Barbara Slawig wurde 1956 in Braunschweig geboren und lebt heutzutage in Berlin. Bevor sie Schriftstellerin wurde, war sie in der Wissenschaft aktiv: sie studierte Biologie und verfasste eine Doktorarbeit über Meningitis-Epidemien in Afrika. Bereits seit zwanzig Jahren übersetzt sie englischsprachige Belletristik und schreibt auch selbst Romane und Erzählungen.
“Yesterday don’t matter cause it’s gone.”
In “Visby” erzählt Barbara Slawig die Geschichte von Dhanavati, einer jungen Frau, deren Mutter – als sie fünf Jahre alt war – bei Visby von den Klippen sprang. Dhanavati hatte zuvor gemeinsam mit ihrer Mutter in einer spirituellen Kommune auf Gotland gelebt – danach veränderte sich ihr Leben schlagartig und sie musste zurück nach Deutschland zu Verwandten ziehen. Eglund, der Führer ihrer Kommune, wurde wegen Drogenhandels verhaftet. Adrian – der mit Dhanavati und ihrer Mutter – in der Kommune gelebt hatte, hatte zwar versprochen, sich um sie zu kümmern, doch auch er lässt sie alleine. Zwanzig Jahre später möchte Dhanavati herausfinden, was damals mit ihrer Mutter passiert ist: ist sie freiwillig gesprungen? Wurde sie gezwungen? Aus welchen Gründen ist es damals soweit gekommen? Dhanavati möchte Antworten auf diese bohrenden Fragen, möchte Leerstellen füllen und herausfinden wer ihr Vater ist.
Barbara Slawig erzählt Dhanavatis Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Zu Beginn des Buches lernt man Annika kennen, Adrians Partnerin. Nachdem Dhanavati ihre Suche nach Antworten begonnen hat – für die sie den Privatdetektiv Lee engagiert hat –, hat sie auch Adrian kontaktiert, der danach verschwunden ist.
“Drei Monate lang hatte ich mir vorgestellt, dass Adrian zu ihr gefahren war. Zu seinem ersten Kind, dem, das er sich ausgesucht hatte. Ich hatte mir vorgestellt, dass er glücklich war. Endlich mit der Vergangenheit im Reinen. Im Frieden mit ihrer toten Mutter. Ich war wütend gewesen, ich hatte mich verraten und hilflos gefühlt. Aber ich hatte wenigstens geglaubt, dass ich wüsste, weshalb er gegangen war.”
Die Angst, dass die Vergangenheit sie irgendwann wieder einholen könnte, hat Annika schon immer umgetrieben. Das Wissen um Adrians Vergangenheit, über die er kaum je gesprochen hat, war für sie etwas, das stets präsent war, egal wie viel sie und Adrian selbst verbunden hat. Dhanavati und ihre tote Mutter lauern Annika in Form eines Schreckgespensts seit Jahren in der Dunkelheit auf.
“Über die Jahre, bevor wir uns begegnet sind, wusste ich noch immer fast nichts. Er hatte zusammen mit Gisela Reinerts in einer religiösen Kommune auf Gotland gelebt, er hatte sie geliebt und ihr versprochen, sich immer um ihre Tochter zu kümmern. Obwohl es nicht seine Tochter war. Wie er sagte. Wer war dann der Vater? Jemand, der auch dort auf Gotland lebte? Warum hatte sich die Kommune aufgelöst? Wann war Gisela gestorben? Wie war Gisela gestorben? Was glaubte Adrian ihrer Tochter heute noch schuldig zu sein? Woraus bestand der Müll in seinem Leben?”
Zu Beginn dieser Reise in die Vergangenheit ahnen weder Annika noch Dhanavati, dass diese nicht nur ihr eigenes Leben durcheinanderbringt, sondern auch das, von einigen anderen Menschen.
