Der amerikanische Autor John Cheever wurde in Massachusetts geboren und starb 1982 im Alter von achtzig Jahren. Er gilt heutzutage als einer der wichtigsten amerikanischen Autoren und wurde mit einer Vielzahl an Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Pulitzer Preis, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award, der Howells Medal for Fiction und der National Medal for Literature. Berühmt wurde John Cheever vor allem durch seine Kurzgeschichten. “Willkommen in Falconer” erschien bereits in den siebziger Jahren zum ersten Mal auf Deutsch, wurde in diesem Jahr vom DuMont Buchverlag jedoch in einer neuen Übersetzung von Thomas Gunkel noch einmal veröffentlicht und durch ein Nachwort von Peter Henning ergänzt.
“Das Hauptportal von Falconer – der einzige Eingang für Häftlinge, Besucher und Personal – war von einem Wappen gekrönt, auf dem Allegorien der Freiheit und der Gerechtigkeit die souveräne Staatsgewalt einrahmten.”
Mit diesem ersten Satz führt John Cheever den Leser in seinen Roman “Willkommen in Falconer” ein und es wird von Beginn an deutlich, dass hinter dem Hauptportal von Falconer eine andere Welt liegt, die vom Rest der Gesellschaft abgetrennt ist. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Ezekiel “Zeke” Farragut, Mitte vierzig und Literaturprofessor, der in das Gefängnis Falconer kommt, da er seinen Bruder ermordet hat. Im Gefängnisjargon bedeutet dies, dass Farraguts Existenz auf wenige Ziffern reduziert wird: “Brudermord, bis zu zehn Jahre, Nr. 734-508-32”. Untergebracht wird Farragut in Block F:
“F steht für Ficker, Freaks, Flaschen, Fotzen, Frischfleisch, Fettärsche wie mich, Phantome, Fliegenhirne, Fanatiker, Fuzzis, falsche Fuffziger und Furzer.”
“Willkommen in Falconer” ist ein Gefängnisroman, doch bei John Cheever steht nicht unbedingt eine realistische Beschreibung des Gefängnisalltags im Mittelpunkt. Falconer ist ein Produkt der Phantasie von John Cheever und bei seinen Beschreibungen wird stellenweise auch offensichtlich, dass sie überzogen und unrealistisch anmuten. Ezekiel Farragut, der Literaturprofessor, der Konfuzius zitiert, ist kein typischer Strafgefangener. Viel wichtiger ist in diesem Roman die symbolische Bedeutung der Gefangenschaft, denn Ezekiel Farragut ist auf mehrere Arten gefangen genommen: er befindet sich in einer unglücklichen und bürgerlichen Ehe mit seiner Frau Marcia, die für ihn einer Gefangenschaft gleichkommt und er ist drogenabhängig, ein Gefängnis, aus dem er sich schon lange nicht mehr selbst befreien kann. Selbst im Gefängnis ist er auf seine tägliche Ration Methadon angewiesen.
“‘Gut. Ich hab nämlich keine Lust, mit einem Homosexuellen verheiratet zu sein, wo ich doch schon einen drogensüchtigen Mörder zum Mann habe.’
‘Ich habe meinen Bruder nicht umgebracht.’
‘Du hast ihn mit einem Schürhaken niedergeschlagen. Er ist gestorben.’
‘Ich habe ihn mit einem Schürhaken geschlagen. Er war betrunken. Er ist mit dem Kopf an den Kamin gestoßen.'”
Die Erzählung von John Cheever ist durch Rückblicke auf die Vergangenheit von Farragut geprägt, durch die schnell deutlich wird, dass Farragut sein ganzes Leben in unterschiedlichen Kontexten gefangen war und festgehalten wurde. Ein Zustand, der in Falconer lediglich fortgeführt werden soll. Doch dann kommt es anders, denn Ezekiel Farragut beginnt im Gefängnis, über sein Leben nachzudenken, über seine Bedürfnisse und Wünsche. Irgendwann bekommt man als Leser das Gefühl, Farragut befindet sich in einer nie geahnten Freiheit und nicht in Gefangenschaft.
