Sunrise – Patrick Roth

Der Untertitel – “Das Buch Joseph” – von Patrick Roths neuem Roman “Sunrise” gibt einen ersten Hinweis darauf, wie Patrick Roth seinen Roman gestaltet hat. Der Text hat einen archaischen Charakter, seine Sprache ist uralt, biblisch und lässt einen an Homer und Platon denken. Patrick Roth wurde 1953 in Freiburg geboren, wuchs in Karlsruhe auf und zog 1975 nach Los Angeles. Dort arbeitete er lange als Regisseur und Filmjournalist. 1991 wurde er mit seinem Roman “Riverside” berühmt. Daraus entstand die so genannte Christus-Trilogie. Bereits in diesen Texten zeigt sich das Interesse von Roth an biblischen Themen, weswegen er im Feuilleton auch als Solitär bezeichnet wird. Patrick Roth ist in der Tat ein außergewöhnlicher, ein ungewöhnlicher Schriftsteller, der weit ab von einem aktuellen Literaturtrend schreibt.

Ich muss gestehen, dass ich mit “Sunrise” terra incognita betreten habe, da ich weder viel biblisches Wissen habe, noch jemals biblische Literatur gelesen habe.

Patrick Roth erzählt in “Sunrise” die Geschichte Josephs, des Ziehvaters von Jesus. Nachdem sich Joseph entschieden hat, bei Maria zu bleiben, wird er in den Evangelien nicht mehr erwähnt. Über seine Geschichte und seinen Lebensweg erfährt man fast nichts. Im Neuen Testament bleibt Joseph nur eine Nebenrolle: kein Wort ist von ihm überliefert, als wäre er verstummt. Er ist ein Mann ohne Geschichte, dem nicht einmal einmal ein “Buch” gewidmet wurde. Dafür sorgt nun Patrick Roth. Die Geschichte Josephs erzählt er nicht selbst, sie wird von Neith, einer Ägypterin, erzählt.

“Ich rede vom Vater Jesu, rede von Joseph. Vor siebenundsiebzig Jahren war derselbe entrückt ins Paradies und hörte unaussprechliche Worte. […] Wollt  ihr sie suchen, zu hören?”

Die Erzählung über Joseph ist in eine  Rahmenhandlung eingebettet, die 70 nach Christus spielt: römische Truppen belagern Jerusalems Mauern, doch zwei Männer – Balthazar und Monoimos – wagen sich hinein in die zerstört Stadt, um das Grab Jesu zu schützen. Während eines Sandsturms gelangen sie zufällig in die Hütte der Neith. Neith kennt das Ziel der beiden Männer, doch möchte sie ihnen nichts über Jesus erzählen, sondern über Joseph.

“Joseph, dem Nazoräer:

Daß ihm Gott befahl zu opfern den Sohn.

Daß er sich widersetzte Gott, zu retten den Sohn.

Daß er auferstand aus dem Grab seiner Trennung, zu leben tot unter Menschen.

Daß er aufstieg aus seinem Abgrund, erstarkt am Blut seines Sohns, das er trank bewußtlos im Traum, mit Räubern und Mördern in die Hölle zu kosten bei Tag.”

Auf den folgenden fast fünfhundert Seiten wird der Leser eingeführt in die Geschichte Josephs, mitgenommen in visionäre Räume, eingetaucht in Traumbilder. Nicht alles was Patrick Roth schreibt, ist biblisch korrekt – Roth dichtet um, schreibt Joseph Erlebnisse zu, die anderen Personen der Bibel widerfahren sind. Joseph, der von Gott den Auftrag erhält, seinen Sohn zu opfern und sich diesem widersetzt – er wird mit Blindheit und Taubheit dafür bestraft, sein eigener Sohn löscht Josephs Namen aus.

Das Faszinierende an Patrick Roths Text ist dabei für mich, dass er zwar in einer archaischen Form gehalten, in einer alten, biblischen Sprache verfasst ist, aber dennoch modern wirkt. Zwischendurch glaubt man, eine Abenteuergeschichte zu lesen, dann taucht man ein in eine Räubergeschichte, später trägt die Geschichte Züge eines Liebesdramas – Joseph der Maria unterstellt, fremd gegangen zu sein. Sprache und Inhalt verbinden sich. Durch die besondere, die ungewöhnliche Form, erhält der Text einen ganz eigenen Rhythmus, beinahe wie Musik. Besonders bewusst wird dies, wenn man ihn laut liest. Bei Patrick Roth ist schon allein die Sprache und die Form ein Kunstwerk.

Das, was Patrick Roth schreibt, erinnert mich von der Technik her in vielen Szenen an den Film: actionreiche Szenen werden verlangsamt, beinahe so als würde man sie in Slow-Motion betrachten. Als besonders beeindruckend ist mir die Szene im Gedächtnis geblieben, in der Joseph sein erster Sohn während eines Sturms auf dem Wasser aus der Hand glitt:

“Leerer Hand hört er den Schrei.

