Alain Claude Sulzer ist ein Schweizer Schriftsteller, der schon zahlreiche Erzählungen und Romane in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat. Für seine Texte hat er eine Vielzahl an Preisen erhalten, zuletzt den Médicus étranger 2008 und den Hermann-Hesse-Preis 2009. Vor einigen Monaten habe ich seinen Roman “Zur falschen Zeit” gelesen, der mir ausgesprochen gut gefallen hat. In diesem Jahr erschien von Alain Claude Sulzer der Roman “Aus den Fugen”, für den er auch für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde.
In “Aus den Fugen” erzählt Alain Claude Sulzer die Geschichte von einer Vielzahl an Figuren, die alle um die Hauptfigur Marek Olsberg kreisen. Olsberg ist ein Starpianist. Mit seiner Musik füllt er große Konzertsäle und reist um die ganze Welt. Seit seinem achten Lebensjahr ist Marek Olsberg auf einer unendlichen Reise durch die Welt und auf allen Kontinenten:
“Er war ein Reisender in eigener Sache. Er war die Sache, die auf das Reisen angewiesen war. Er und die Musik.”
Marek Olsberg lebt alleine, eine Partnerschaft wäre mit seinem hektischen Lebensstil beinahe unmöglich zu führen. Lange scheint er mit diesem Verzicht leben zu können, denn die Musik ist ihm wichtiger, sie steht über allem anderen.
Im Mittelpunkt von “Aus den Fugen” steht das Klavierkonzert, das Olsberg in der Berliner Philharmonie spielen soll. Das Konzert findet kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag statt, ein Ereignis, das für Olsberg eine Art Wendepunkt symbolisiert. Eine Art unsichtbare Linie, die er überschreiten muss und auf dessen anderer Seite er möglicherweise nicht mehr derselbe Mensch ist, wie davor.
“In wenigen Wochen würde er fünfzig werden, und er wollte diese Schwelle nicht überschreiten, ohne eine Entscheidung zu treffen. Aber er hatte keine Ahnung, wie diese aussehen sollte, auch nicht, wozu sie gut sein könnte. Es war nur so eine Idee. Sich zu entscheiden bedeutete möglicherweise auch weiterhin, nicht umzukehren.”
Dies ist der Ausgangspunkt des Romans und anhand diesem komponiert Alain Claude Sulzer sehr feinfühlig und geschickt das Schicksal mehrerer Personen, die alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Konzert in der Berliner Philharmonie verknüpft sind. Alain Claude Sulzer erzählt aus unterschiedlichen und wechselnden Perspektiven, umkreist dabei jedoch immer das Konzert in der Berliner Philharmonie, das Handlungsort des Romans ist. Bei den anderen Figuren handelt es sich um Besucher des Konzertes, um Olsbergs Sekretärin, um einen Kellner für den anschließenden Empfang.
Allen Figuren gemeinsam ist die Tatsache, dass ihr Leben in irgendeiner Form aus den Fugen geraten ist. Da ist Solveig, die von ihrem Mann verlassen wurde und verzweifelt darum bemüht ist, jemanden neuen zu finden. Ihre Freundin Esther, die sich Solveig gegenüber überlegen fühlt, in dem Glauben eine nach außen glückliche Ehe zu führen, die jedoch innen schon lange hohl und leer ist.
“Sie war nicht anders als jene, die sie verachtete. Aber sich selbst verachtete sie nicht. Das hatte nicht zuletzt damit etwas zu tun, daß sie mit Thomas eine gute Ehe führte. Eine gute Ehe war eine, um die die anderen einen beneideten.”
Alain Claude Sulzer erzählt von Johannes, der ein Jetset-Leben führt und seine Frau unterwegs mit Escortdamen betrügt. Sie glaubt ihm schon lange nicht mehr, dass er ihr treu ist, aber er ist zu sehr von sich überzeugt, um dies bemerken zu können. Sophie wurde der neue Mann ausgespannt, von ihrer eigenen Schwester. Sie trinkt zu viel und mittlerweile merkt man schon in ihrem Arbeitsumfeld, dass Sophie ein Problem hat. Lorenz hat sein Mathematikstudium abgebrochen, seine Karriere als Schachspieler ist einfach im Sande verlaufen, heutzutage jobbt er in Teilzeitarbeit – er ist eine Springerkraft. Seine Träume und Wünsche haben sich für ihn nicht erfüllen können, aber er weiß auch nicht, was er tun soll, um etwas an seiner Situation zu ändern.
