Ich habe Richard Ford, der 1944 in Jackson, Mississippi, geboren wurde durch seine Trilogie um den Sportreporter Frank Bascombe kennengelernt, die ich bereits sehr gerne gelesen habe. Der Roman “Wild leben” ist mein Lieblingsbuch von Richard Ford – beim Lesen von “Kanada” habe ich mich sehr stark an die Geschichte, die Ford in “Wild leben” erzählt, erinnert gefühlt.
“Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten. Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war eine entscheidende Weichenstellung in meinem Leben und in dem meiner Schwester. Wenn von ihm nicht als Erstes erzählt wird, ergibt der Rest keinen Sinn.”
Dies sind die ersten Sätze des Romans und sie führen den Leser sofort mitten in das Geschehen, in eine Geschichte voller falscher Entscheidungen, Missverständnissen, Verirrungen, die aber auch von Verbrechen und Gewalt erzählt. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Dell Parsons, einem intelligenten Jungen, der zusammen mit seiner Zwillingsschwester Berner in einer – auf den ersten Blick – ganz normalen Familie in Great Falls/Montana aufwächst.
“Mein Vater, Bev Parsons, war ein Junge vom Land, geboren 1923 in Marengo County, Alabama. Als er 1939 die Highschool verließ, brannte er darauf, zum Army Air Corps zu gehen […].”
Dells Mutter Neeva (kurz für Geneva) bildet beinahe schon fast das Gegenstück zu dem simpel gestrickten Bev, der Luftschlösser baut und aus dem “hinterwäldlerischen” Alabama stammt: sie ist Jüdin, intelligent, belesen, zart, arbeitet als Lehrerin. Dells Eltern sind “ganz normal – obwohl diese Aussage natürlich null und nichtig wurde, als sie tatsächlich eine Bank überfielen.”
“Sie waren schlicht die Falschen füreinander, hätten nie heiraten oder sonst was miteinander anfangen sollen, hätten nach ihrer ersten leidenschaftlichen Begegnung ihrer Wege gehen sollen, ohne darauf zu achten, was dabei herauskam. Je länger sie dabei blieben und je besser sie sich kennenlernten, umso mehr erkannte zumindest sie ihren Fehler, und umso fehlgeleiteter wurde ihr gemeinsamer Lebensweg.”
Bev ist immer auf der Suche nach Möglichkeiten Geld zu verdienen: euphorisch auf der Suche nach dem großen Coup, nach neuen Wegen und Lösungen, die immer nur für kurze Zeit funktionieren und die Familie danach in ein noch größeres Chaos stürzen. Er trifft falsche und unüberlegte Entscheidungen und bringt seine Familie dadurch in eine fatale Lage. Aus einer finanziellen Not heraus entscheidet er sich schließlich dazu, eine Bank zu überfallen und Neeva lässt sich in seinen Plan mit hineinziehen. Für beide endet das Abenteuer in einem Fiasko: sie landen im Gefängnis. Dell und Berner bleiben alleine zurück. Berner haut mit einem Freund ab in eine ungewisse Zukunft, während Dell von Mildred, der Freundin seiner Mutter, nach Kanada gebracht wird, um nicht im staatlichen Waisenhaus zu landen.
In Kanada beginnt für Dell ein Abenteuer, dessen Ausmaß er lange nicht ahnt und kaum überblicken kann. Einsam und auf sich allein gestellt, in einer Landschaft, die einer Wildnis gleichkommt, ist er mit Lebensbedingungen und Situationen konfrontiert, auf die er mit seinen fünfzehn Jahren nicht vorbereitet ist. Dell, der junge Held des Romans, der sich vor dem Raubüberfall, der sein ganzes Leben von Grund auf verändern sollte, vor allem auf die beginnende Schule gefreut hatte, Schach gespielt und Bücher über Bienen gelesen hatte, gelingt es jedoch auf beeindruckende Weise, sich trotz allem, was ihm geschieht, seine Unschuld zu bewahren und sich an die neuen Lebensverhältnisse irgendwie anzupassen.
