Gina Mayer wurde 1965 in Ellwangen geboren und lebt heutzutage als freie Autorin in Düsseldorf. Im Aufbau Verlag erschienen von ihr bereits die beiden Romane “Zitronen im Mondschein” und “Das Lied meiner Schwester”.
“Das Maikäfermädchen” spielt im Sommer 1945 in Düsseldorf. Der Krieg ist mittlerweile zu Ende, doch von der Stadt sind lediglich Trümmer und Ruinen übrig geblieben. Die Lebensmittelkarten sind knapp, der Hunger groß.
“Ein Zehntel der ursprünglichen Bevölkerung hauste noch in den Trümmern der Stadt. Der Rest war gefallen, evakuiert, erschossen, zerbombt, vernichtet, verhungert, vergast. Oder emigriert […].”
Im Zentrum der Erzählung steht die Hebamme Käthe, die in dieser Situation im Nachkriegsdeutschland auf sich allein gestellt ist: ihr Mann Wolf ist aus russischer Gefangenschaft nicht zurückgekehrt. Und doch: Käthe hofft immer noch auf eine Rückkehr, auf eine Wiedervereinigung. Das Gefühl, stark bleiben zu müssen, um da zu sein, wenn Wolf nach Hause zurückkehrt, hält Käthe am Leben.
“Man wartet auf eine Zukunft, in der alles wieder wäre wie in der Vergangenheit, aber das würde nicht geschehen, das wusste Käthe so gut wie die anderen. Die Vergangenheit hatten die Flieger zerschossen und die Bomben zertrümmert. Nichts auf der Welt wurde die Toten wieder lebendig machen, die Ruinen wieder aufrichten, die Untröstlichen trösten.”
Ihre Liebe hatte im Krankenhaus begonnen, wo Wolf nach einer Blutabnahme ohnmächtig geworden war und Käthe ihn gefunden und “wieder zum Leben erweckt” hat. Sie begegneten sich am 26. August 1932, als Käthe bereits fünfunddreißig Jahre alt war und kaum noch daran glaubte, irgendwann den Richtigen zu treffen. Nachdem sie Wolf kennengelernt hat, verlässt Käthe das Evangelische Krankenhaus, in dem sie jahrelang gearbeitet hat und ist in der Folge als freie Hebamme tätig.
Als alleinstehende Frau, deren Mann nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist, ist es für Käthe nicht leicht sich zu versorgen. Das Gefühl des Hungers ist ihr nicht unbekannt. Eines Tages wird sie von einem jungen Mädchen angesprochen: Ingrid ist schwanger und wirkt verstört. Sie spricht kaum, sondern summt immer nur die Melodie eines deutschen Volksliedes: Maikäfer flieg. Sie bittet Käthe darum, ihr Kind abzutreiben und bietet ihr im Gegenzug einen Pelzmantel an, den Käthe auf dem Schwarzmarkt gegen Geld und Lebensmittel eintauschen kann.
“‘Wobei soll ich dir denn helfen?’ fragte Käthe und wusste schon Bescheid. Und ahnte bereits die Folgen. Dass es nicht bei diesem einen Pelzmantel bleiben würde und bei einem einzigen Mal, sondern dass das, was nun begann, immer weitergehen würde, bis es nicht mehr weiterging. Weil der Krug eben nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht.”
Käthe zögert nicht lange und entscheidet sich, dem jungen Mädchen zu helfen. In einer ausgebombten ehemaligen Arztpraxis nimmt sie eine Ausschabung vor und kümmert sich anschließend um die Entsorgung des Embryos. Schnell merkt Käthe, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag: was mit Ingrid begann, würde immer weitergehen. Es kommen immer mehr junge Mädchen, die Käthe um Hilfe bitten, “das Gerücht, dass es da eine Engelmacherin gab, die ihr Handwerk verstand und bezahlbar war”, verbreitet sich wie ein Lauffeuer.
“Es war nicht nur das großzügige Honorar, es war die Erleichterung in den Gesichtern der Frauen und ihre Dankbarkeit. Als sie sich von Käthe verabschiedete, hatte Trudi glücklicher ausgesehen als die meisten Frauen, die Käthe in den letzten Monaten entbunden hatte.”
