Julie Otsuka ist in Kalifornien aufgewachsen und hat in Yale und Columbia studiert. 2002 hat sie ihren ersten Roman “When the Emperor was divine” veröffentlicht. “Wovon wir träumten” – ihr zweiter Roman – war unter den Finalisten des National Book Award und gewann in diesem Jahr den PEN/Faulkner Award.
“Sie lernten, dass manche Menschen unter einem glücklicheren Stern geboren werden als andere und dass in dieser Welt nicht immer alles nach Plan verläuft. Trotzdem träumten sie.”
Julie Otsuka erzählt in ihrem Roman “Wovon wir träumten” die Geschichte von japanischen Einwanderinnen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ihr Heimatland verließen und nach Amerika kamen.
“Vielleicht hatten wir einen Bruder oder Vater ans Meer verloren, oder einen Verlobten; oder jemand, den wir liebten, war eines unglücklichen Morgens ins Meer gesprungen und einfach fortgeschwommen, und nun war es auch für uns an der Zeit, aufzubrechen.”
Der Roman beginnt auf dem Schiff, das die Japanerinnen nach Amerika bringt. Viele von ihnen sind zum Zeitpunkt der Reise erst vierzehn Jahre alt. Ihre Ehemänner kennen sie bisher nur von einem Foto, nur einige haben bereits Briefe von ihnen erhalten – was sie erwartet und was ihnen die Zukunft bringt, können sie nicht wissen, doch es erscheint so, als sei alles besser, als die Vergangenheit.
“Nachts träumten wir von unseren Ehemännern. Wir träumten von neuen Holzsandalen und von endlosen Stoffrollen mit Indigoseide und davon, eines Tages in einem Haus mit Kamin zu wohnen. Wir träumten, wir seien anmutig und groß. Wir träumten, wir seien zurück in den Reisfeldern, denen wir so dringend hatten entkommen wollen.”
Die Mädchen kommen aus Kyoto, Nara, Yamaguchi, Yamanashi, Tokio, Kagoshima, Hokkaido, Hiroshima. Die Jüngste von ihnen ist zwölf, die Älteste siebenunddreißig. Jede von ihnen hat in ihrem Leben häufig schon Elend und Leid erleben müssen, jede von ihnen hat bereits eine Geschichte zu erzählen.
Amerika ist für sie wie ein Versprechen. Ein Versprechen auf etwas Neues, auf etwas Besseres, auf eine Zukunft. Die jungen Mädchen und Frauen können einem schon fast leid tun, denn von ihrem Leben in Amerika oder auch von dem Leben mit ihren Ehemännern haben sie lediglich abstrakte, sehr naive Vorstellungen.
“Das ist Amerika, sagten wir uns, wir müssen uns keine Sorgen machen. Und wir irrten uns.”
Das Faszinierende und Besondere von “Wovon wir träumten” ist die Perspektive, aus der Julie Otsuka ihren Roman erzählt. Sie hat sich für ein “wir” entschieden, für ein “wir”, das alle japanische Einwanderinnen umfasst, denen sie eine Stimme gibt. Durch dieses “wir” löst sich die Erzählinstanz auf und spaltet sich in ein Crescendo von ganz vielen unterschiedlichen Stimmen. Ein Effekt der dazu führt, dass die Schicksale der Japanerinnen mich noch stärker erreichen und mich noch intensiver berühren konnten. Durch die kollektive Perspektive, wird der Fokus nicht auf ein Einzelschicksal gelegt, sondern auf das Schicksal vieler Japanerinnen; Julie Otsukua erzeugt eine ungeheure Vielstimmigkeit. Julie Otsuka erzählt von ihrer Überfahrt, ihrer Ankunft, der ersten gemeinsamen Nacht mit ihren Männern und der sich häufig anschließenden Ernüchterung. Sie erzählt von dem bitteren Moment der Erkenntnis, dass das Leben in Amerika den Träumen und Vorstellungen oft nicht standhalten kann.
“Wir hörten auf, unseren Müttern zu Hause zu schreiben. Wir nahmen ab und wurden dünn. Wir hatten keine Regel mehr. Wir hörten auf zu träumen. Wir hörten auf, uns etwas zu wünschen. Wir arbeiteten einfach, das war alles.”
Und doch: trotz der sprachlichen und kulturellen Barrieren, beginnen die Japanerinnen schließlich in Amerika Fuß zu fassen, sich heimisch zu fühlen. Doch all das, was sie sich in Amerika hart erarbeitet haben, wird durch die Ereignisse rund um Pearl Harbor dreiundzwanzig Jahre nach ihrer Ankunft, auf eine harte Probe gestellt. Das Leben der Einwanderinnen ändert sich schlagartig.
