Selbstmord – Édouard Levé

Bei dem Roman “Selbstmord” ist es unmöglich, nicht auf die besondere Entstehungsgeschichte einzugehen: der Autor Édouard Levé, 1965 geboren, war französischer Schriftsteller, Künstler und Fotograf, der zahlreiche Foto- und Prosabände veröffentlicht hat. Im Oktober 2007 hat er das Manuskript von “Selbstmord” an seinen Verleger geschickt, der begeistert war, ihn anrief und einen Termin zu einem Treffen ausmachte. Zu diesem Treffen kam es nicht mehr: nur zehn Tage nach dem Telefonat, erhängte sich Édouard Levé im Alter von 42 Jahren in seiner Pariser Wohnung.

Über diese außergewöhnliche Entstehungsgeschichte wird der Leser sowohl durch den Klappentext als auch die Informationen auf dem Buchrücken informiert und es ist eigentlich nicht möglich den Text losgelöst von diesem Kontext zu lesen. Ich fände es interessant zu wissen, wie jemand den Roman “Selbstmord” lesen würde, der nicht über diese Hintergrundinformationen verfügt. Handelt es sich dann möglicherweise um ein anderes Leseerelebnis? Bewertet man den Text vielleicht anders? Beim Lesen von “Selbstmord” fiel mir häufig der Vergleich zu David Foster Wallace ein: auch bei ihm fällt es mir schwer, seine Texte losgelöst von der Information zu lesen, dass er sich das Leben genommen hat.

Édouard Levé erzählt seinen Roman “Selbstmord” aus der Perspektive eines Mannes, der einen Freund durch einen Selbstmord verloren hat.

“An einem Samstag im August verlässt du in Tenniskleidung deine Wohnung. Deine Frau begleitet dich. In der Mitte des Gartens lässt du sie wissen, dass du deinen Tennisschläger im Haus vergessen hast. Du kehrst zurück, um ihn zu holen, doch statt dich dem Schrank im Flur zuzuwenden, wo du den Schläger normalerweise aufbewahrst, steigst du hinunter in den Keller. Deine Frau bemerkt davon nichts, sie ist draußen geblieben, es ist ein schöner Tag, sie genießt die Sonne. Einige Augenblicke später hört sie den Schuss. Sie stürmt ins Haus, sie schreit deinen Namen, merkt, dass die Tür zum Keller offen steht, läuft hinab und findet dich. Du hast dir eine Kugel in den Kopf geschossen […]. Du hast auf dem Tisch einen Comicband aufgeschlagen liegen lassen. In ihrer Erschütterung stützt sich deine Frau auf den Tisch, das Buch fällt herunter und klappt zu, bevor sie begreifen kann, dass sich darin deine letzte Mitteilung befand.”

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman. Der Erzähler spricht seinen Freund direkt an und wendet sich während des Romans durchgehend an dieses namenlose “du”.

“Du bist fünfundzwanzig. Du weißt jetzt mehr über den Tod als ich.”

Der Einstieg in den Roman wirkt wie eine tragische Inszenierung: der Mann und seine Frau sind auf dem Weg zum Tennis, der Mann kehrt um, die Frau hört einen Schuss. Auf den folgenden Seiten erzählt der Erzähler das Leben des jungen Mannes nach, das wie rückwärts erzählt wirkt: die Erzählung beginnt mit dessen Tod, nicht mit seiner Geburt.

Beide – der Erzähler und der junge Mann, der sich selbst das Leben nimmt – bleiben namenlos. Kennengelernt hat der Erzähler seinen Freund, als dieser siebzehn war. Zum ersten Mal gesehen haben sie sich in dessen Zimmer.

“Eigentlich sprichst du noch immer, durch jene, die wie ich dich wieder aufleben lassen und dich befragen. Wir hören deine Antworten und bewundern ihre Klugheit. Und wenn die Tatsachen deine Aussagen widerlegen, beschuldigen wir uns selbst, sie falsch interpretiert zu haben.”

Eine Möglichkeit, über die man noch hätte kommunizieren können, ist abgerissen. Der aufgeschlagene Comic, der neben dem jungen Mann lag, ist zugeklappt. Aus Versehen, doch unwiederbringlich. Auch wenn sein Vater immer noch “sucht nach der Seite und auf der Seite nach dem Satz, den du möglicherweise ausgewählt hattest.”