Durch Zufall trifft Käthe ihre ehemalige Kollegin Lilo Hambach aus dem Evangelischen Krankenhaus wieder, die ihr ihre Hilfe anbietet. Gemeinsam entscheiden sie sich, den jungen Frauen zu helfen. Lilo hat gute Kontakte zu dem englischen Offizier Winston, der Medikamente besorgt und zu Schimanek, der seinen Keller zur Verfügung stellt. Käthe und Lilo setzen durch ihr Handeln eine Kette von Ereignissen in Gang, die sie am Ende selbst überrascht und von deren ganzen Ausmaß sie lange nichts ahnen …
Gina Mayer ist mit ihrem neuen Roman “Das Maikäfermädchen” eine großartige Geschichte gelungen, die mich von der ersten Seiten an gefesselt hat, was dazu geführt hat, dass ich das Buch zwischendurch kaum noch aus der Hand legen konnte. “Das Maikäfermädchen” zeichnet sich in meinen Augen vor allem durch eine ungeheure Vielschichtigkeit aus: der Roman besteht aus vielen Schichten und kann auf mehreren Ebenen gelesen werden, die doch auf unterschiedliche Weise alle miteinander verwoben sind. Zum einen handelt es sich um eine sehr beeindruckende Beschreibung der Situation, mit der die Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland konfrontiert gewesen ist. Der Hunger, die Lebensmittelknappheit – beides führt dazu, dass Käthe entgegen ihrer moralischen Grundsätze handelt: sie “tötete ungeborene Kinder, um selbst zu überleben”. Darüber hinaus ist “Das Maikäfermädchen” natürlich auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Abtreibung. Lilo und Käthe bilden dabei zwei gegensätzliche Pole: während Lilo die Perspektive einer Geschäftsfrau vertritt und bereit ist, “über Leichen” zu gehen, hat Käthe sehr viel stärker ethische und moralische Bedenken. Die Beschreibungen der Abtreibungen sind sehr präzise, erschreckend plastisch.
Natürlich sind die Folgen des Krieges nicht nur Hunger und Lebensmittelknappheit – Gina Mayer schildert auch die psychischen Auswirkungen. Lilos Mann Hambach, der vor dem Krieg als Arzt gearbeitet hat, ist nun arbeitsunfähig. Seine Hände zittern zu stark. Er hat im Krieg Dinge erlebt, die er in sich vergraben hat, über die er nicht spricht. Lilo und Hambach wohnen zwar noch zusammen, leben aber aneinander vorbei. Auch Schimanek muss mit seinen Erinnerungen an seine Zeit im Konzentrationslager weiterleben. Hambach würde es besser gehen, wenn er sprechen könnte, sich mitteilen, die in sich verschlossenen Erinnerungen befreien würde.
“Aber er gestand nichts. Weil das nichts verbessert hätte. Weil es nicht mehr zu ändern war. Weil diese Wunden nicht heilen würden, was auch geschah.”
Fast alle Figuren in Gina Mayers Roman haben etwas in sich vergraben, über das sie nicht mehr sprechen können, zu dem sie selbst kaum noch einen Zugang haben. Gina Mayer gelingt es zu zeigen, was Sprachlosigkeit zerstören kann, wozu es führen kann, wenn man sich nicht mehr mitteilt. Zumindest einigen Figuren gelingt es im Laufe der Geschichte ins Leben zurückzukehren, mit dem Leben wieder Kontakt aufzunehmen.
Ich habe den Roman “Das Maikäfermädchen” unheimlich gerne gelesen. Es ist eine literarisch anspruchsvolle, sehr intelligent komponierte Geschichte mit einer Vielzahl an faszinierenden Charakteren. Nicht nur Käthe, sondern auch das Leben von Lilo, Hambach, deren Tochter Hilde oder auch die Erlebnisse von Schimanek fließen in die Geschichte mit ein. Ein berührender, bewegender und fesselnder Roman, den ich bis zur letzten Seite genossen habe.
11 Comments
buechermaniac
August 23, 2012 at 12:53 pmDas klingt nach einem ganz intensiven Leseerlebnis, liebe Mara. Ich frage mich nur, wann ich all diese fantastischen Bücher lesen soll, seufz.
LG buechermaniac
buzzaldrinsblog
August 23, 2012 at 2:05 pmDas frage ich mich auch immer wieder, liebe buechermaniac! Irgendwie findet sich dann aber doch immer wieder Zeit und “Das Maikäfermädchen” konnte ich – nachdem ich angefangen hatte – irgendwann auch einfach nicht mehr aus der Hand legen! Ich kann es dir nur ans Herz legen! Es ist ein intensives, berührendes und trauriges Leseerlebnis, das mich sehr nachdenklich zurückgelassen hat.