“Farragut dachte, dass es zu dem Unfall, der als Mord bezeichnet wurde, gekommen war, weil er seine Familie, wenn er sich an sie erinnerte oder von ihr träumte, immer von hinten sah. Jedes Mal stapften sie empört aus Konzertsälen, Theatern, Sportstadien oder Restaurants, und er, als der Jüngste, ging stets am Schluss.”
In “Willkommen in Falconer” steht das Leben von Ezekiel Farragut im Gefängnis im Mittelpunkt, aber auch die Vergangenheit und Ereignisse, die dazu geführt haben, dass aus einem Literaturprofessor ein Mörder werden konnte. Zentrale Themen sind die Drogensucht Farraguts, der trotz zahlreicher Entzüge es nie geschafft hat, clean zu bleiben. John Cheever findet drastische und brutale Worte für diese Sucht.
“Am liebsten hätte er geweint und geschrien. Er befand sich unter lebenden Toten. Es gab keine Worte, keine lebendigen Worte, die seinem Kummer, diesem inneren Riss gerecht wurden.”
“Ein Leben ohne Drogen schien aus realer und geistiger Sicht ein weit entfernter und jämmerlicher Punkt in seiner Vergangenheit zu sein – mit übereinandergeschobenen Linsen von Ferngläsern und Teleskopen gewaltig vergrößert, um eine unbedeutende Gestalt an einem lange zurückliegenden Sommertag zu erkennen.”
Der Begriff “innerer Riss” beschreibt sehr treffend etwas, das Farraguts ganzes Leben durchzieht. Seine Tätigkeit als Professor und der Anspruch, den er selber an sich hat, wird mit seiner ausweglosen Drogensucht konterkariert. Der unglücklichen Ehe mit Marica stehen erste homosexuelle Erfahrungen im Gefängnis gegenüber. In einem erhellenden Nachwort von Peter Henning wird deutlich, dass dies Aspekte sind, die auch im Leben des Schriftstellers John Cheever eine Rolle gespielt haben. John Cheever scheint mit dem Betreten von Falconer, mit dem ersten Satz seines Romans, seine bürgerliche Welt, seine Verpflichtungen und Zwänge hinter sich gelassen zu haben, um Ezekiel Farragut alles Verbotene in dieser Welt der Phantasie ausleben zu lassen.
Trotz des beschriebenen Inhalts ist die Erzählung von John Cheever nicht durchgehend von einer Schwere getragen, sondern ganz im Gegenteil von einer bitterbösen Ironie geprägt. Dafür steht beispielsweise ein fortgesetzter Dialog von Farragut mit seinem Geschlechtsteil, die Beschreibungen der anderen Gefangenen oder die Tatsache, dass das Gefängnis von räudigen Katzen überflutet wird.
Ich habe “Willkommen in Falconer” mit viel Interesse gelesen, auch wenn die Bezeichnung Roman irreführend ist, da die Erzählung eher wie aus vielen kleinen Kurzgeschichten zusammengesetzt wirkt. Die Rückblicke in die Vergangenheit, die Erzählungen aus dem Leben der anderen Gefangenen, der Gefängnisalltag … stellenweise fehlt zwischen diesen einzelnen Puzzleteilchen leider die Verbindung, der Zusammenhang. Dennoch hat mich “Willkommen in Falconer” überzeugen können, auch wenn mir andere Romane von John Cheever besser gefallen haben. Sprachlich ist der Roman stellenweise brillant und hat einen starken Sog auf mich ausgeübt. Aber auch die symbolische Bedeutung des Romans hat mich beim Lesen fasziniert, auf dessen Auflösung ich jedoch leider nicht genauer eingehen kann, ohne zu viel zu verraten.
“Willkommen in Falconer” ist ein unheimlich dichtes und intensives Leseerlebnis, das mich erschöpft zurückgelassen hat. Ein Roman, den ich Liebhabern von Richard Yates nur empfehlen kann.