Die Reaktionen der Angehörigen, das Weiterleben der Zurückgelassenen ist etwas, das bei Édouard Levé sehr stark thematisiert und in den Fokus gerückt wird – dies geschieht jedoch immer aus der Perspektive des jungen Mannes, der sich das Leben genommen hat.

“Dein Selbstmord war das Wichtigste, was du in deinem Leben gesagt hast, aber du wirst die Früchte davon nicht ernten.”

Der junge Mann hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, seine Angehörigen lässt er mit ihren offenen Fragen zurück.

“Du hast deinen Nächsten keinen Brief hinterlassen, um deinen Tod zu erklären. Wusstest du überhaupt, warum du sterben wolltest? Wenn ja, warum hast du es nicht aufgeschrieben? […] Die Menschen, die dich überleben, haben sich all das gefragt; sie werden keine Antworten auf ihre Fragen erhalten.”

Vor dem Hintergrund, dass auch der Autor dieser Sätze – Édouard Levé – sich das Leben genommen hat, empfinde ich manches von dem, was er schreibst schon fast als makaber. An einer Stelle beschreibt er den Selbstmord als eine Handlung von “skandalöser Schönheit”. Natürlich ist mir bewusst, dass ich Gefahr laufe, dass sich in meiner Bewertung die Grenzen zwischen Autor und Erzähler verwischen. Für mich ist es jedoch schwer, zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem jungen Mann zu trennen. Sie verschmelzen vor meinen inneren Auge immer wieder zu einer Person. Schwer erträglich ist für mich, wie der Erzähler die Perspektive des jungen Mannes in den Mittelpunkt rückt, dessen Tat und deren Bedeutung für die Angehörigen jedoch kaum hinterfragt. Deutlich wird das, wenn der Erzähler sich vorzustellen versucht, wie es der Frau des jungen Mannes heutzutage geht:

“Was ist aus ihr geworden? Hat sie sich wieder gefangen nach deinem Tod? Denkt sie an dich, wenn sie mit jemandem schläft? Hat sie wieder geheiratet? Hast du auch sie getötet, als du dich getötet hast? Hat sie einen Sohn nach dir benannt? Falls sie eine Tochter hat, hat sie ihr von dir erzählt? Was macht sie an deinem Geburtstag? Und an deinem Todestag? Pflanzt sie Blumen auf dein Grab? Wo sind die Fotos, die sie von dir gemacht hat? […] Hat sie dir ein Museum errichtet?”

Ich empfinde diese und ähnliche Beschreibungen stellenweise als sehr selbstzentriert und egoistisch und sie hinterlassen bei mir einen schalen Geschmack beim Lesen  – vor allem auch vor dem Hintergrund, dass auch Édouard Levé sich das Leben genommen hat.

“Selbstmord” ist kein einfaches Buch, SpiegelONLINE vergleicht die Lektüre mit Pilzen, denen man nachsagt, schwer verdaulich zu sein. Auch für mich war der Roman schwer verdaulich, auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, ob dies positiv oder negativ ist. “Selbstmord” lässt seine Leser nicht kalt, es regt an, bewegt, wühlt auf, verärgert. Der Roman endet mit einer Sammlung von Terzetten, das letzte von diesen ist für mich das eindrücklichste:

“Das Glück überholt mich

Die Traurigkeit verfolgt mich

Der Tod erwartet mich”

“Selbstmord” ist ein lohnenswertes und lesenswertes Buch, das Anstoß zum Nachdenken bietet. Doch glaube ich auch, dass es gefährlich sein kann, da es ein verklärtes Bild des Selbstmords zeichnet. Ich hab die Lektüre als schwer zu ertragen empfunden, jedoch nicht als traurig.

