Erri de Luca, der 1950 in Neapel geboren wurde, hat erst mit vierzig Jahren begonnen zu schreiben. Auf Italienisch wurden von ihm bereits über dreißig Bücher veröffentlicht, womit er zu einem der erfolgreichsten italienischen Autoren gehört. Auf Deutsch erschienen bisher “Der Tag vor dem Glück” – das ich im Dezember bereits besprochen habe – und “Das Gewicht des Schmetterlings”.
“Montedidio” wird aus der Sicht eines namenlosen dreizehnjährigen Jungen erzählt, der in Neapel im Stadtteil Montedidio lebt – einem Viertel, in dem man “kaum einen freien Fleck zwischen den Füßen“ findet, wenn man auf die Erde spucken will. Er arbeitet in der Werkstatt von Meister Errico. Obwohl er erst dreizehn ist, geht er nicht mehr zur Schule, sein Vater schickt ihn mittlerweile zum Arbeiten. In Neapel geht die Schulpflicht bis zur dritten Grundschulklasse, der Erzähler durfte sogar bis zur fünften zur Schule gehen.
Im Zentrum des Romans steht das Fliegen, der Wunsch danach zu fliegen. Der namenlose Erzähler bekommt von seinem Vater zum Geburtstag einen Bumerang geschenkt, einen “Flügel aus Holz”.
“Papa hat den Bumerang von seinem Freund, einem Matrosen. Das ist kein Spielzeug, kein Schnickschnack, es ist das Werkzeug eines uralten Volkes. Während er erklärt, mache ich mich mit der Oberfläche vertraut, fahre mit der Hand darüber, streichle es längs der Maserung.”
In der Werkstatt von Meister Errico arbeitet auch ein Schuhmacher, Don Rafaniello. Die heimliche Hauptfigur des Romans. Ein Mann mit einem geheimnisvollen Buckel, in dem er angeblich Flügel verborgen hält. Er träumt davon, diese eines Tages auszubreiten und in sein Land – nach Jerusalem – zu fliegen. Don Rafaniello ist ein wundersamer Mann, er spricht nicht viel und wenn mit leiser Stimme, doch er hat sehr viel zu sagen. Der namenlose Erzähler versucht sich so viele von den weisen Worten Don Rafaniellos auf einer Papierrolle zu notieren, wie möglich, um sie alle behalten und immer wieder abrufen zu können.
“Er ist nach dem Krieg aus irgendeinem Zipfel Europas nach Neapel gekommen. Er ist geradewegs nach Montedidio zu Meister Errico hinaufgestiegen und hat angefangen, den Ärmsten ihre Schuhe zu reparieren. Er macht sie wieder wie neu. Man nennt ihn Rafaniello, weil seine Haare rot und seine Augen grün sind, er ist klein und hat einen spitzen Buckel ganz oben auf dem Rücken.”
Don Rafaniello, der sagt, “dass man singen soll, um den Gedanken Luft zu verschaffen”, bevor sie verschimmeln, ist eine der wichtigsten Bezugspersonen für den namenlosen Erzähler. Dessen Vater muss sehr viel arbeiten und seine Mutter ist schwer erkrankt. Sie verschwindet, ist kaum noch zu Hause, nur der Vater scheint zu wissen, wo sie ist und wo er sie besuchen kann. Doch dann gibt es da noch Maria aus dem selben Haus, die vierzehn ist, nur ein Jahr älter als der Erzähler, doch bereits sehr viel erwachsener. Sie treffen sich auf der Dachterrasse, dem höchsten Punkt Montedidios, wo der Erzähler morgens und abends seine Übungen mit dem Bumerang macht. Doch fliegen lässt er ihn noch nicht, diesen Moment möchte er sich für die Silvesternacht aufheben.
Mit Maria erlebt der Erzähler seine ersten erotischen Erlebnisse. Maria, die mit vierzehn bereits erwachsen und erfahren ist; ihre Familie ist arm und immer wieder kommt der Hausbesitzer zu ihr, um die Miete einzutreiben. Der Erzähler wird durch die Erlebnisse mit Maria und die Abwesenheit seiner Eltern in der Erzählung erwachsen, er reift und erlebt Dinge, die er sich vorher nie hätte vorstellen können. Aus einem naiven, unbedarften Jungen, wird ein erwachsener, selbstbewusster junger Mann. Den Höhepunkt der Entwicklung soll die Silvesternacht bilden, die Nacht mit dem Feuerwerk, in der der Wunsch danach zu fliegen sich nicht nur für den Erzähler erfüllen soll.
