerin Jenna Arts. Einen Einblick in ihre Werke, die man dann auch teilweise im Buch findet, bietet ihre Homepage. Mehr von den Zeichnungen der Studentin findet man auf ihrer Flickr-Seite.
Toine Heijmans Debütroman ist eine schnelle, eine rasante Geschichte, die mich in ihren Bann gezogen hat. Er zeigt, dass die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit, eine schmale Grenze ist. Das Ende von Donalds “Irrfahrt” ist sicherlich nicht für jeden Leser befriedigend und auch ich habe mit der Wendung der Geschichte zunächst gehadert. Toine Heijmans Roman “Irrfahrt” ist ein Buch, das man schnell verschlungen hat und das mich beim Lesen in eine ganz besondere – fast schon traumähnliche, irreale – Stimmung versetzt hat. Die schwarz-weißen Zeichnungen von Jenna Arts runden die Geschichte von Toine Heijmans ab und vermitteln beim Lesen eine ganz besondere, eine bedrückende und deprimierende, Atmosphäre.
3 Comments
Mariki
June 2, 2012 at 12:35 pmIch hab das Buch auf meiner Wunschliste und bekomme es von der Bibliophilin ertauscht, hurra! 🙂
buzzaldrinsblog
June 2, 2012 at 2:22 pmDas freut mich, liebe Mariki! Ich bin schon ganz gespannt darauf, wie dir das Buch gefällt! Es ist manchmal schwer Rezensionen über Bücher zu schreiben, die eine unerwartete Wendung, ein Geheimnis in sich verbergen – man darf es natürlich nicht verraten und so kann man sich nur schwer darüber austauschen. Ich bin gespannt darauf, von dir zu hören, wie es dir gefallen hat … 🙂
Mariki
June 4, 2012 at 6:51 pmIch werde dir auf jeden Fall berichten!