In ihm noch springt er ins Meer, taucht nach dem Kind.

Und da:

Er sieht’s unter Wasser.

Schwach zwar im Dunkeln

erkennt er’s.

Eine Menschenlänge nur

unter ihm.

Und stößt nach

stößt

tiefer.

Erkennt:

das Kind

fallend unter

ihm

abwärts

fällt

rasch

außer 

Reichweite

von tieferer Strömung

erfaßt.

Und wie wahnsinnig

greift

er

nach

unten

stößt

nach und

nach

und

abermal

nach

mit

immer wilderen

Zügen.”

Neith, die auch Scherbenmädchen genannt wird, weil sie jede Scherbe sorgsam aufliest und sogar Zerbrochenes wieder zusammenfügen kann, bildet das Zentrum der Erzählung, sie hält buchstäblich die Fäden in der Hand. Leitmotivisch steht dafür ein Tuch, an dem Neith webt – dieses Tuch ist die Metapher des Erzählens. Nicht nur Balthazar und Monoimos hören ihr zu, auch sie hat zugehört. Sie hat Joseph so lange zugehört, bis sie in seiner Erzählung sich selbst wiedererkannt hat, bis sie ihr eigenes Schicksal annehmen konnte. So lange bis sie sich selbst sehen konnte. Erst dann ist sie in der Lage das Tuch fertig zu weben. Ich finde die Metapher des Webens, des Tuchs, sehr schön, denn auch Patrick Roth gelingt es mit seinen homerischen Versen den Leser einzuweben und “Zerbrochen-Zerschlagenes” zu finden, zu sammeln und wieder zusammenzufügen.

“Denn, versteht ihr, mir war, während er sprach, als webte ich’s ein, als verwebte ich Leinen und Sprache. Als trage mein Schiff hin die Worte, die er gesprochen, trage sie hinüber und, neu beladen, trage sie wieder her. Als spreche am Faden haftend das Wort, als folge es ihm. Mehr noch: als spreche es den Faden, das Wort. 

“Sunrise” besteht aus insgesamt sechs Büchern und war für mich eine Reise in eine bisher ganz fremde Welt. Ich habe diese Reise als sehr aufregend empfunden, als anregend, lehrreich. Ich habe sie genossen, Passagen manchmal mehrmals gelesen, um die Schönheit der Sprache zu begreifen, sie in mich aufnehmen zu können. Wirklich begreifbar wird der Roman sicherlich erst, wenn man ihn mehrmals liest.

“Sunrise” ist ein Buch, das diametral zu den aktuellen Literaturtrends steht und doch ist es so ungeheuer lohnenswert es zu entdecken. Aufgrund meines geringen Hintergrundwissens und mangelnden biblischen Verständnisses, kratzt meine Rezension leider nur an der Oberfläche. Ich kann an dieser Stelle nur auf sehr viel fundiertere Rezensionen in den Feuilletons verweisen: in der Neuen Zürcher Zeitung, in Die Zeit und in der FAZ.

4 Comments

  • Reply
    jenny
    July 28, 2012 at 2:43 pm

    Liebe Mara,
    das klingt ja nach einem wirklich ungewöhnlichen und lesenswerten Roman. Vielen Dank für den Tipp. Wenn Du auf experimentelle Prosa stehst, kennst Du vielleicht auch “Der fliegende Berg” von Christoph Ransmayr? Falls nicht, kann ich Dir dieses moderne Epos nur wärmstens ans Herz legen.
    Liebe Grüße.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 29, 2012 at 5:38 pm

      Liebe Jenny,
      willkommen auf meinem Blog und herzlichen Dank für deinen Kommentar. In der Tat, “Sunrise” ist ein wirklich ungewöhnlicher, aber sehr interessanter und lesenswerter Roman. Zumindest wenn es einem gelingt, sich auf die Sprache einzulassen. “Der fliegende Berg” von Ransmayr steht hier bereits seit längerem im Regal, habe mich aber bisher noch nicht rangetraut. Was sich nach deiner Empfehlung aber ändern wird.
      Ganz liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Sieben – Deutscher Buchpreis 2012 » Atalantes Historien
    August 17, 2012 at 6:12 pm

    […] Patrick Roth: Sun­rise (Wall­stein, März 2012) SWR-Bestenliste Mai […]

  • Reply
    Die amerikanische Fahrt – Patrick Roth | buzzaldrins Bücher
    October 16, 2013 at 1:15 pm

    […] wurde der Autor bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt stand er mit seinem beeindruckenden Roman “SUNRISE” auf der Longlist des Deutschen Buchpreis […]

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