“Montedidio” ist in mehrere kleine Abschnitte aufgeteilt. Die Kapitel sind sehr kurz, sehr knapp – wodurch die Erzählung manchmal sprunghaft und abgehackt wirkt. Erri de Lucas Erzählung überzeugt weniger durch eine kohärente Geschichte, als durch eine poetische, stellenweise lyrische Sprache und eine dichte Atmosphäre. Einzelne Abschnitte und Passagen ragen dabei für mich besonders heraus, zwischendurch wird an sprachlichen Bildern und poetischen Worten deutlich, dass Erri de Luca herausragend erzählen kann:
“Als eine Bombe ganz in der Nähe explodierte, musste sie wegen des Luftdrucks erbrechen, ich habe ihren Kopf gehalten, sie hat zwischen meine Füße gespuckt, ich war froh, dass unsere Liebe auch das vermochte. Wir waren damals verlobt und waren enger verbunden als Verheiratete. Der Krieg hat uns das erlaubt. Wenn sie stirbt, bin ich nur noch eine Klinke ohne Tür.”
“Montedidio” ist eine ruhige, stille, aber atmosphärisch dichte Erzählung, die von ihren faszinierenden Charakteren lebt: Don Rafaniello mit seinen Worten, der namenlose Erzähler, und die frühreife Maria. Dennoch habe ich die letzte Seite des Buches mit einem etwas schalen Gefühl zugeklappt: ich mag stille Erzählungen, doch “Montedidio” ist mir beinahe schon zu still, zu statisch gewesen.
7 Comments
Klappentexterin
August 17, 2012 at 10:12 amLiebe Mara,
ich schleiche schon lange um das Buch herum und war mir nicht sicher, doch nun weiß ich, wann ich es lesen möchte: Wenn ich eine große Sehnsucht nach einer schönen Sprache habe. Dafür schätze ich diesen Autor. Mich hat damals “Der Tag vor dem Glück” sprachlich sehr begeistert. Also vielen Dank für die Antwort, die du mir dank deiner Rezension geschenkt hast.
Viele Grüße
Klappentexterin
buzzaldrinsblog
August 17, 2012 at 3:03 pmLiebe Klappentexterin,
ich freue mich sehr, dass ich dir mit meiner Rezension ein bisschen Entscheidungshilfe abnehmen konnte, dann hat sie ihren Zweck erfüllt. Wenn du Sehnsucht nach schöner Sprache hast, dann bist du bei Erri de Luca auf jeden Fall gut aufgehoben. Schön fabulieren, lyrisch und poetisch mit Sprache umgehen … all das kann er auf jeden Fall. Mir hat neben dieser ganzen Wortkunst ein bisschen die Geschichte gefehlt, aber auch nur ein bisschen … 🙂
Ganz liebe und sonnige Grüße zurück
Mara
caterina
August 17, 2012 at 5:31 pmIch habe letztes Jahr einen kleinen Erzählband von De Luca gelesen, und mir ging es dabei wie dir: schöne Sprache, mitunter sehr poetisch, Bilder, die einen bewegen – aber am Ende konnten mich seine Erzählungen dennoch nicht begeistern. Das liegt zum einen sicher an meiner generellen Scheu gegenüber Kurzgeschichten, die ich nie habe überwinden können, aber eben auch daran, dass abgesehen von dieser allgemeinen Stimmung, die du als “still” bezeichnest, kaum etwas bleibt. Die Geschichten haben mich nicht gepackt, es sind eher Momentaufnahmen, deren “Aussage” ich nicht verinnerlichen konnte (wenn es so etwas wie eine Aussage gibt bzw. geben muss), die meisten Erzählungen endeten für mich mit einem Fragezeichen… Keine Lektüre, die ich als bereichernd empfunden habe, da hat auch die Sprache nicht geholfen.
