Gestern war Ruth Klüger in Bremen und hat im Haus der Wissenschaft aus “weiter leben” und “unterwegs verloren” vorgelesen – organisiert wurde die Lesung vom IFKUD, dem Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien. Besonders schön fand ich, dass – trotz Fußballs – der Andrang enorm war. Noch kurz vor Beginn der Lesung mussten weitere Stuhlreihen angebaut werden und trotzdem saß während der Lesung ein großer Teil des Publikums immer noch auf dem Fußboden. Ich war überrascht und beeindruckt und natürlich habe ich mich auch für Ruth Klüger gefreut.
Ruth Klüger ist Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. In ihrem wohl bekanntesten Buch “weiter leben” beschreibt sie ihre Kindheit und Jugend, die geprägt wurde durch die Kriegsjahre und ihren Aufenthalt in Auschwitz und Theresienstadt. 1944 gelang ihr die Flucht aus Auschwitz. Obwohl Ruth Klüger mittlerweile bereits 81 Jahre alt ist, macht sie immer noch einen sehr guten Eindruck – ihre lange Zeit als Universitätsprofessorin merkt man ihr immer noch an. Während der Lesung hat sie auf jede Frage souverän und professionell reagiert. Der gestrige Abend begann dann zunächst auch sehr unterhaltsam, da Ruth Klüger darum bat, die extra für sie aufgebaute Erhöhung vor dem Podium wieder abzubauen – man müsse zu seiner eigenen Größe stehen.
Die Lesung war in zwei Teile geteilt, nach jedem Teil hatte das Publikum die Möglichkeit Fragen zu stellen oder das Gelesene zu kommentieren. Ruth Klüger hat als erstes eine Passage über den Tod ihrer Mutter gelesen, die im Jahr 2000 verstarb. Im Anschluss ist sie in der Chronologie zurückgesprungen und hat einen Abschnitt aus “weiter leben” gelesen, in dem es um die Ankunft in Auschwitz ging. Im Anschluss gab es für das Publikum das erste Mal die Gelegenheit Fragen zu stellen und diese wurde sehr ausgiebig genutzt.
Besonders interessant fand ich die Ausführungen von Ruth Klüger zu ihrer Zeit in Auschwitz, den Ort, den sie im Nachhinein als schwarzes Loch bezeichnet. In ihren Erinnerungen “weiter leben” hat Ruth Klüger versucht aus der Perspektive zu schreiben, die sie als Kind hatte – als sie nach Auschwitz gekommen ist, war sie erst 12 Jahre alt. Die SS-Männer waren für sie damals Drahtpuppen, die nicht voneinander zu unterscheiden waren. Diese Wahrnehmung hat in ihren Augen dazu geführt, dass der Prozess und das Urteil gegen Eichmann ihr peinlich egal waren. Ein weiteres zentrales Thema an diesem Abend war das Verhältnis von Ruth Klüger zu ihrer Mutter, das sehr schwierig gewesen ist. Sie berichtet, dass sie ihrer Mutter die Veröffentlichung von “weiter leben” verschwiegen hat. Erst spät fällt dieser das Buch durch Zufall in die Hände. Gesprochen haben sie nie wieder über das, was geschehen ist. Ihre Erinnerung “weiter leben” konnte Ruth Klüger erst nach dem Tod ihrer Mutter in der englischen Übersetzung beenden und veröffentlichen, vorher hat sie diese Übersetzungsarbeit immer wieder aufgeschoben. Ruth Klüger berichtet von dem Moment, als sie in Auschwitz ankommen und ihre Mutter vorschlägt, sich umzubringen, da sie Auschwitz nie überleben würden. Das zwölfjährige Mädchen lehnt dies ab, die Mutter antwortet “na gut”. Gesprochen haben beide nie wieder darüber. Auch mit ihren eigenen Kindern hat Ruth Klüger nur wenig über ihre Erfahrungen gesprochen, sie merkt an, dass ihre beiden Söhne aber auch nie viel gefragt haben. Der einzige Teil, der leicht für sie zu erzählen war, waren die Episoden der Flucht, da dies etwas Aktives war. Für Ruth Klüger ist diese Sprachlosigkeit in jüdischen Familien nichts ungewöhnliches – in jüdischen Familien spreche man entweder zu wenig oder zu viel über die Vergangenheit.