Mara. 🙂
atalante
August 23, 2012 at 1:20 pmHmm, ich habe vor ein paar Tagen ein Interview mit der Autorin gehört (dradio-Büchermarkt, 20.8.). Darin wurde nicht so sehr das Thema Abtreibung thematisiert, sondern die Frage, warum es in der heutigen Gegenwartsliteratur keine “Trümmerliteratur” mehr gebe.
Ich persönlich bin darüber nicht unglücklich. Das Meiste wurde einfach schon dazu gesagt. Seien es jetzt die Titel aus dem Kempowski-Zyklus oder auch viele Jugendbücher. Dort hat die Aufarbeitung ja noch ihre Berechtigung. Gleichzeitig erinnert der Titel sehr stark an das bekannte Buch von Christine Nöstlinger “Maikäfer flieg!”. Da hätte der Verlag sich etwas anderes überlegen sollen.
Wie sieht es den stilistisch aus. Das Zitat: “…, sondern dass das, was nun begann, immer weitergehen würde, bis es nicht mehr weiterging. Weil der Krug eben nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht.” überzeugt mich nun nicht gerade.
Sorry, damit möchte ich nicht Deinen persönlichen Eindruck werten und Deine Begeisterung an dem Buch anzweifeln.
buzzaldrinsblog
August 23, 2012 at 2:20 pmLiebe atalante,
danke für deinen sehr interessanten und auch kritischen Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut!
Für mich ist “Das Maikäfermädchen” in erster Linie ein Buch, das sich mit dem Thema Abtreibung auseinandersetzt. Natürlich spielt auch die Zeit eine Rolle, in der die Handlung spielt. Ich finde die Frage interessant, warum es in der heutigen Gegenwartsliteratur kaum noch “Trümmerliteratur” gibt. Als ich “Das Maikäfermädchen” aufschlug, ohne noch genau zu wissen, worum es geht, war ich zunächst überrascht über die Zeit, in der der Roman spielt. Ich persönlich glaube nicht, dass schon alles gesagt wurde und finde es wichtig die “Trümmerliteratur” auch heutzutage in unserem kulturellen Gedächtnis präsent zu halten. Angesichts dieser Tatsache, finde ich Bücher wie “Das Maikäfermädchen” um so wichtiger und auch notwendig.
Danke auch für den interessanten Hinweis auf “Maikäfer flieg”, das ich bis jetzt noch nicht kannte (scheinbar eine Bildungslücke!). 😉
Stilistisch hat mir der Roman sehr gut gefallen. Ich habe ihn sehr gerne gelesen und konnte ihn – wie bereits erwähnt – kaum noch aus der Hand legen. Entschuldigen musst du dich übrigens wirklich nicht, liebe Atalante! Geschmäcker sind verschieden und wenn dich die Handlung oder auch die ausgewählten Zitate nicht ansprechen, ist das doch völlig in Ordnung!
Ich finde es interessant, dass Geschmäcker unterschiedlich sein können: wir beide haben ja ab und an doch Überschneidungspunkte in unseren Geschmäckern und schätzen dann wiederum Bücher anscheinend ganz unterschiedlich ein. 🙂
atalante
August 23, 2012 at 2:47 pmTrümmerliteratur wider das Vergessen, das kann man natürlich so sehen. Allerdings gibt es auch sehr viele Klassiker, die dies erfüllen, noch heute ihre Gültigkeit haben und einfach auch näher dran waren und sind und die ich deswegen als authentische Literatur bezeichnen möchte.
Heute findet sich noch in jedem Schulbuch Borcherts Kurzgeschichte “Nachts schlafen die Ratten doch”. Ich finde jede “Literaturmode” hat ihre Zeit und würde bei mehr Informationsbedarf eher zu einer historischen Abhandlung greifen. Da die Historiker, so habe ich mir sagen lassen, heute ganz passabel schreiben, gibt es da enorme Auswahl. 😉
Vielleicht liegt es ja tatsächlich am Altersunterschied, Mara, ich habe das Gefühl, von diesem Thema schon genug gelesen zu haben. Andererseits bin auch ich zu jung, um diese Zeit noch selbst mit erlebt zu haben.
Noch eine kleine Anmerkung, ein Buch nicht aus der Hand legen zu können, zeigt, daß der Autor sehr gut Spannungsbögen konstruieren kann, aber das muss nicht zwangsläufig ein Indiz für literarische Qualität sein.