Dies sind nur einige der Figuren, die Alain Claude Sulzer in seinem Roman beschreibt. Es sind diejenigen, deren Schicksal mir am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben. Manche Figuren sind mir beim Lesen jedoch auch fern geblieben, nicht alle konnten mich wirklich erreichen. Sulzers Figuren haben Ecken und Kanten, sie wirken spröde und wenig greifbar. Es gibt kaum eine Figur, mit der man wirklich mitfühlen kann, kaum eine Figur mit Identifikationspotential.
Allen Figuren gemeinsam ist zudem ein Moment des Schreckens während des Konzerts von Marek Olsberg: dieser verlässt mitten in der Hammerklaviersonate das Konzert. Er klappt den Klavierdeckel zu und manche Zuschauer glauben, ihn “Das war’s dann” murmeln gehört zu haben. Wie konnte das passieren? Warum hat sich Olsberg zu diesem radikalen Schritt entschieden, der kaum noch ein Zurück ermöglicht? Was hat ihn dazu getrieben auszubrechen aus seinem bisherigen Leben? Woher hat er den Mut zu diesem Schlussstrich gefunden? All dies sind Fragen, mit denen sich der Roman beschäftigt, dessen Handlung auf diesen Höhepunkt zusteuert, um sich danach mit dessen Ursachen zu beschäftigen.
Alain Claude Sulzer hat seinen Roman “Aus den Fugen” hervorragend und sehr beeindruckend komponiert. Der Titel ist nicht zufällig gewählt, der Roman selbst ist beinahe wie eine Fuge aufgebaut. Dazu kommt die symbolische Bedeutung, da auch das Leben der meisten Figuren aus den Fugen geraten ist. Eine Tatsache, die auch im Text immer wieder aufgegriffen wird:
“Sein Leben war aus den Fugen geraten. Er war allein. Er war frei. Niemand folgte ihm. Ähnlich musste es einem Selbstmörder ergehen, der ohne Rücksicht auf das, was die anderen denken mochten, auf sein Ziel zuging, ohne sich umzublicken. Aus den Fugen, um sich in alle Richtungen zu verzweigen.”
“Aus den Fugen” überzeugt mich vor allem durch seine Komposition, aber auch sprachlich ist der Roman beeindruckend. Alain Claude Sulzer schreibt in einem nüchternen und unaufgeregten Ton und gibt in kurzen Ausschnitten Einblicke in die Leben von einer Vielzahl an Menschen, die man einen Stück des Weges begleitet, bevor sie wieder verschwinden, ohne das man erfährt, wie sich das Leben für sie weiterentwickelt.
Ein schöner Roman, den ich sehr gerne gelesen habe und den ich gerne weiterempfehlen möchte. Ich freue mich bereits jetzt darauf mehr von Alain Claude Sulzer zu lesen.
11 Comments
durchleser
November 29, 2012 at 3:11 pm“Aus den Fugen” ist ein ganz besonderes Buch, das es wahrlich zu geniessen gilt.
Mehr zu diesem “musikalischen” Roman kann man gerne auch hier nachlesen:
http://durchleser.wordpress.com/2012/09/12/durchgelesen-aus-den-fugen-v-alain-claude-sulzer/
buzzaldrinsblog
November 29, 2012 at 3:19 pmHerzlichen Dank für den Besuch und den Kommentar bei mir und natürlich auch für den großartigen Hinweis auf deine Besprechung, die ich sehr gerne gelesen habe. 🙂 Ich freue mich, dass dir das Buch auch gefallen hat. Es ist bereits mein zweites von Alain Claude Sulzer und ich bin sehr begeistert.
literaturen
November 29, 2012 at 3:26 pmMir hat er auch gefallen. (;
Mich hatte nur gestört – und das habe ich ja auch in meiner Rezension dazu geschrieben – dass alle Leben der Protagonisten hauptsächlich aufgrund sexueller Dinge aus den Fugen geraten sind. Das war mir irgendwie ein bisschen einseitig, es gibt schließlich soviele Dinge, weshalb ein Leben aus den Fugen geraten kann.
War jedenfalls auch schön, deine Meinung dazu zu lesen.
buzzaldrinsblog
November 29, 2012 at 3:37 pmJa, ich erinnere mich, dass ich damals deine Besprechung gelesen habe – jetzt habe ich gerade noch einmal einen Blick hineingeworfen.
