Der Schriftsteller Tor Ulven wurde 1953 in Oslo geboren. Er arbeitete als bildender Künstler und war als Lyriker und Übersetzer (von Samuel Beckett und Claude Simon) tätig. Nach 1990 schrieb er fast ausschließlich nur noch Prosatexte. “Dunkelheit am Ende des Tunnels”, das 1994 erschien, ist Ulvens erstes Buch auf deutsch und zugleich sein letztes, das veröffentlicht wurde. Ein Jahr darauf nahm er sich mit nur 41 Jahren das Leben. Bereits in den achtziger Jahren hatte er einen nervösen Zusammenbruch erlitten, in dessen Folge er nur noch selten das Haus verließ. “Dunkelheit am Ende des Tunnels” wurde dieses Jahr mit dem Preis der Hotlist ausgezeichnet.
“Das schlimmste Wirkliche ist schlimmer als alles Unwirkliche.”
“Dunkelheit am Ende des Tunnels” ist ein ungewöhnliches Buch, ein Text, der sich jeder Kategorisierung und Einordnung verweigert. Um so schwerer fällt es mir, ihn zu besprechen. Es gibt keinen eindeutigen Verweis darauf, dass es sich um einen autobiographischen Roman handeln könnte und doch glaube ich, dass der Text sehr geprägt ist von Ulvens eigener Geschichte. In “Dunkelheit am Ende des Tunnels” verarbeitet Tor Ulven seine Erfahrungen, seine Erlebnisse und seine Gedanken aus dunklen Stunden in insgesamt neun sehr eindrücklichen Szenen. Der Droschl Verlag spricht auf dem Buchcover zwar von Geschichten, doch den Szenen von Tor Ulven fehlt eigentlich alles, was herkömmliche Geschichten auszeichnet: es gibt keine wirklichen Figuren, es gibt keine Handlung, keinen Plot, keine Zusammenhänge. Von der ersten Seite an wird der Leser in einen Strudel aus Gedanken und Eindrücken gestoßen, als hätte man mit dem Aufschlagen des Buches den Schädel des Erzählers geöffnet und würde sich in seinem Kopf befinden.
“Ich mag es, so im Dunkeln zu sitzen und zu sehen, ohne gesehen zu werden. Aber nicht, wenn ich nicht schlafen kann. Ich hasse es, nicht schlafen zu können. Also hasse ich es, so im Dunkeln zu sitzen und zu sehen, ohne gesehen zu werden.”
Die Figuren von Tor Ulven bleiben Schemen, es handelt sich um ein “ich”, ein “ihr”, ein “er”, eine “sie”, manchmal auch ein “wir”. Sie bleiben alle namenlos. Ohne nähere Eigenschaften oder Charaktermerkmale bleiben sie dem Leser fremd. Und doch haben mich Tor Ulvens Worte von Beginn an verzaubert, denn sie haben einen spröden Charme. Der Text ist stellenweise unzugänglich, schwer verständlich, an vielen Stellen hatte ich den Eindruck, Tor Ulven möchte gar nicht verstanden werden. Dennoch übten seine Worte eine schwer fassbare Faszination aus.
“Ich bin ein Gefangener des Beispiels. Ich fühle mich beispielsweise wie ein Name, der auf eine Klowand gekritzelt wurde. Ich hätte Lust, ihn mit einer starken Chemikalie wegzuwischen.”
“Dunkelheit am Ende des Tunnels” muss natürlich auch vor dem Hintergrund des Selbstmords von Tor Ulven gelesen werden. Im Text finden sich immer wieder Hinweise auf den Wunsch nach einer Beendigung des eigenen Lebens, Hinweise auf eine tiefsitzende Verzweiflung und Ausweglosigkeit.
“Man muss jede Sekunde nehmen, wie sie kommt. Und sie vor allem nicht zählen. Doch wir erreichen einen Punkt, an dem wir glauben, es nicht mehr auszuhalten, keine Woche, keinen Tag, keine Stunde, keine Minute, keine Sekunde länger, aber wir sagen uns Nur noch eine Sekunde, eine Minute, eine Stunde, einen Tag, eine Woche, dann ist Schluss, dann ergeben wir uns, doch es ist nie vorbei, wir ergeben uns nicht, wir halten aus, nicht nur Wochen, sondern Monate und Jahre und Jahrzehnte, wir halten es aus, viel zu lange, das ist das Unglück.”
Tor Ulven spielt mit der Sprache, mit der Perspektive, mit sprachlichen Mitteln. Obwohl sich einem der Inhalt der Szenen auf den ersten Blick nicht immer sofort erschließt, hat mich Tor Ulven mit seiner Sprache dennoch in einen Bann gezogen. Es gibt viele Passagen, die unglaublich brutal sind, unglaublich roh und nah.