21 Comments

  • Reply
    La Braun
    August 21, 2012 at 10:05 am

    Liebe Buzz Aldrin, als ich sah, dass du dieses Buch gerade liest, habe ich ein wenig gegoogelt und war gleichermaßen, abgestoßen und fasziniert, sowohl von der Inhaltsangabe, als auch von der Geschichte des Autors. Ich war allerdings schwankend, ob ich es wirklich lesen möchte. Jetzt weiß ich es: Ich möchte.
    Das Thema Selbstmord beschäftigt mich sehr. Taucht auch immer wieder in meinen Geschichten auch, nicht verklärend, sondern hinterfragend. Deine Reszension hat mir sehr geholfen, mich zu entscheiden, dieses Buch zu lesen.
    Danke. Alles Liebe Karin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 21, 2012 at 8:00 pm

      Liebe Karin,
      danke für deinen Besuch bei mir und deinen Kommentar. Ich kann deine Abstoßung gepaart mit einer gleichzeitig Faszination sehr gut nachvollziehen und auch jetzt – nach der Lektüre – bin ich mir nicht sicher, was von beidem überwiegt.
      Ich freue mich sehr, dass ich dir Entscheidungshilfe sein konnte. Noch mehr würde ich mich darüber freuen, zu erfahren, wie dir der Roman gefällt, wenn du ihn gelesen hast.
      Für mich hatten die Beschreibungen von Édouard Levé auch etwas verklärendes. Doch noch stärker etwas selbstzentriertes, egositisches, selbstmitleidvolles. Das sind sehr persönliche Wertungen und doch habe ich sie eben so beim Lesen empfunden.
      Dir auch alles Liebe.
      Mara

  • Reply
    wortlandschaften
    August 21, 2012 at 2:31 pm

    Hallo Mara,

    Die Du-Perspektive hat mich an „Ein Mann der schläft“ von Georges Perec erinnert, in dessen Roman der Protagonist, ein Student, sozusagen plötzlich aus dem „geregelten“ Leben steigt. Soziale Kontakte werden ausgeblendet, Beobachtungen, Fragen, Assoziationen und Gemütszustände in Worte gefasst. Das „Du“ schafft hier für mich schon eine besondere Stimmung, die ich aus nur wenigen Romanen kenne. Diese Perspektive eignet sich wunderbar für die Verfilmung, in der eine Erzählstimme aus dem Off die Handlungen bzw. die Verweigerung der Interaktion und den Rückzug des Protagonisten begleitet. Auf mich hatte das eine sehr faszinierende, fast hypnotische Wirkung. Die starken Bilder will ich ebenfalls nicht vergessen.

    Mich interessiert, wie sich diese weniger gebräuchliche Perspektive hier anfühlt, denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich die beiden „Du“ doch wesentlich unterscheiden. Hier spricht der Erzähler seinen Freund direkt an, bei Perec ist das, wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich gelassen hat, nicht so eindeutig. Ich denke, es beinhaltete Äußeres und Inneres, ist aber näher am Ich, also am Protagonist, als am Erzähler, den man nicht eindeutig verorten kann. Ich glaube, ich hatte das (zumindest phasenweise) auch als Selbstanrede empfunden, müsste dafür aber noch einmal nachschlagen, da die Lektüre schon einige Jahre zurückliegt. In jedem Fall empfinde ich die Du-Erzählung als sehr spannend und habe schon andere Titel im Auge, die ich irgendwann mal lesen möchte, z.B. „Paris, Rom oder Die Modifikation“ von Michel Butor. „Selbstmord“ von Levé gehört auch dazu.

    Die vielen Fragen am Ende Deines Textes empfinde ich nicht zwingend nur als egoistisch, kann das aber natürlich so aus dem Kontext heraus nicht beurteilen. Die Anordnung wirkt ein bisschen beliebig und es ist nicht klar, ob sie alle wörtlich zu nehmen sind (Hast Du auch Sie getötet?). Sicher drehen sie sich um den Verstorbenen, aber es sind Fragen, die sich vielleicht nicht nur der Erzähler, sondern auch der Selbstmörder gestellt hat.

    Deine Eingangsfrage ist interessant, weil es sich hier um ein Thema handelt, bei welchem dem Autor durch seine Tat, so makaber das klingen mag, eventuell eine besondere „Kompetenz“ dahingehend unterstellt wird. Grundsätzlich muss ich aber sagen, dass ich mich erst bei nachhaltiger Beschäftigung mit den Werken eines Autors für dessen Biographie interessiere. Sie spielt in erster Linie für mich keine große Rolle (da ich von vielen Autoren in meinem Regal nicht besonders viel weiß), überzeugen muss ja der Text. Ich suche jetzt nicht nach autobiografischen Bezügen, manchmal werden sie aber vom Autor selbst herausgestellt, so dass ich nicht daran vorbei komme (z.B. Erzählungen aus dem Krieg). Und zugegebenermaßen habe ich auch bei diesem Roman von der Biografie des Autors gelesen.