“Ich versuche einfach, nichts als gegeben zu nehmen und für die nächste Veränderung bereit zu sein, die garantiert bald kommt. […] Bis dahin würde ich versuchen, die guten Ratschläge, die ich bekommen hatte, zusammenzuführen: Großzügigkeit, Langlebigkeit, Hinnehmen- und Verzichtenkönnen, die Welt zu mir kommen zu lassen – und aus alldem versuchen, ein Leben zu machen.”
Richard Ford ist mit “Kanada” ein vor allem atmosphärisch beeindruckender Roman gelungen, der von einem sympathischen, offenherzigen, liebenswerten Helden getragen wird. Erzählt wird die Geschichte von Dell, der bereits gealtert ist, mittlerweile als Lehrer arbeitet – fünfzig Jahre nach all dem, was geschehen ist. Dell hat mich vor allem durch seine Gelassenheit, durch seine Ruhe beeindruckt – er blickt nur selten wütend zurück auf das, was geschehen ist. Trotz allem, was ihm wiederfahren ist, verliert er nie seine positive Grundhaltung – er weigert sich, es sich zu einfach zu machen und seinen Eltern für alles die Schuld zu geben.
“Wahrscheinlich könnte man unsere kleine Familie im Rückblick als dem Untergang geweiht betrachten, wie sie einfach nur darauf wartete, in den brodelnden Wellen zu versinken, für Verderben und Scheitern vorherbestimmt. Aber ich kann uns nicht wahrheitsgemäß zu schildern und ebenso wenig die Zeit als schlimm oder unglücklich, sosehr sie aus dem gewöhnlichen Rahmen fiel.”
Richard Ford zeichnet seine Figuren sehr fein und mit sehr viel Liebe, heraus sticht dabei vor allem Dell. Obwohl das Buch eine gewisse Leichtigkeit umweht, ist es dennoch von einer melancholischen Grundstimmung durchzogen.
Am Ende des Romans werden all die Erkenntnisse, die Dell in seinem Leben gewinnen konnte, gebündelt und zusammengeführt. Die Geschichte führt in die Gegenwart, Dell spricht über seine Zeit als Lehrer, seine Wiederbegegnung mit seiner Schwester Berner und zieht ein sehr weises, sehr lebenskluges Fazit, das mich sehr berührt hat:
“Ich weiß nur, dass man bessere Chancen im Leben hat – bessere Überlebenschancen, wenn man gut mit Verlusten umgehen kann; wenn man es schafft, darüber nicht zum Zyniker zu werden; wenn man Prioritäten setzen kann, […], Proportionen einhalten, ungleiche Dinge zu einem Ganzen verbinden, in dem das Gute geborgen ist, auch wenn es, zugegeben, nicht immer leicht zu finden ist. Wir versuchen es […]. Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es.”
“Kanada” ist für mich ein berührender Roman, der das Prädikat Weltliteratur verdient. Richard Ford hat ein ganz besonderes Talent zum Geschichtenerzählen und in “Kanada” erzählt er von wichtigen menschlichen Themen: Verlust, Trauer, Einsamkeit aber auch über das Ertragen von all dem. Über das Aushalten. Darüber, wie man mit schmerzlichen Geschehnissen umgehen kann. Ich würde gerne glaubem können, was Dell glaubt, dass uns „das Leben leer geschenkt“ wird und es in der Hand jedes einzelnen liegt, was er daraus macht.