-“Das Maikäfermädchen” spreche ich in dem Fall natürlich nicht an, ich kenne es nur aus den Rezensionen und Deinen Zitaten.-
Aber wir alle kennen doch eine Menge Bücher und Filme, die nur durch dieses Prinzip funktionieren. 😉
buzzaldrinsblog
August 24, 2012 at 12:36 pmLiebe Atalante,
vielleicht liegt es wirklich am Altersunterschied, ich habe noch nicht unbedingt das Gefühl, genug über das Thema gelesen zu haben, muss aber auch sagen, dass mich diese Zeit einfach sehr interessiert. Hast du vielleicht noch – bis auf Borchert – noch ein paar Empfehlungen zur Trümmerliteratur für mich zur Hand? 🙂
Zu Historikern zu greifen reizt mich ja – um ehrlich zu sein – immer nicht so richtig, auch wenn sie bestimmt passabel schreiben können. Ich vertiefe mich dann doch lieber über Romane in bestimmte Themen.
Mit deiner Anmerkung hast du natürlich vollkommen recht und ich komme mir jetzt ganz schön doof vor! 😉 Bei “Das Maikäfermädchen” hat mich so wohl der Stil überzeugt, als auch die Handlung, die dafür gesorgt hat, dass ich es irgendwann einfach nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die von mir ausgewählten Zitate spiegeln ja nur einen Ausschnitt des Buches wider – mir hat es literarisch gefallen.
Viele Grüße und ein schönes Wochenende!
Mara
atalante
August 24, 2012 at 1:59 pmDir die bekannten Schriftsteller von Böll, Lenz, Johnson, Schnurre, Koeppen usw. zu nennen, wäre doch wohl Eulen nach Athen tragen. Außer diesen sei noch Ortheil mit Hecke und auch Ulla Hahn erwähnt.
Wer eher “erzählte Geschichte” über diese Epoche sucht, also Schwarzhandel, Not, Hunger, Heimkehrer, etc., findet genug bei Jugendbuchautoren wie Zitelmann, Kordon und Fährmann. Vielleicht ist es auch eher das, was mich stört, diese Art Geschichte nachzuerzählen, indem man möglichst viele Phänomene und Ereignisse in eine Romanhandlung einbaut. Das wirkt in meinen Augen alles so konstruiert und funktioniert meistens nicht so gut, weil das innere Bedürfnis des Autors fehlt. Letztendlich wirken so entstandene Romane auf mich pädagogisch. Wahrscheinlich bin ich da zu idealistisch. 😉
Als Historiker hat F. Taylor in “Zwischen Krieg und Frieden” diese Trümmerzeit bearbeitet.
Na, liebe Mara, jemand der jeden Tag mindestens eine halbe Neuerscheinung liest, muss sich nicht doof vorkommen. 😉
Tanja
August 24, 2012 at 8:52 amZitronen im Mondschein will ich unbedingt noch lesen! Schöne Rezi u. wieder ein Buchwunsch mehr. Liebe Mara, ich sende liebe Grüßé und wünsche dir ein schönes Wochenende.
buzzaldrinsblog
August 24, 2012 at 12:38 pm“Zitronen im Mondschein” möchte ich auch gerne noch lesen und auch “Das Lied meiner Schwester” steht schon auf meiner Wunschliste! Ich hoffe, dass du dir diesen neuen Buchwunsch bald erfüllen kannst, es ist wirklich ein tolle Lektüre!
Ich sende dir auch liebe Grüße und wünsche dir ein sonniges Wochenende!
lesesilly
August 26, 2012 at 12:21 pmGestern habe ich mir das Buch gekauft und eben gerade zu Ende gelesen. Ich bin wirklich beeindruckt. Die Geschichte hat mich so gefangen genommen, dass ich nicht aufhören konnte zu lesen. Gina Mayer hat einen tollen Schreibstil und weiß zu fesseln. Dies ist sicherlich nicht das letzte Buch, das ich von ihr lese. Vielen Dank für den wertvollen Tipp.
LG
lesesilly
buzzaldrinsblog
August 26, 2012 at 8:03 pmLiebe lesesilly,
ich freue mich sehr, dass dich das Buch ähnlich beeindruckt zurückgelassen hat, wie mich. Ich habe das Buch an zwei Tagen durchgelesen und konnte es zwischendurch nicht mehr aus der Hand legen – ich musste einfach wissen, wie es weiter geht, mit Käthe, Lilo, Hambach und Hilde.
“Das Lied meiner Schwester” habe ich mir bereits vorgemerkt und werde es hoffentlich so bald wie möglich lesen.
Ich freue mich, dass dir das Buch gefallen hat! Bei Empfehlungen sorge ich mich ja immer ein bisschen, dass andere dann doch nicht so ganz begeistert sein könnten.
Viele Grüße
Mara