    Ein schwieriges Thema und ein interessantes Buch, das ich selbst irgendwann lesen werde. Danke für die Vorstellung.

    Viele Grüße

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 21, 2012 at 7:55 pm

      Hallo Wortlandschaften,

      herzlichen Dank für deinen ausführlichen und interessanten Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe.

      Über den Namen Georges Perec bin ich erst vor einigen Tagen bereits gestolpert. Leider habe ich es bisher noch nicht geschafft, auch wirklich etwas von ihm zu lesen. Im Moment gibt es einfach so viele reizvolle Neuerscheinungen, dass einige ältere Bücher bei mir leider etwas untergehen. Darüber bin ich selber nicht ganz glücklich.

      Ich fand die “Du”-Perspektive zunächst sehr gewöhnungsbedürftig, merkwürdig. Dennoch hat genau diese ungewöhnliche Perspektive einen großen Sog beim Lesen auf mich ausgeübt und sehr stark gewirkt. Das schwierige bei der “Du”-Perspektive in “Selbstmord” ist für mich, dass sie nicht so klar ist, wie man zunächst glaubt und dass sich das “Du” mit der Zeit immer stärker verwischt. Für mich war es irgendwann nicht mehr ganz zuzuordnen. Der Erzähler spricht zwar seinen Freund an, berichtet über diesen aber Dinge, die er eigentlich unmöglich wissen kann … zwischendurch habe ich das “Du” mehr als ein ver-rücktes Ich empfunden, als ein wirkliches “Du”. Ähnlich einer Dissoziation.

      Es fällt mir schwer zu formulieren, was genau mich an den Fragen gestört hat. Es ist ein Gefühl, aber ich bin nicht in der Lage den Finger darauf zu legen, wo drin es genau begründet ist. Ich finde die Stelle, an der der Erzähler diese Fragen stellt unheimlich traurig, doch gleichzeitig auch unfassbar grausam. (“Hat sie dir ein Museum errichtet?”) Sich diese Fragen in Bezug auf eine verlassene Frau zu stellen, finde ich seltsam. Noch seltsamer finde ich dies vor dem Hintergrund, dass der Autor dieser Zeilen sich kurz darauf selbst das Leben genommen hat.

      Auch ich interessiere mich eigentlich kaum für die Biographie von Autoren, deren Bücher ich lese. Manchmal weiß ich nicht einmal, wie sie aussehen – denn grundsätzlich geht es mir wie dir: mich interessiert der Text und nicht, wie ein Autor aussieht oder was er zu Abend ist. Bei “Selbstmord” kommt man den autobiographischen Informationen jedoch nicht vorbei, außer man liest den Roman ohne Bucheinband. Und genau das, wäre sicherlich ein interessantes Experiment: wie lesen Leser den Text, wenn sie mit dem Text allein konfrontiert sind?

      In der Tat ein schwieriges Thema und ich freue mich über deinen Kommentar, da er mir einige neue Impulse geben konnte, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass ich wirklich Antworten geben konnte.

      Viele sonnige Grüße
      Mara

      • Reply
        wortlandschaften
        August 23, 2012 at 8:01 am

        Vielen Dank für die Ausführungen, mit denen sich die Perspektiven dann doch wieder anzunähern scheinen.

        Zu den Fragen: Der Ton ist womöglich ein völlig anderer, wenn man das Buch gelesen hat. Anhand der wenigen Zeilen nehme ich das vielleicht als nicht so dramatisch wahr.

        Was die Biographien angeht, unterscheide ich zwischen erstmaliger oder nachhaltiger Beschäftigung. Je mehr Werke ich lese, desto mehr interessiert mich gewöhnlich ihr Schöpfer. Es ist nicht so, dass ich den Autor völlig ignoriere, aber wenn es nicht der Name eines bekannten Literaten ist, hilft er mir erst einmal nicht weiter. Die Frage nach dem Aussehen hatte ich mir letztes Jahr gestellt, als ich den kleinen Rückblick machte. Es gibt wie überall selbstredend Ausnahmen, wie z.B. Briefwechsel. Als Beispiel für die nachhaltigere Beschäftigung nehme ich gerne den Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla Balázs. Einen ersten Text las ich, ohne den Schriftsteller und die Zeit, in der er wirkte, zu kennen. Als ich am Ende das Jahr las, in dem der Text veröffentlicht wurde, verblüffte mich das. Ein Aha-Erlebnis. So begann ich, mich für weitere Texte zu interessieren und bemerkte erst die Vielfältigkeit seines Wirkens. Ein autobiographischer Roman hat dann auch das Interesse für die Person geweckt.