6 Comments
dieseitenspinnerinnen
December 28, 2012 at 4:59 pmDas klingt auch sehr erschöpfend, liebe Mara, gleichzeitig sehr interessant. Eigentlich wollte ich ja erstmal alle Bücher, die hier noch liegen, weglesen, bevor ich mir neue dazuhole… Hm… Herzliche Grüße von Mila
buzzaldrinsblog
December 29, 2012 at 6:07 pmLiebe Mila,
freut mich sehr, dass ich dein Interesse wecken konnte. Für mich ist “Willkommen in Falconer” das dritte Buch von John Cheever, das ich gelesen habe und es hat mich erschöpft, aber auch begeistert zurückgelassen. Interessanterweise ist John Cheever ja viel mehr durch seine Kurzgeschichten berühmt geworden, als für seine Romane, die nicht viel positive Resonanz erzeugt habe. “Die Lichter von Bullet Park” kann ich dir auch empfehlen, das habe ich gerne gelesen.
Liebe Grüße und einen guten Rutsch ins neue Jahr. 🙂
Susanne Haun
December 29, 2012 at 8:13 amDieses Buch hört sich sehr interessant an Mara.
Da ich in nächster Zeit nur dazu kommen werde, Hörbücher zu hören, habe ich festgestellt, dass es einzig “Die Geschichte der Wapshots” in Deutsch von John Cheever zu kaufen gibt.
Kannst du es empfehlen?
Ich könnte dein vorgestelltes Buch als englisch sprachiges Hörbuch erhalten, bin mir aber nicht sicher, ob ich genug englisch für ein 6 stündiges Buch verstehe.
Einen guten Rutsch wünscht dir Susanne
buzzaldrinsblog
December 29, 2012 at 6:14 pmIch habe “Die Geschichte der Wapshots” vor einigen Jahren gelesen, habe es aber sehr positiv in Erinnerung und würde es dir auf jeden Fall empfehlen. 🙂 Schade, dass es von Cheever nur ein einziges Hörbuch gibt. Besonders herausragend sollen ja auch seine Kurzgeschichten sein – Kurzgeschichten erscheinen aber wahrscheinlich eher selten als Hörbuch könnte ich mir vorstellen.
Sechs Stunden und dann auch noch auf Englisch hört sich für mich nicht mehr unbedingt nach einem “Hörvergnügen” an. Dazu kommt, dass das Buch auch in einer sehr drastischen Sprache verfasst ist – ich weiß nicht, wie leicht dies in Englisch zu verstehen sein mag.
Auch ich wünsche dir einen guten Rutsch ins nächste Jahr, Mara.
Timo Luks
December 31, 2012 at 10:37 amIch habe unabhängig von Deiner Rezension um Weihnachten herum “Willkommen in Falconer” zu lesen angefangen, hab es dann aber erst einmal wieder weggelegt. Irgendwie hab ich zu dieser Gefangenschaftsthematik und -symbolik keinen so richtigen Draht bekommen. Das Setting wirkt auf mich irgendwie ‘antiquiert’.
Sprachlich ist es aber ein tolles Buch. Cheevers Stil finde ich nach wie vor beeindruckend – perfekt gelungen in “Die Lichter von Bullet Park”.
buzzaldrinsblog
December 31, 2012 at 2:28 pmLieber Timo,
dem Begriff “antiquiert” kann ich mich anschließen, vieles an der Beschreibung ist in der Tat antiquiert und wirkt nicht unbedingt realistisch, an vielen Stellen sogar eindeutig unrealistisch. Mir hat bei der Lektüre geholfen, die Gefangenschaftsthematik eher als etwas Symbolisches gelesen, als als eine realistische Abbildung eines Gefängsnisalltags. Sehr erhellend diesbezüglich war auch das Nachwort von Peter Henning.
“Die Lichter von Bullet Park” haben mir aber auch besser gefallen. Für das kommende Jahr habe ich mir vorgenommen, mich an Cheevers Kurzgeschichten heranzuwagen, die ich bisher leider noch gar nicht kenne.
Ganz liebe Grüße und einen guten Rutsch
Mara