Julie Otsuka ist mit “Wovon wir träumten” ein großartiger Roman gelungen, der vor allem aufgrund seiner außergewöhnlichen Perspektive zu überzeugen weiß. Der Roman ist mit knappen 160 Seiten sehr schmal, enthält durch die Vielzahl an Stimmen jedoch eine unheimliche Fülle und Vielfalt. Sprachlich changiert der Roman zwischen Nüchternheit und Poesie: Es gibt immer wieder sehr poetische, beinahe schon lyrische Passagen, die ich sehr intensiv empfunden habe, die sich aber dennoch durch eine nüchterne Beschreibung der Geschehnisse auszeichnen. Durch genau diese Mischung hat sich bei mir ein sehr starker Sog beim Lesen entwickelt.
Das Schicksal der japanischen Frauen, die alleine in ein fremdes Land auswandern, dessen Sprache sie nicht sprechen und dessen Kultur ihnen unbekannt ist, hat mich sehr berührt und erschüttert. In dem neuen Land, von dem sie sich eine bessere Zukunft versprechen, werden sie lediglich als Arbeitskraft ausgebeutet und dreiundzwanzig Jahre später einfach wieder weggeschickt.
Julie Otsuka erwähnt in ihrem Nachwort sehr viele Sachbücher, auf die sie sich bezogen hat und beim Lesen des Romans merkt man, dass sie sehr gut recherchiert hat. “Wovon wir träumten” ist ein schmales Büchlein, das so viele Leser wie möglich verdient: mit sehr viel Weisheit und in einer wunderschönen Sprache, gelingt es Julie Otsuka den japanischen Einwanderinnen eine Stimme zu geben und ihnen ein Denkmal zu setzen.
9 Comments
buechermaniac
August 14, 2012 at 12:13 pmWunderbare Worte hast du für diese Perle unter den Büchern gefunden.
Liebe Grüsse
buechermaniac
buzzaldrinsblog
August 14, 2012 at 3:10 pmDer Begriff “Perle” beschreibt den Roman sehr gut. Unter all den Neuerscheinungen sticht dieses schmale, stille Büchlein für mich wirklich heraus. Großartige Literatur!
Begeisterte Grüße
Mara
Markus Rybacki
August 14, 2012 at 8:08 pmJa, man spürt Deine Begeisterung! Immer wieder beeindruckend…
Und irgendwann wird eine Rezension von Dir mehr Seiten als das Buch haben! 😉
Aber auch dann wäre ich ebenfalls begeistert!
buzzaldrinsblog
August 15, 2012 at 11:58 amLieber Markus,
danke für deine lieben Worte, über die ich mich sehr freue. Und doch hoffe ich nicht, dass eine Rezension von mir irgendwann mehr Seiten haben wird, als das Buch, das ich bespreche. Ich bemühe mich schon immer sehr, mich zu bremsen und kürzer zu fassen, denn so etwas langes möchte dann doch wohl niemand lesen. 🙂
Conor
November 24, 2012 at 8:06 amLiebe Mara!
Was für ein Buch!!! So dünn und doch so gehaltvoll – vielen Dank für deine Rezension, die mich auf den Roman aufmerksam gemacht hat.
Liebe Grüße
Conor
buzzaldrinsblog
November 25, 2012 at 8:16 pmLiebe Conor,
es ist mir eine Freude, dass auch dir dieser Roman gefallen hat. Ich habe ihn in kürzester Zeit mit sehr viel Begeisterung verschlungen, aber er hat aufgrund der Geschichte die erzählt wird, noch lange in mir nachgewirkt. Wie hat dir die “wir-Perspektive gefallen? 🙂
Viele Grüße
Mara
Conor
November 26, 2012 at 7:08 amLiebe Mara!
Die “Wir-Perspektive” ist sehr ungewöhnlich und auch ein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber ich denke, gerade dadurch konnte Otsuka die japanische Immigration und die damit verbundene Problematik facettenreich darstellen.
Auch bei mir wirkt die Geschichte noch nach:)
LIebe Grüße
Conor
buzzaldrinsblog
November 27, 2012 at 1:23 pmLiebe Conor,
ja, ich glaube auch, dass die Perspektive ein ganz wichtiger Grund dafür ist, dass die erzählte Geschichte um so beeindruckender wirkt. Für mich war “Wovon wir träumten” der erste Roman, der in dieser ungewöhnlichen Perspektive geschrieben gewesen ist. Ich hoffe, dass wir von Julie Otsuka in naher Zukunft weiteres zu lesen bekommen werden.
Liebe Grüße
Mara
Gaby
June 30, 2013 at 7:48 pmLiebe Mara,
vielen Dank für deine Rezension, die mich auf dieses wunderbare Buch aufmerksam gemacht hat. Es ist meine persönliche Nummer 1 für dieses Halbjahr. 🙂