        Bei Filmen und Büchern versuche ich allerdings grundsätzlich vorher wenige Informationen zum Inhalt aufzunehmen und stürze mich bei Gefallen in die Nachbetrachtung aus verschiedensten Blickwinkeln. Manchmal bleibt einem etwas verborgen, das ich erst bei zweiter Sichtung und mit Hinweis wahrnehme, aber das ist auch kein Beinbruch.

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          August 24, 2012 at 1:15 pm

          Hallo Wortlandschaften,

          vielleicht entschließt sich das Gefühl, das ich bei den Fragen empfunden habe in der Tat erst aus dem Kontext. Vielleicht reagiere ich auch einfach sehr empfindlich. Ich bin gespannt, wie du den Text von Levé empfindest, falls du dich entscheiden solltest, ihn zu lesen.

          Ich mag deine Unterscheidung zwischen “erstmaliger und nachhaltiger” Beschäftigung mit einem Autor und kann dies unterschreiben. In diesem Zusammenhang finde ich auch dein Erlebnis mit dem Schriftsteller Béla Balázs sehr interessant, da es mir mit Richard Yates sehr ähnlich erging. Als ich zu seinem Roman “Zeiten des Aufruhrs” griff, wusste ich nichts über den Autor und der Zeit, aus der dieser stammt. Als ich mich dann nach der Lektüre über ihn informierte, war ich sehr erstaunt, dass Richard Yates bereits verstorben ist. Seine Beschreibungen erschienen mir so modern und aktuell. Jetzt, wo ich beinahe alles von ihm gelesen habe, dass es gibt, habe ich auch damit begonnen, Interviews von ihm zu lesen und mir eine Biographie über ihn gekauft. In der heutigen Zeit von Facebook und Autoren-Homepages, passiert mir dieses damalige Erlebnis immer seltener, da ich nun häufig doch schon vorab sehr viele Informationen habe. Diese Flut an Informationen empfinde ich schon fast manchmal als bedauerlich – ich würde mich gerne mal wieder einfach ganz unbedarft in Bücher stürzen können …

    • Reply
      caterina
      August 22, 2012 at 6:26 pm

      Liebe mara, lieber wortlandschaften,

      auch ich habe natürlich sofort an Georges Perec gedacht, den ich – wie ihr sicher wisst – gerade erst gelesen habe. Diese Du-Perspektive ist schon sehr speziell und ungemein spannend: Wie ich sie im Falle von Perec deuten soll, weiß ich noch nicht, ich werde mir aber auf jeden Fall noch ein paar Gedanken machen und den nächsten Wochen ein paar Worte dazu schreiben.

      Ich stimme dir, wortlandschaften, zu in der Annahme, es handele sich um zwei verschiedene “Du”s: So wie ich das aus maras Besprechung herausgelesen habe, gibt es einen wahrnehmbaren Erzähler, der Teil der Geschichte ist (nämlich ein Freund des Toten), während mir bei Perec die Du-Erzählung wie eine andere, paradoxerweise noch nähere Form der Ich-Erzählung vorkam. Ich weiß nicht genau, wie ich das bescheiben soll: Ich hatte nicht das Gefühl, dass es da noch einen anderen Erzähler gäbe, das Du tritt an die Stelle des geläufigen Ichs…

      Wie gesagt: Ich versuche meine Gedanken dazu nochmal zu ordnen. Jedenfalls empfinde ich als einen interessanten Erzählkniff, dem man sehr selten begegnet (für mich war Perec die erste Begegnung dieser Art, Selbstmord nun die zweite, und wortlandschaften hat ja noch auf Butor verwiesen, danke dafür). Diese formale Frage erscheint mir fast noch spannender als der Aspekt des Selbstmordes und die Frage nach der Biographie des Autors bzw. die Vermischung von Autor / Ich-Erzähler / Du. Bzw. interessant wäre sicher auch die Frage: Warum wählt der Autor ausgerechnet in solch einem Text die direkte Anrede? Wer ist der Erzähler, wer das “Du”? Wie passt der Autor selbst in die Konstellation (wenn man überhaupt den ‘literaturwissenschaftlichen’ Fehler begehen darf, Autor- und Textebene zu vermischen)?