Im letzten Teil der Lesung hat Ruth Klüger einen Abschnitt vorgelesen, der sich um die Diskussion über Gedenkstätten und Mahnmale dreht – ein Abschnitt der absichtlich “provokativ” gewesen ist. Dementsprechend diskutiert das Publikum auch nach diesem Abschnitt sehr angeregt. Eine Zuhörerin fragt Ruth Klüger danach, wie sie zu den Stolpersteinen steht, die es in manchen Städten gibt – auch dazu kann es gespaltene Haltungen geben und Ruth Klüger berichtet darüber, dass das jüdische Zentrum in München diese herausgerissen habe, da man nicht auf Tote treten dürfe. In dieser abschließenden Diskussion wird Ruth Klügers Abneigung gegen Gedenkstätten deutlich, sie spricht von Verkitschung und Konzentrationslager-Sentimentalität, über Schulklassen, die in ein KZ gezwungen werden, “schrecklich schrecklich” rufen und danach an die Würstchenbude rennen, um sich etwas zu essen zu kaufen.
Ich habe gestern einen hochinteressanten Abend verlebt und hatte das große Glück, eine wirklich sehr beeindruckende Frau erleben zu dürfen. Eines ist gestern deutlich geworden: Ruth Klüger hat eine eigene Meinung, die sicherlich polemisiert und der auch nicht alle zustimmen müssen, sie vertritt diese aber mit sehr viel Souveränität und Charme.
13 Comments
synaesthetisch
June 19, 2012 at 2:00 pmEin schönes Bild vom Mobiliar im Kopf – und sehr interessante Ansichten, die Frau Klüger da vertritt. Sie (nein, ihre Bücher) sind gleich auf meinem Wunschzettel gelandet. Danke für deinen Bericht, liebe Mara!
synaesthetisch
June 20, 2012 at 8:43 amUpdate *hust*: Habe mir gleich “unterwegs verloren” bestellt, war ein Schnäppchen und du hast mich neugierig gemacht.
buzzaldrinsblog
June 20, 2012 at 7:41 pmHui, dass freut mich sehr liebe Synästhetisch! Ich habe mir “unterwegs verloren” auf der Lesung gekauft und freue mich schon sehr darauf, es zu lesen. Bisher kenne ich von Ruth Klüger nur “weiter leben” und “Was Frauen schreiben”.
synaesthetisch
June 21, 2012 at 8:26 amIch kannte *schäm* noch gar nichts Geschriebenes von ihr – nur eben die Person selbst. Aber das ändert sich ja dank dir nun!
buzzaldrinsblog
June 23, 2012 at 2:13 pmLiebe Svenja,
das ist doch kein Grund sich zu schämen. 🙂 Ich habe Ruth Klüger als Schriftstellerin durch Zufall vor Jahren im Rahmen eines Seminars kennengelernt, das ich besucht habe. Seitdem bin ich infiziert. Ich freue mich schon darauf zu hören, wie es dir gefällt und freue mich, dass ich dich durch mein Lesungsbericht scheinbar auch infizieren konnte – das ist ein schönes Gefühl!
Klappentexterin
June 19, 2012 at 6:16 pmJa, liebe Mara, solche Begegnungen sind etwas ganz Besonderes. Ich weiß genau, wie es dir ergangen ist und danke dir für das Teilhaben! Ruth Klüger wandert jetzt auch auf meinem Wunschzettel.
buechermaniac
June 20, 2012 at 5:55 amEin toller Bericht, liebe Mara, und sicher ein unvergesslicher Abend für dich. Ruth Klüger scheint eine echte Powerfrau zu sein. “weiter leben” muss ich definitiv auch noch lesen. Das mit dem Podium hat mich gleich an Florescu erinnert, der wollte auch nicht dort hinauf, sondern auf Augenhöhe mit dem Publikum verbunden sein.