Den Punkt, der dich gestört hat, kann ich nachvollziehen, auch wenn mir diese Tatsache beim Lesen selbst gar nicht so massiv aufgefallen ist. Aber ist stimmt in der Tat, dass bei vielen Figuren sexuelle Probleme eine Rolle spielen. Wobei Lorenz, den ich sehr interessant fand, nicht in dieses Schema passt, genauso wie Astrid und natürlich Olsberg selbst.
Ich fand es auch noch einmal interessant, einen Blick in deine Besprechung zu werfen. 🙂
literaturen
November 29, 2012 at 3:43 pmBeim Lesen selbst ist es mir auch nicht so massiv aufgefallen, aber als ich hinterher für meine Rezension darüber nachdachte, fand ich es schon auffällig. Da fand ich Astrid noch am besten mit ihrer Migräne. ^-^
buzzaldrinsblog
November 29, 2012 at 3:47 pmIch finde es interessant, dass du schreibst, dass dir dies erst aufgefallen ist, als du über deine Rezension nachgedacht hast. Mir geht es häufig ähnlich: erst beim Schreiben meiner Besprechung gelingt es mir herauszufinden, was ich über das Buch denke. Beim Lesen fühle ich meistens nur, wenn überhaupt. Vieles wird mir dann erst anschließend beim Schreiben meiner Besprechung klar.
Astrid hat mir auch gefallen. Auch Verena Bentz, die Lorenz einfach gehen lässt. Ihre eigenen Besitztümer sind ihr egal. Irgendwie war das für mein Empfinden doch ein trauriger Moment beim Lesen.
laura
November 29, 2012 at 7:59 pmDu machst mich mal wieder neugierig, liebe Mara. Allerdings klingt es für mich in deiner Besprechung ein ganz bißchen so, als wäre der Roman zu “aufgesetzt”, zu durchkomponiert, zu offensichtlich. Täuscht dieser Eindruck? LG Laura
buzzaldrinsblog
November 30, 2012 at 7:21 pmLiebe Laura,
der Roman ist in der Tat sehr bewusst komponiert, ich bin mir aber nicht sicher, ob ich dies unbedingt negativ bewerten würde. Stellenweise wirkt die Geschichte beinahe konstruiert und die Figuren dadurch sehr schematisch und unerreichbar, aber ich glaube, dass bei mir nach der Lektüre ein positives Gefühl überwiegt.
Bücherphilosophin
December 1, 2012 at 3:42 pm“Aus den Fugen” scheint mir in der Komplexität die Du beschreibst fast schon, eventuell sogar ganz konkret, ein Kontrast zu “Zur falschen Zeit” zu sein, das so einfach und verhältnismäßig linear ist. Bei einem Buch mit so vielen Figuren, so häufigen Perspektivenwechseln, muss man sicher genau aufpassen, um nicht den Faden zu verlieren. Da braucht es einen begabten Schreiber, der es versteht mit den verschiedenen Erzählsträngen umzugehen, ohne sich darin zu verheddern.
Allerdings hat mir Deine Beschreibung der Charaktere als spröde und wenig greifbar ein bisschen die Vorfreude auf den Roman genommen, der mich ansonsten sehr interessiert.
LG, Katarina 🙂
buzzaldrinsblog
December 3, 2012 at 1:05 pmLiebe Katarina,
herzlichen Dank für deine interessanten Gedanken und Worte zu “Aus den Fugen”. Mich hat es an “Zur falschen Zeit” erinnert, weil es für mein Empfinden mit einer ähnlichen Gelassenheit erzählt wird. Auch wenn “Zur falschen Zeit” sicherlich nicht ganz so durchkomponiert ist, wie “Aus den Fugen”.
Alain Claude Sulzer gelingt es in “Aus den Fugen” in der Tat in einer sehr beeindruckenden Manier, alle Fäden in der Hand zu behalten, trotz der Vielzahl an Personen. Das hat mich sehr beeindruckt und erfordert sicherlich sehr viel Geschick.
Es tut mir leid, dass ich es dann doch geschafft habe, dir die Vorfreude auf das Buch zu nehmen, das war nicht meine Absicht. Ich kann dir nur empfehlen, dennoch einen Blick hineinzuwerfen, da meine Einschätzung der Charaktere natürlich eine sehr persönliche ist.
Viele Grüße
Mara
Mein Leseabenteuer mit der “Büchergilde Gutenberg” « Familienbande
July 9, 2013 at 7:20 pm[…] das Zufallsprinzip, in der Hoffnung geistig beweglich zu bleiben. Nachdem ich im letzten Quartal ” Aus den Fugen” erhalten habe, kam heute mit der Post eine wunderschöne Ausgabe von Turgenjwews “Väter und […]