      • Reply
        wortlandschaften
        August 23, 2012 at 8:36 am

        Hallo Caterina,

        das trifft sich ja gut, dass Du das Buch eben erst gelesen hast. Was Du beschreibst, versuchte ich mit „Selbstanrede“ auszudrücken, war mir jedoch nicht mehr ganz sicher, ob das für den ganzen Roman oder nur in Teilen zutrifft. Daher die vorsichtigen Formulierungen. Außerdem habe ich auch noch die hervorragende Verfilmung im Gedächtnis, die mich ebenso wie die Vorlage völlig in ihren Bann zu ziehen vermochte (Dort ist die Erzählstimme übrigens die einer Frau). Ich empfand diese Perspektive als sehr faszinierend.

        Die formale Frage finde ich auch am spannendsten und denke, dass sie im Fall von Perec tatsächlich noch eindrücklicher sein kann, als die Ich-Perspektive. Das Du als Ich, als Selbstgespräch, wirkt hier vielleicht so außergewöhnlich gut, weil es zu der Haltung des Studenten passt. Er schweigt und beobachtet und denkt nach. Vielleicht ist diese Technik auch irgendwo mit dem Bewusstseinsstrom zu vergleichen? Ich muss mich auch nochmal näher damit beschäftigen. Ich bin schon sehr auf Deine Gedanken
        dazu gespannt.

      • Reply
        caterina
        August 24, 2012 at 12:15 pm

        “Selbstanrede” finde ich eine treffende Beschreibung. Vielleicht – das ist mir in diesem Augenblick in den Sinn gekommen – ist es aber auch so, dass hier tatsächlich jemand anderes erzählt und den Studenten mit Du anredet, das würde wiederum zur Haltung des Studenten passen, der sich komplett verweigert – also auch zu denken, zu reflektieren… Vielleicht deshalb auch die Wahl, im Film eine Frau sprechen zu lassen, um zu verdeutlichen, dass es nicht der Student ist, der hier zu sich selbst spricht? Nur so ein Gedanke… Den Film will ich auf jeden Fall unbedingt sehen.

      • Reply
        wortlandschaften
        August 25, 2012 at 8:08 am

        Das ist das Schöne daran, es bleibt Raum für Interpretationen und man kann sich nicht sicher sein. Man streiche das „denkt nach“ aus meinem obigen Kommentar…dafür ist es zu lange her. Danke fürs korrigieren.

        Bevor wir nun völlig zu Perec abdriften, schlage ich vor, dass wir vielleicht Deinen zukünftigen Artikel zum Anlass weiterer Gedanken nehmen. Die DVD könnte ich Dir gerne auch mal ausleihen, allerdings findest Du den Film auch bei youtube, wenn Dir das reicht: http://youtu.be/Xp9Y0Mw0ggc

        »An einem Tag wie diesem, etwas später, etwas früher, entdeckst du, ohne überrascht zu sein, dass etwas nicht funktioniert, dass du, um es einmal unvorsichtig auszudrücken, nicht zu leben verstehst, es nie verstehen wirst.«

  • Reply
    buechermaniac
    August 22, 2012 at 10:39 am

    Liebe Mara

    Eine starke Rezension. Als ich gesehen habe, was du gerade liest, dachte ich zuerst einmal “mein Gott!”. Ich hatte eine Freundin, deren Vater sich das Leben nahm. Man kann sich nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, wenn man keine Erklärung, keinen Abschiedsbrief findet und wird sich immer fragen “Warum?”.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 23, 2012 at 2:24 pm

      Liebe buechermaniac,
      herzlichen Dank für deinen Kommentar bei mir und dein Kompliment für meine Besprechung. Ich war mir auch sehr unsicher, worauf ich mich beim Lesen einlasse und kann deshalb deine Reaktion (“Oh Gott”) gut nachvollziehen. Dieses “Warum?” mit dem Angehörige zurückgelassen werden finde ich schrecklich und rücksichtslos. Es ging mir schon häufiger so, aber bei der Lektüre von “Selbstmord” noch einmal sehr stark: mich ärgert dieses rücksichtslose, fast schon egoistische Verhalten sehr. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass auch immer ein enormer Leidensdruck hinter einer solchen Entscheidung sich das Leben zu nehmen stehen muss.

