Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung – Corinna T. Sievers

Corinna T. Sievers, die auf der Insel Fehmarn geboren wurde, wuchs an der Ostsee auf. Sie studierte Politik, Medizin und Zahnmedizin in Hamburg, Frankfurt und Kiel, hat zwei Kinder und arbeitet als Kieferorthopädin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman “Samenklau”.

In  “Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung” wird die Geschichte von Ute erzählt. Ute wird 1966 mit einer Hasenscharte und sechs Fingern geboren. Sie wächst in einem Dorf an der Ostsee auf.

“Das Dorf an der Ostsee war klein, von Juni bis September kamen Badegäste, danach herrschte Stille. Der reichste Bauer war Bürgermeister, sein Stellvertreter vermietete Strandkörbe, im Winter flickte er sie. Es gab einen Konsum und eine Post, ein kleines Kaufhaus mit Namen Puck und außerdem eine Fleischersfrau, die nie geheiratet hatte, einen Schuster, den Juwelier und einen Zahnarzt.”

Ute wird als “Kreatur” beschimpft, als “Missgeburt”, als hässliche “Gnomin”. Sie wächst in armen Verhältnissen auf, die Mutter trinkt und kümmert sich nicht um sie, “hätte es die Schwester nicht gefüttert, wäre das Kleine längst tot.” Der Vater hat die Familie wegen Ute verlassen.

“Es ist wegen Ute, dass Heiner fort ist. Er wollte noch einen Sohn, kein Kind mit sechs Fingern. Wenn Ute nicht wäre …”

Ute ist unerwünscht, ungeliebt, in der Schule wird sie ausgeschlossen, sie ist eine Außenseiterin. Das einzige, was ihr hilft, sind Buchstaben, sie liebt es zu lesen, versteckt sich auf einem Heuboden, wo sie mithilfe ihrer Bücher in fremde Welten abtaucht.

“Sie überstand die Vormittage auf dem Pausenhof, das Schubsen und Schreien, ‘Hasenscharte, Hasenscharte!’, weil sie an ihren Heuboden dachte und die Welt, die dort auf sie wartet, eine Welt, die ihr wirklicher erschien als die eigene.”

Ute wird von ihren Mitschülern gequält und gedemütigt. Doch als auch noch ihr Onkel bei ihrer Mutter einzieht, verschlimmert sich ihre Situation noch weiter: Ute wird von ihrem Onkel sexuell missbraucht. Als ihre Schwester Marianne mit sechzehn Jahren von zu Hause auszieht, gibt es keinerlei Grenzen und Schutz mehr und Ute ist am Tage ihren Mitschülern und in der Nacht ihrem Onkel hilflos ausgeliefert.

“Ute blieb stumm, denn Weinen half nichts, das hatte sie gelernt.”

Neben all dem Leid, dem Schrecklichen, dem kaum zu Ertragenden, erzählt Corinna T. Sievers aber auch von einer zarten Liebe. Denn da gibt es auch noch Utes Mitschüler Volkan, ein “Kanake”, der – ähnlich wie Ute – ein Leben als Sonderling, als Außenseiter führt, weil er Ausländer ist. Beide nähern sich ganz vorsichtig an.

Corinna T. Sievers erzählt auf knapp 100 Seiten von einer Zeitspanne, die fünfzehn Jahre umfasst. Das Buch ist sehr schwer zu ertragen, sehr schwer auszuhalten. Die Sprache von Corinna T. Sievers ist nüchtern, reduziert, verknappt und wirkt dadurch umso stärker, umso schockierender. Der Schock verstärkt sich dadurch, dass Utes Geschichte wahr ist. Der Schock verstärkt sich durch einen Brief, der dem Romantext angehängt ist. “Schön ist das Leben und Gottesherrlichkeit in seiner Schöpfung” erzählt von Armut, zerrütteten Verhältnissen, Leid, Einsamkeit und Gewalt. Das Buch erzählt aber auch von den Menschen, die wegschauen, die lieber nicht hinsehen möchten. Utes Mutter und Großmutter wissen, was geschieht, doch dulden sie beide stillschweigend die Taten des Onkels. Lieber zuschauen, als eingreifen. Das Buch erzählt darüber hinaus auch von Rache, davon, wie Ute versucht ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich zu wehren, gegen ihre Mitschüler, ihren Onkel und ihre Mutter.