“Der Bodensatz der Witze und lustigen Geschichten ist hinabgesunken auf den Grund und hat eine glatte Oberfläche hinterlassen: jetzt schnellen die Erzählungen hoch, über Demütigung, Enttäuschung, Scheitern, den Verlust von jemand Geliebtem; und in dieser leicht linkischen Verletzlichkeit kommen wir einander näher, zeigen einander sozusagen die Haut auf der Innenseite der Arme, an der unmerklichen Grenze […].”
Tor Ulven, der sehr lange seine eigene Wohnung nicht mehr verlassen konnte, baut diese Erfahrung auch in mehrer Szenen ein. Das “ich” berichtet, dass er seit neun Jahren, sechs Monaten und vierundzwanzig Tagen das Haus nicht mehr verlassen hat.
“Nachdem ich über einen Zeitraum von neuneinhalb Jahren das Meer lediglich aus mehreren Kilometern Entfernung gesehen habe, habe ich das Gefühl heißen Strandsandes unter den Füßen mehr oder weniger vergessen, vergessen das Geräusch der Brandung, vergessen, wie ein Ufergürtel mit Seetang eigentlich aussieht, vergessen das Gefühl einer Ohrenqualle in der Hand, vergessen den Geruch des Meeres, die Empfindung des Meeres und den Anblick des Meeres.”
Insgesamt ist “Dunkelheit am Ende des Tunnels” ein ungewöhnlicher Text. Ein Text der verstört, der lange nachwirkt und in einer Sprache gehalten ist, die beim ersten Lesen keinen leichten Zugang bietet. Den Zugang muss man sich erarbeiten, erkämpfen. Das Buch ist sehr schmal und ich habe es passagenweise immer wieder gelesen, Abschnitte mehrmals hintereinander lesen müssen und bin immer wieder abgetaucht in diese dunkle Welt, in der Hoffnung beim erneuten Auftauchen mehr Hinweise und mehr Verständnis mitnehmen zu können.
“Dunkelheit am Ende des Tunnels” schließt mit sehr beeindruckenden Worten, vor allem wenn man diese vor der Hintergrund liest, dass der Autor sich nur wenige Monate später selbst das Leben genommen hat.
“[…] in Form eines Gleichnisses könnte man daher sagen, dass ich immer tot war und es immer sein werde, doch das ist und bleibt ein Gleichnis, denn wer nie in der Existenz angekommen ist, kann sie auch nicht verlassen; im Übrigen hat es kaum Zweck dies hier fortzusetzen, da eine Unendlichkeit von Worten die Sache in keinster Weise verdeutlichen würde, und ich mich außerdem niemandem mitteilen kann. Demnach ist es also leichter, ganz einfach zu sagen, dass ich nie existiert habe, nicht existiere und nie existieren werde.”
Ein faszinierendes, beeindruckendes Buch, das herausfällt aus der Masse an Neuerscheinungen die heutzutage erscheinen. Ein Buch, das Zeit und Arbeit erfordert, das in einer Sprache geschrieben ist, die Muße verlangt und Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Ich freue mich, dass der Droschl Verlag sich dazu entschieden hat, dieses interessante Buch ins Deutsche übersetzen zu lassen.
11 Comments
literaturen
November 14, 2012 at 4:18 pmScheint ja absolut Lektüre für die dunkle Jahreszeit zu sein. (;
buzzaldrinsblog
November 14, 2012 at 6:01 pmOh ja! 🙂 Vorausgesetzt, du hältst so viel Dunkelheit, so viel Trostlosigkeit gut aus … ansonsten wäre das Buch wohl eher als Kontrastprogramm zum Sommer geeignet. 😉
laura
November 14, 2012 at 6:13 pmDas klingt, als wäre ein Abschiedsbrief zum Buch geworden. Ein Abschied aus dem Leben. Sehr düster. Aber ich finde wie du sehr bemerkenswert, dass es auch solche Bücher gibt, unter all den Neuerscheinungen. Sowieso denke ich, dass Themen wie Suizid oder Tod noch viel zu sehr aus der Gesellschaft verdrängt werden…
buzzaldrinsblog
November 14, 2012 at 8:02 pm“Ein Abschied aus dem Leben.”
Was für eine schöne, passende Formulierung, liebe Laura. Beim Lesen musste ich immer an “Selbstmord” von Edouard Leve denken, das ich nur einige Monate zuvor gelesen habe. Tor Ulvens Text fühlt sich für mich aber ein Stück weit authentischer an, als “Selbstmord”. Ich habe die Trostlosigkeit und Verzweiflung beim Lesen förmlich gespürt.