      Eine aufwühlende Lektüre, die mich immer noch nicht loslässt.
      Mara

  • Reply
    literaturen
    August 26, 2012 at 10:37 am

    Interessant! Ich hatte vor einigen Tagen auch gesehen, dass du das Buch liest und wusste nichts darüber. Es war mir noch nicht irgendwo begegnet und ich wusste nichts über dessen Inhalt. Und da ich ja Bücher sehr schätze, die starke Gefühle auslösen – seien sie welcher Art auch immer, werde ich das mal im Auge behalten! Danke dir dafür!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 26, 2012 at 11:43 am

      Hallo Caya,
      starke Gefühle löst “Selbstmord” auf jeden Fall aus. In welche Richtung auch immer diese tendieren, die Lektüre dieses Romans wird wohl niemanden kalt lassen können. Ich hatte durch Zufall schon vor einiger Zeit von diesem Buch gelesen und wusste, dass ich es unbedingt haben musste. Ich würde mich freuen, zu hören, wie es dir gefallen hat, falls du dich entscheiden solltest, es zu lesen … 🙂

  • Reply
    Malindoo
    January 21, 2013 at 4:38 pm

    Hallo erstmal
    ich bin am Überlegen ob ich dieses Buch für meine Facharbeit nutze.
    Ich plane einen Vergleich von Lessings “Philotas” und einer aktuelleren Lektüre.
    Jedoch weiß ich nicht, inwiefern sich dieses Buch dafür eignet.
    Hauptschwerpunkte der Arbeit soll die Darstellung der Gründe für diese Tat zu den jeweiligen Zeiten sein.
    Wäre echt nett wenn ich eine Antwort bekommen könnte…
    Liebe Grüße

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 22, 2013 at 8:00 pm

      Hallo Malindoo,

      ich finde deine Frage schwer zu beantworten, da ich “Philotas” nicht kenne und mir wenig unter deiner Themenstellung vorstellen kann. “Selbstmord” ist ein sehr schmales Bändchen, also würde ich dir empfehlen in der Buchhandlung oder der Bibliothek einfach mal einen kleinen Blick reinzuwerfen. Meine Lektüre des Buches ist bereits eine Weile her, ich glaube aber nicht, dass der Autor explizite Gründe für den Selbstmord nennt und schon gar nicht Gründe, die mit der Zeit zusammenhängen, in der das Buch spielt.

      Ich wünsche dir ganz viel Erfolg bei deiner Facharbeit! 🙂

      • Reply
        Malindoo
        January 23, 2013 at 6:19 pm

        Danke Danke….
        Ja muss ich wohl weitersuchen
        Mal sehen wenn es doch was gibt

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          January 24, 2013 at 2:16 pm

          Ich habe letztens ein sehr beeindruckendes Buch von Tor Ulven gelesen, in dem auch das Thema “Selbstmord” eine Rolle spielt. Habe es auch auf meinem Blog besprochen. Vielleicht wäre dieses Buch noch etwas für dich! 🙂

  • Reply
    Georges Perec: Ein Mann der schläft | We read Indie
    April 9, 2013 at 9:04 pm

    […] Words. ** Weitere Gedanken zur Du-Erzählung, ausgehend von Édouard Levés Roman Selbstmord, sind hier nachzulesen. PS: Auf Arte gibt es einen interessanten Remix von Un homme qui dort und Taxi Driver […]

  • Reply
    Georges Perec: Ein Mann der schläft | We read Indie
    May 31, 2013 at 6:23 pm

    […] Words. ** Weitere Gedanken zur Du-Erzählung, ausgehend von Édouard Levés Roman Selbstmord, sind hier nachzulesen. PS: Auf Arte gibt es einen interessanten Remix von Un homme qui dort und Taxi Driver […]

  • Reply
    Autoportrait – Édouard Levé | buzzaldrins Bücher
    March 24, 2014 at 3:04 pm

    […] vier Prosabänden veröffentliche Levé, der in Paris lebte, auch zahlreiche Fotobände. Sein Roman “Selbstmord” erschien 2012 auf Deutsch, letztes Jahr folgte der zweite Roman. “Autoportrait” wurde […]

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