5 Comments
literaturen
September 20, 2012 at 10:56 amWahrscheinlich wird uns das Leben tatsächlich leer geschenkt, bloß bevor wir überhaupt eingreifen können, haben sich meistens schon zuviele Dinge ereignet, um noch nicht durch Erfahrungen geprägt zu sein. Deine Rezension gefällt mir sehr. Wir haben “Kanada” als Leseexemplar im Laden, meinem Kollegen hatte es gar nicht gefallen, deshalb habe ich mich erstmal noch nicht näher damit befasst. Aber – wie fast immer bei deinen Rezensionen – hat man nach dem Lesen wirklich Lust auf die Bücher. Ich habe im ja im Augenblick mehr mit der Schönheit des Verrisses beschäftigt. (;
buzzaldrinsblog
September 21, 2012 at 7:49 pmIch habe mich sehr über deinen Kommentar und vor allem deine Gedanken zu der Frage, die mich am Ende meiner Rezension beschäftigt hat, gefreut. Ich glaube auch, dass du Recht hast: selbst wenn uns das Leben leer geschenkt wird, können bereits sehr früh im Leben Dinge passieren, die nicht in unserer Hand liegen und die unser Leben nachhaltig prägen. So ergeht es ja auch Dell.
Schade, dass deinem Kollegen “Kanada” nicht gefallen hat, ich freue mich aber, dass ich dir mit meiner Besprechung dennoch Lust auf das Buch machen konnte. Für mich ist die Art und Weise wie Ford erzählt beinahe magisch. Er schafft mit seinen Worten so viel Atmosphäre … 🙂
Für deinen Verriss des Schneemädchen bin ich dir sehr dankbar – da hast du mich von einem potentiellen Fehlkauf abgehalten!
sternschnuppe11
October 6, 2012 at 9:13 amDie Schlußsätze in Kanada sind die, die ich mir auch herausgeschrieben habe, sie sind so schlicht, so einfach in ihrer Sprache und doch so berührend…und das ist überhaupt das Geheimnis an Fords Bücher, warum manche sie als für Männer bestimmt sehen, es ist die schnörkellose unpathetische Ausdrucksweise, die so klar und schlicht ist, das sie ganz einfach aussieht und doch eine Kunst ist.
Dell war als Kind klar im Denken und hat dieses Denken nie verloren, ich möchte diesen Jungen bei der Lektüre sehr.
Am Donnerstag ist Richard Ford hier zu einer Lesung im Frankfurter Schauspielhaus anläßlich der Buchmesse, ich freue mich schon sehr darauf.
Ich werde diese Rezension als link an meine Lesefreunde versenden -:)))
mit netten Grüßen für ein schönes Wochenende
Karin
buzzaldrinsblog
October 7, 2012 at 10:14 amLiebe Karin,
nach einigen Tagen Regen wagst sich die Sonne mittlerweile wieder hervor und wenn ich aus dem Fenster schaue, schaue ich in einen strahlendblauen Himmel. Ich erlebe also ein in der Tat schönes Wochenende und hoffe, dass es dir genauso geht.
Ich finde, dass du das besondere von Fords Sprache sehr schön zusammenfasst – mir ist es nicht gelungen in Worte zu fassen, was mich genau so anrührt, wenn ich seine Worte lese. Die Sprache ist schlicht und einfach, doch dennoch auch berührend. Für mich zeichnen sich alle Romane Fords durch diese besondere Sprache aus und ich war von dem ersten Satz an, den ich von ihm gelesen habe, sofort begeistert. Ob Ford nun für Männer schreibt, oder nicht – mich trifft das, was er schreibt mitten ins Herz (auch wenn das möglicherweise sehr pathetisch klingen muss).
Ich beneide dich um die Möglichkeit ihn live erleben zu dürfen und kann sehr gut nachvollziehen, dass du dich bereits jetzt darauf freust. Ich würde mich sehr freuen, wenn du hier ein bisschen über die Lesung berichten könntest – ich wäre gespannt darauf zu erfahren, wie es dir gefallen hat.
Viele Grüße
Mara
Private Büchersammlungen: Maras Bücher « kbvollmarblog
December 18, 2012 at 6:09 pm[…] ergattern gab. Ich habe vor allem viele amerikanische Autoren gekauft: James Salter, Tobias Wolff, Richard Ford, Richard Yates und Philip Roth. Heutzutage kaufe ich überwiegend Neuerscheinungen, die ich auf […]