Tod und Suizid sind in der Tat nicht sehr präsent, um so mehr “freue” ich mich über ein Buch zu diesem Thema. Mir haben viele Gedanken in dem Buch Angst gemacht, aber ich habe mir angewöhnt, mich mit etwas, das mich ängstigt lieber zu beschäftigen, als es zu verdrängen. Hm. Wenn dich Themen wie Tod und Sterben interessieren sollten, würde ich dir empfehlen mal bei Flatter Satz vorbeizuschauen, der sehr viel dazu gelesen und besprochen hat …
Viele Grüße
Mara
laura
November 14, 2012 at 8:38 pmLiebe Mara, es geht mir da wie dir, ich finde es auch manchmal beängstigend oder traurig machend, mich mit der Sterblichkeit und Vergänglichkeit zu beschäftigen, und mache es gerade deshalb, um der Angst eine Form von Verständnis beizufügen. Übrigens interessiere ich mich tatsächlich für solche Thematiken, ich werde sogar über Sterblichkeitsbewusstsein (in der Kunst) promovieren. Daher bin ich dir ganz doll dankbar für den Tipp, bei Flattersatz vorbeizuschauen, bisher habe ich das noch nicht ausführlich getan! Beste Grüße, Laura
buzzaldrinsblog
November 16, 2012 at 5:34 pmLiebe Laura,
ich freue mich zu lesen, dass ich mit dieser Haltung nicht alleine bin. Vor einigen Monaten habe ich auch ein sehr interessantes Sachbuch zum Thema Tod und Sterben von einem Palliativmediziner vorgestellt. Sehr empfehlenswert.
Dein Promotionsthema finde ich sehr sehr interessant und würde darüber gerne mehr erfahren auch wenn ich leider nicht viel Kunstverständnis besitze. Ich kann mir unter Sterblichkeitsbewusstsein nur leider nicht viel vorstellen.
Ich hoffe, du wirst bei Flattersatz fündig. 🙂
Viele Grüße
Mara
laura
November 16, 2012 at 8:38 pmUnter Sterblichkeitsbewusstsein verstehe ich in erster Linie, dass sich jeder Mensch seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst ist. Und es gibt völlig verschiedene Arten, mit dieser Gewissheit umzugehen. Ich werde das in der Kunst untersuchen. Übrigens hat die ARD zum Umgang mit dem Tod gerade Themenwoche:
http://www.ard.de/themenwoche_2012/ … Aber ich kann auch verstehen, wenn man sich nicht andauernd damit auseinander setzen mag.
atalante
November 15, 2012 at 9:22 pmEin norwegischer Hikikomori also, mit dem es kein gutes Ende genommen hat. Ich musste auch an Leve denken, den ich aus Deiner Rezension kenne, Mara. Vielleicht sollte der norwegische Staat doch die Alkoholsteuer senken, Tageslichtlampen importieren und jedem Norweger eine jährliche Reise nach Italien finanzieren. Oder auch nach Griechenland.
buzzaldrinsblog
November 16, 2012 at 5:31 pmLiebe atalante,
interessante Ideen, liebe atalante. Uns würde dann jedoch auch so großartige und experimentelle Literatur wie die von Tor Ulven verloren gehen. Da denke ich halt ganz eigennützig. 😉
Mein Maß an Selbstmordbüchern dieses Jahr nach Leve und Ulven aber erst einmal voll. Mehr ertrage ich nicht in diesen dunklen Tagen … die nächsten Selbstmordbücher lese ich erst nächstes Jahr wieder 🙂
Viele Grüße
mara
Klausbernd
December 10, 2012 at 1:40 pmLiebe Mara,
zuerst einmal möchte ich meine Freude über deine Rubrik “skandinavische Literatur” ausdrücken 🙂
Ich habe dieses Buch aus Interesse an seinem Stil gelesen, der Inhalt hat mich nicht derart interessiert. Ulven führt für mich im modernen Sinne konsequent fort, was James Joyce im “Ulysses” begann. Das Spiel mit der Sprache steht im Vordergrund. Das zeigt sich u.a. in den unpersönlichen Personen. Die stellenweise brutale Sprache, die Intensität schafft, ist in der skandinavischen Literatur gerade beliebt und feiert im nordischen Krimi ihre Hochzeit.
Danke für deine ausführliche Rezension.
Liebe Grüße von kleinen Dorf am großen Meer
Klausbernd
buzzaldrinsblog
December 11, 2012 at 5:57 pmLieber Klausbernd,
ich möchte bemühen, diese Rubrik in den kommenden Monaten noch mehr zu füllen. Ich hatte schon immer Spaß an skandinavischer Literatur, diese Leidenschaft fing mit der “Nordiska”-Reihe bei Piper an, die mich auf viele nordische Titel aufmerksam gemacht hat.
Mir erging es ähnlich wie dir: bei diesem Buch steht eindeutig die Sprache im Mittelpunkt, genauso wie das Spiel mit der Sprache. Handlung, Charaktere … das alles ist nebensächlich. Ich mochte die Sprache von Tor Ulven sehr gerne, sie hat mich unheimlich beeindruckt. Mit nordischen Krimis kenne ich mich leider nicht aus, bis auf die Bücher von Johan Theorin und Henning Mankell habe ich noch nichts gelesen. Gibt es besondere Empfehlungen? 🙂
Viele Grüße
Mara