buzzaldrinsblog
August 23, 2012 at 2:29 pmLiebe Caterina,
über das heiße Wochenende, das mein Gehirn ganz matschig werden ließ, habe ich ganz deinen Kommentar bei mir zu “Montedidio” vergessen. Dafür möchte ich mich entschuldigen! 🙂
Ich bin erleichtert, dass es dir ähnlich geht wie mir: schöne Sprache, doch dennoch fehlt einem beim Lesen etwas. Ich bin wirklich erstaunt, dass de Luca mit seinem Stil scheinbar so erfolgreich ist in Italien (über dreißig Bücher veröffentlicht man ja nicht eben mal so). Da frage ich mich schon, ob italienische Leser möglicherweise andere Ansprüche haben, andere Schwerpunkte legen beim Lesen. Ich erfreue mich an der schönen Sprache, natürlich, doch es fehlt mir einfach an relevanten Inhalten, an Handlung.
Bei mir wird dies wohl auch das letzte Buch gewesen sein, dass ich von de Luca gelesen habe …
Entschuldigende Grüße
Mara
caterina
August 24, 2012 at 12:07 pmEntschuldigung angenommen – bei solch heißen Temperaturen ist jegliches Fehlverhalten entschuldigt 😉
Es geht mir wie dir, auch ich kann den Hype in Italien um diesen Autor nicht verstehen (“Hype” ist vielleicht etwas übertrieben, aber wie du schon richtig sagst, hat De Luca schon dreißig Bücher veröffentlicht und wird in den Buchläden immer an prominenter Stelle platziert). Du ja äußerst die Vermutung, die Italiener könnten andere Schwerpunkte beim Lesen haben: Mag sein (mich würde es überraschen, wenn man mal ihr Konsumverhalten näher betrachtet), aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass De Luca mittlerweile so etwas wie eine Institution in der Branche ist, eine feste Größe – ganz unabhängig von den Verkaufszahlen, die möglicherweise gar nicht mehr so imposant sind und auch gar nicht mehr relevant für den Leger. Solche Urgesteine gibt es ja auch auf diem hiesigen Markt.
Nun ja, nach einem Buch sollte man sich noch kein Urteil bilden, aber ich tue es trotzdem und werde wohl auch nichts mehr von ihm lesen.
buzzaldrinsblog
August 24, 2012 at 12:50 pmDanke, da bin ich ja erleichtert – mein Blog und mein Computer mussten sich an diesem Wochenende einfach hitzefrei nehmen. Da fiel mir zwischendurch sogar das Lesen schwer. 😉
Ich freue mich, dass sich unsere Einschätzungen zum Autor decken. Deine Erklärung ist sicherlich naheliegender als meine Vermutung. In der Tat gibt es in Deutschland ja auch Schriftsteller, die jedes Jahr wieder ein neues Buch veröffentlichen, ohne eigentlich wirklich etwas zu sagen zu haben – wegen ihrer Reputation aber im Buchladen oder den Feuilletons eine feste Größe sind. Mir erging es ja ein bisschen so mit Peter Handke, als ich vor etlichen Monaten mein erstes Buch von ihm gelesen habe und nicht viel damit anfangen konnte.
Eigentlich sollte man sich nach einem Buch in der Tat kein Urteil bilden, ich habe aber nun bereits zwei gelesen und komme zu de selben Urteil wie du: von Erri de Luca werde ich so bald nicht noch mal etwas lesen. 😉
(Nur am Rande: mein Blog beschäftigt mich mittlerweile übrigens schon in meinen Träumen. In der letzten Nacht träumte ich, dass du einen kritischen Kommentar auf meinem Blog hinterlassen hast. Beim Aufwachen war ich dann ganz schön aufgewühlt. ;-))
caterina
August 24, 2012 at 1:02 pmAch herrje, es ist eindeutig Zeit kürzerzutreten 🙂 Von der Arbeit kenne ich das ja: dass sie hin und wieder in meinen Träumen herumspukt – aber sicher nicht vom Bloggen! Aber schön, dass ich einen solch bleibenden Eindruck hinterlassen habe, dass ich in deinen Träumen auftauche – wenn auch mit kritischer Haltung 😉
Ich wünsche dir eine geruhsamen und traumlosen Schlaf heut Nacht!