Beim Lesen von “Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung” hat sich in meiner Brust manchmal ein Schmerz ausgebreitet, mir fiel das Atmen schwer und die Augen wurden feucht. Ute erleidet unvorstellbare Grausamkeiten und wird damit alleine gelassen. Mich haben die Taten ihrer Peiniger wütend gemacht, ärgerlich, genauso wie das stillschweigende Erdulden ihrer Mutter. Und doch fiel es mir schwer, ihre Rache an ihren Peinigern einzuordnen und richtig zu bewerten. Ich glaube, dass dies einer der interessantesten Diskussionspunkte des Romans sein könnte: hat Ute, bei alldem, was sie erdulden musste, wirklich das Recht sich zu wehren? Ist Selbstjustiz ein Mittel, zu dem man greifen sollte? Gibt es Taten, die es rechtfertigen, dass man das Gesetz in die eigene Hand nimmt und über Leben und Tod anderer Menschen entscheidet?

“Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung” ist ein besonderes, ein außergewöhnliches Buch. Ein Buch, das sich abhebt von all den anderen Neuerscheinungen heutzutage. Das Buch zu lesen ist schwer und das, was man liest auszuhalten und zu ertragen ist noch schwerer, aber ich glaube, dass es sehr wichtig ist. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich mit Utes Geschichte zu beschäftigen und möchte mich abschließend den Worten aus dem Brief anschließen, der den Abschluss des Buches bildet:

“Ihr alle […] seid Teil einer Gesellschaft, in der Kinder missbraucht werden und man so tut, als gäbe es dieses Abscheuliche nicht.

Ich will euch die Augen öffnen.”

2 Comments

  • Reply
    literaturen
    September 23, 2012 at 4:53 pm

    Ja, diese Selbstjustizfrage ist eine interessante. Ich kenne viele Missbrauchsbetroffene und auch aus eigenem biographischen Kontext heraus musste ich mich mit .. gewissen Dingen auseinandersetzen. Selbstjustiz ist allerdings für niemanden, den ich kenne, jemals ernsthaft ein Mittel der Wahl gewesen. Selbsjustiz macht nichts ungeschehen und in den meisten Fällen zerstört sie das letzte bisschen Leben. Denn auch Selbstjustiz ist ja, bei aller Verständlichkeit, nach wie vor eine Straftat und ob man sein Leben im Gefängnis glücklicher und erfüllter leben kann als draußen, ist ja eher zweifelhaft .. ich verstehe den Gedanken, aber Emotion darf niemals eine Basis sein, auf der wir Recht sprechen. Danke für diese Rezension .. (und schäm dich dafür, dass ich durch dich ständig neue Bücher entdecke …)

    LG,
    Sophie

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 27, 2012 at 2:16 pm

      Hallo Sophie,

      ich habe deinen Kommentar mit Interesse sowie gleichermaßen mit Bestürzung gelesen, da du schreibst, dass du auch selbst in gewisser Form betroffen bist. Ich bin sehr offen an die Lektüre herangetreten, ohne genau zu wissen, was mich erwartet. Ute hat mir während der Lektüre unfassbar leid getan, zwischendurch war ich immer wieder zu Tränen gerührt und natürlich auch wütend. Und doch. Und doch hatte ich Schwierigkeiten nachzuvollziehen, dass sie schließlich das Gesetz in die eigene Hand nimmt. Ich stimme dir zu, dass Selbstjustiz eigentlich nie eine Lösung sein kann und darf, auch wenn ich natürlich Verständnis für das Handeln von Ute hatte.
      Ich glaube, dass Utes Geschichte eine interessante Lektüre für Lesezirkel sein könnte, da sie viele Ecken und Kanten besitzt und Diskussionsstoff bietet.

      Ich schäme mich! (Und freue mich gleichzeitig)! 😉

      Mara

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