Die Schriftstellerin Wiebke Lorenz wurde 1972 in Düsseldorf geboren und studierte Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft. Heutzutage lebt sie in Hamburg und ist journalistisch tätig, schreibt aber auch Drehbücher für TV-Filme. Ihre bisherigen Romane “Liebe, Lügen, Leitartikel”, “Was? Wäre? Wenn?” und “Allerliebste Schwester” waren sowohl bei der Kritik, als auch beim Publikum erfolgreich.
“Weißt du, wozu du fähig bist? Ahnst du es auch nur ansatzweise?”
Im Mittelpunkt von “Alles muss versteckt sein” steht die junge Kindergärtnerin Marie Neumann, die für den Mord an ihrem Lebensgefährten Patrick in der Psychiatrie sitzt. In Haus 20 auf Station 5. Marie leidet unter Zwangsgedanken, eine Form der psychischen Erkrankung, die im Roman eine zentrale Rolle spielt. Marie wird von düsteren Visionen und Bildern heimgesucht und diese Visionen richten sich immer häufiger gegen Dinge, die sie eigentlich liebt. Wenn sie eine Mutter mit einem Baby auf der Straße sieht, stellt sie sich vor, das Kind zu töten, fallen zu lassen, qualvoll sterben zu sehen. Diese Visionen richten sich auch gegen ihren Lebensgefährten, den Schriftsteller, Patrick Gerlach. Marie sucht sich Hilfe in einem Internetforum, findet Unterstützung unter anderen Zwangserkrankten und der Satz “Denken ist nicht tun!” ihrer Freundin Elli wird zu ihrem neuen Lebensmotto.
“[…] draußen und unter Menschen ereigneten sich in meinem Kopf nur die furchtbarsten Dinge, ich wütete und mordete, ohne dass ein Außenstehender etwas davon ahnte. Ich war eine Täterin ohne Tat. Noch. Und jede Minute, jede Sekunde hatte ich Panik davor, dass es nicht so bleiben würde. Dass ich irgendwann die Kontrolle über mich verlieren und irgendetwas Schreckliches tun würde.”
Doch dann werden Maries schlimmste Befürchtungen Wirklichkeit: aus dem Denken ist schließlich doch ein Tun geworden. Marie sitzt in der Psychiatrie, nachdem sie Patrick die Kehle durchgeschnitten hat und ihn anschließend mit siebenundzwanzig Messerstichen niedergemetzelt hat. Sie ist am Morgen nach der Tat neben ihm – mit dem blutigen Messer in der Hand – aufgewacht.
“Am schlimmsten ist die Ungewissheit. Dass sie nicht sagen kann, ob sie es wirklich getan hat oder nicht, nicht mit vollkommener, nicht mit endgültiger Sicherheit. Denn da ist keine Erinnerung, nicht das kleinste Überbleibsel in ihrem Gedächtnis von dieser Nacht, in der es passiert ist. Nur Beweise. Erdrückende Beweise und Indizien, die allesamt dafür sprachen, dass sie es gewesen ist, dass da nicht der geringste Zweifel an ihrer Schuld besteht.”
Das einzige, was Marie weiß, ist, dass sie ein Monster ist und dass ihre furchtbaren Visionen scheinbar Wirklichkeit geworden sind. Lange verweigert sich Marie der Therapie in der Psychiatrie und knüpft nur langsam Vertrauen zu Dr. Jan Falkenhagen, dem Oberarzt auf der Station. Die Ungewissheit, die Schuldgefühle, die Erinnerungen und die Trauer um den Verlust ihres Lebensgefährten nagen Tag und Nacht an Marie, doch mit der Zeit gelingt es ihr mit der Hilfe von Dr. Falkenhagen Licht in die letzten dunklen Stunden ihres Lebens in Freiheit zu bringen. Marie muss feststellen, dass die Wirklichkeit sehr viel schlimmer ist als alles, was sie sich jemals hätte vorstellen können …
Wiebke Lorenz erzählt in “Alles muss versteckt sein” eine Geschichte, die sich aus mehreren Ebenen zusammensetzt: zum einen steht der bedrückende Alltag in der Psychiatrie im Mittelpunkt und die anderen Patienten, zu denen Marie Kontakt knüpft. In den Gespräche mit Dr. Falkenhagen wirft Marie einen Blick zurück in ihre Vergangenheit, seziert ihr Leben und ihre Beziehungen bis zu dem Moment, an den sie keine Erinnerungen mehr hat. Die Tatnacht. Ergänzt wird die Erzählung darüberhinaus mit Tagebucheinträgen und E-Mails von Marie.
Der Autorin gelingt es auf ihre ganz eigene Art und Weise eine schier unerträgliche Spannung aufzubauen, die zwischendurch fast zum Haare raufen ist. Stellenweise fühlte ich mich schon fast gezwungen, immer weiter zu lesen, um endlich die Wahrheit herauszufinden. Wiebke Lorenz erzählt mit einer ungeheuren Ruhe und Gelassenheit und generiert gerade dadurch eine Spannung die zwischendurch förmlich spürbar ist. Die Auflösung am Ende des Romans ist ein filmreifer Showdown und beinahe schon eine Überraschung, auf die ich nie gekommen wäre, die mich aber dennoch überzeugen konnte.
Im Mittelpunkt des Romans stehen die Zwangsgedanken von Marie, eine psychische Erkrankung, von der ich zuvor noch nicht viel gehört hatte. In einem kleinen Rahmen leiden viele Menschen unter Zwangsgedanken, wie beispielsweise dem magischen Denken. Auch auf den Aberglauben trifft man immer wieder. Problematisch wird es, wenn der Gedanke an den Zwang überhand nimmt, wenn er alles bestimmend wird und die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, ein normales Leben zu führen. Wiebke Lorenz hat “Alles muss versteckt sein” ein sehr schön erklärendes Nachwort angefügt, genauso wie eine Literaturliste zu dieser Thematik.
“Alles muss versteckt sein” ist mein erstes Buch von Wiebke Lorenz und ein spannender Ausflug in ein mir bisher noch unbekannteres Genre gewesen. Für mein Empfinden ist “Alles muss versteckt sein” jedoch kein typischer Thriller, denn die Spannung des Buches lebt vor allem durch die Bilder im eigenen Kopf, die beim Lesen erzeugt werden und durch die beklemmende Atmosphäre, die durch Wiebke Lorenz meisterhaft heraufbeschworen wird. Insgesamt habe ich diese Lektüre als eine schöne und spannende Abwechslung von meinem sonstigen Lesealltag empfunden.
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