Barbara Slawig erzählt von einer spannenden und aufregenden Reise in die Vergangenheit, angetrieben von einer jungen Frau, die glaubt, nicht zufrieden weiterleben zu können, solange sie keine Antworten auf ihre Fragen findet – diese Sehnsucht führt Dhanavati zwischenzeitlich sogar bis nach Riga und dabei bringt sie nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr.
“Es war alles so lange her. Es war so unwichtig geworden. Tot. Aber warum blieb dann trotzdem diese bohrende Sehnsucht, diese Trauer, die mit nichts in Verbindung stand? Unerklärt, unbeeinflusst – als ginge es gar nicht um Mutter und Kindheit und den unbekannten Vater; aber worum ging es dann?”
“Visby” wird von den Erzählungen Annikas und Dhanavati eingerahmt, beide Erzählstränge sind miteinander verflochten, ergänzen sich gegenseitig, denn beide Frauen erleiden dasselbe Schicksal: ein Mensch verschwindet urplötzlich aus ihrem Leben und sie bleiben alleine zurück – mit offenen Fragen und ohne Antworten. In “Visby” verschwimmen die herkömmlichen Genregrenzen und –definitionen und zwischendurch habe ich schon fast geglaubt, einen Krimi zu lesen. Es gibt teilweise so spannende Stellen, dass ich zwischendurch das Buch kaum noch aus der Hand legen konnte. Im Mittelpunkt des Romans steht für mich aber das kaum fassbare Konstrukt der Vergangenheit, das das Leben der Figuren prägt und bestimmt und auch die Grenzen dieses Konstrukts. Wann ist es möglicherweise sinnvoller, mit der Vergangenheit abzuschließen, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Für beide Frauen, für Annika und Dhanavati, endet “Visby” weniger als Reise zu dem, was sie in der Vergangenheit zu finden gehofft haben, denn als Reise zu sich selbst, zu ihrer eigenen Kraft und Stärke. “Visby” schließt mit Annikas Erkenntnis, dass man nicht auf alle Fragen Antworten erhalten muss, um weiterleben zu können:
“Trotzdem fühle ich mich befreit. Vielleicht weil ich einfach genug gefragt habe. All meine Fragen habe ich hier abgeladen. Dort unten liegen sie, irgendwo auf den Wiesen, zwischen den Bäumen, der Wind treibt sie umher, manche bleiben an abgestorbenen Farnwedeln hängen und zerfallen gemeinsam mit den Pflanzen zu Humus und einer Mixtur von Düften, andere wehen aufs Meer hinaus und versinken im Wasser.”
Das Grundgefühl, das ich aus “Visby” mitnehme, ist sicherlich am besten in dem Zitat zusammengefasst, das dem Roman vorangestellt ist und auch meiner eigenen Rezension: “Yesterday don’t matter cause it’s gone.” “Visby” ist ein schöner Roman, der literarisch vielfältig ist und viele unterschiedliche Facetten zu bieten hat. Beim Lesen merkt man immer wieder, dass Barbara Slawig ursprünglich aus der Wissenschaft kommt, den ein gewisser Wissenschaftskontext spielt auch im Roman eine Rolle (ganz amüsant sind auch für mich etwas zum Teil untypische Wendungen, wenn zum Beispiel jemand als Mikrobe beschimpft wird).
Mich hat bereits das wunderschöne Cover von “Visby” verzaubert und auch der Inhalt hat mich nicht enttäuscht. Ein toller Roman, der sich leicht und flott lesen lässt und doch, zwischen den Zeilen, sehr viel Wichtiges und Bedeutendes verbirgt. Ich wünsche “Visby” viele Leser, die sich darauf einlassen wollen, dieses zu entdecken.
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Blogparade 2012 « buzzaldrins Bücher
December 31, 2012 at 11:40 am[…] ersten Anblick an habe ich mich direkt in das Cover von “Visby” verliebt, einem wunderschönen Roman von Barbara […]