Danke, dass du uns an deinem Erlebnis hast teilnehmen lassen.
buzzaldrinsblog
June 20, 2012 at 7:40 pmLiebe buechermaniac,
vielen lieben dank für deinen netten Kommentar. Das war in der Tat ein unvergesslicher Abend, der mir sehr gut gefallen hat. Überschattet wurde dieser lediglich von einigen Fragen, die zum Fremdschämen waren (was bei Lesungen wahrscheinlich nie ausbleibt), auf die Ruth Klüger aber sehr souverän reagiert hat. “weiter leben” kann ich dir nur ans Herz legen – sehr beeindruckende Erinnerungen einer starken Frau.
Deine Anekdote über Florescu finde ich sehr sympathisch. Bei unserer Lesung hat das die Stimmung dann auch einfach ein bisschen aufgelockert. 🙂
buechermaniac
June 21, 2012 at 6:07 amHabe mir “weiter leben” gestern gleich gekauft 🙂
buzzaldrinsblog
June 23, 2012 at 2:14 pmDas freut mich sehr liebe Buechermaniac! Ich bin schon sehr gespannt, wie es dir gefallen wird. Wie ich schon in meinem Kommentar an Svenja schrieb, freut es mich wirklich unheimlich, dass ich mit meinem Lesungsbericht so überzeugen konnte … 🙂
Brigitte
June 20, 2012 at 11:16 amLiebe Mara,
ein dickes Dankeschön auch von mir für den Bericht.
Ruth Klüger ist wirklich eine überaus patente und großartige Frau, die eine ganze Menge zu sagen hat. Sicherlich kann man das Eine oder Andere von dem, was sie sagt, als … hm … provokativ betrachten, aber sie redet nicht nur so daher, sondern schickt immer auch eine Begründung mit.
Ich mag sie sehr und bin dankbar, dass sie noch so lebendig ist.
Und leider: Nicht nur in jüdischen Familien spricht man entweder zu viel oder zu wenig über die Vergangenheit.
Lieben Gruß
Brigitte
P.S.: Wie weit bist Du mit der Döblin-Biografie? Ich erwäge sie zu kaufen, möchte aber erst noch Deine Meinung dazu.
buzzaldrinsblog
June 20, 2012 at 7:54 pmLiebe Brigitte,
ganz herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar. Mir stehen zwei sehr anstrengende Tage bevor, da freue ich mich sehr über die positive Rückmeldung zu meinem Bericht.
Ich bin auch sehr begeistert über und von Ruth Klüger, sie ist in der Tat eine großartige Frau. Das ein oder andere von dem, was sie sagt ist sicherlich provokativ, aber sie hat ihre Meinung während der Lesung sehr souverän vertreten und begründen können. Ich habe selten eine so redegewandte Frau hören dürfen.
Deinen Zusatz kann ich unterschreiben. Wahrscheinlich ist das etwas, das auf Familien generell zutrifft, ob sie jüdisch sind oder nicht.
Ganz liebe Grüße
Mara
P.S.: In der Döblin-Biografie bin ich leider noch nicht ganz so weit, das, was ich gelesen habe, gefällt mir aber sehr gut. Die Sprache ist sehr schön und angenehm lesbar, bei einem sehr hohen Informationsgehalt. Ich melde mich dazu gerne noch mal, wenn ich weiter gelesen habe. 🙂
Literatur gehört zum Mobiliar in meinem Kopf – Lesung mit Ruth Klüger « Jüdische Lebenswelten
June 28, 2012 at 6:36 am[…] Dank an unsere Gastautorin mara für diesen Beitrag! Gefällt mir:Gefällt mirSei der Erste dem dies gefällt. « Stephen […]