Die Schriftstellerin Arezu Weitholz wurde 1968 in Niedersachsen geboren. Heutzutage lebt sie in Berlin und arbeitet als Journalistin und Illustratorin. Sie hat für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, 2raumwohnung und Madsen als Textdichterin gearbeitet. “Wenn die Nacht am stillsten ist” ist ihr Romandebüt, zuvor hatte sie bereits zwei Lyrikbände veröffentlicht.
“Am Ende geht es um den Moment. Wie das Mondlicht durch die Ritze der Jalousie auf den Parkettfußboden fällt. Wie das Auto unten vorbeifährt. Wie still es wieder wird. Du atmest. Ich sitze an deinem Bett. Ich trage die Farbe, die dir an mir so gut gefällt.”
Arezu Weitholz erzählt ihr Romandebüt “Wenn die Nacht am stillsten ist” aus der Perspektive der jungen Frau Anna. Es geht um den Moment, den Augenblick, in dem Anna am Bett des Menschen sitzt, mit dem sie seit acht Monaten zusammen ist. Ludwig ist nicht nur ihr Partner, sondern auch ihr Arbeitskollege. Ihre Beziehung haben sie geheimgehalten, niemand sollte etwas merken. Doch dann kommt es zu dem Moment, der alles verändern sollte: Ludwig schmeißt Anna einfach raus. Raus aus dem gemeinsamen Leben, aus ihrer Beziehung. Anna soll gehen, Ludwigs Wohnung verlassen. Doch sie kehrt zurück, findet ihn leblos vor, nach dem Versuch sich selbst das Leben zu nehmen. Anna setzt sich zu ihm und erzählt. Erzählt von dem Leben, das sie bis jetzt immer geheimgehalten hatte vor Ludwig: von den Dämonen, den Brüchen, ihrem Scheitern. Von ihrer demenzkranken Mutter, die sie in einem Altersheim untergebracht hat und von ihrem Leben in Südafrika. All das hatte zuvor nicht hinein gepasst in das Leben mit Ludwig. In Ludwigs Welt. Ludwig, der sagt: “Ich bekomme Angst, wenn einer was fühlt […].”
“Es waren nie die Orte, die mich nicht wollten. Nie die Leute, die mich ablehnten. Ich konnte mich nicht haben, ich suchte eine Antwort, die es nicht gibt. Deswegen habe ich dir nie von mir erzählt. Du hasst Geschichten, die keinen Sinn ergeben.”
Die Beziehung zwischen Ludwig und Anna ist ungewöhnlich: Ludwig ist verschroben, verkopft, verloren in einer theoretischen Welt der Bücher. Es ist für ihn nicht möglich in der Welt, in der er lebt, Gefühle zuzulassen. Seine Wohnung ist kahl, kalt, nüchtern und rein und so ist auch sein Leben. Ausgerichtet darauf, Erfolg zu haben. Ludwig, von dem alle dachten, er würde irgendwann mal Professor werden, arbeitet als Journalist für ein Musikmagazin.
Anna ist anders als Ludwig:
“Ich erinnere mich an eine Nacht im Herbst, als du mich gefragt hast, ob ich für das ganz Große sterben würde. Ich lief neben dir her, wir spazierten an der Elbe entlang, du wie immer mit verschränkten Armen, ich wie immer schweigend neben dir. Ich habe eine Antwort. Nein, das würde ich nicht. Ich würde dafür leben.”
Anna ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Sie war die erste in ihrer Familie, die zur Oberschule gehen durfte. Bei ihnen zu Hause gab es “kein Urlaub, keine Etagenheizung” und auch keine Bild, keinen Spiegel. Anna fühlt sich nirgendwo dazugehörig, immer auf dem Sprung, ohne das Gefühl, jemals irgendwo wirklich ankommen zu können. Auch aus dem Grund, dass es zu vieles gibt, was sie in der Vergangenheit hält.
“Weißt du, wie das ist? Wenn man mit den schicken Leuten in New York in den Szenerestaurants sitzt und da ist, aber auch von dort wieder wegwill, weil man da genauso wenig hingehört wie in einen Vorlesungssaal […] oder in einen Londoner Privatclub oder auf laute Rockkonzerte, wo man vielleicht sein will, aber wieder wegmuss, ins Krankenhaus, weil Oma da liegt, oder in die Irrenanstalt, weil Mama dort ist, und dann ins Dorf, weil Opa wartet und weint und nicht weiterweiß. Und dann muss man arbeiten, aber Mama wird entlassen, und man fährt wieder in ein Krankenhaus und kümmert sich, und es geht eine Weile gut, und dann klingelt das Telefon, mitten in einer Konferenz, und man lässt wieder alles stehen und liegen, weil sie schon wieder einen Zusammenbruch hatte, und zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal fährt man dann dahin, dieses Mal in ein anderes Landeskrankenhaus, und man raucht zu viel und fährt zu schnell, und dann redet man mit den Ärzten und sitzt an einem Bett, und immer sind es Schlaufen, diese scheißgrauen Schlaufen in dem dunklen Mittelgrau, mit denen sie Patienten fixieren.”
Mich hat “Wenn die Nacht am stillsten ist” begeistert und beinahe atemlos zurückgelassen. Zwischendurch fiel es mir schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Die Geschichte ist schnell erzählt und einfach konstruiert und doch hat sie auf mich einen großen Sog ausgeübt, was sicherlich an der starken und eingängigen Erzählstimme von Anna lieg. Arezu Weitholz beschreibt die Welt der Medien, die Welt des schnelllebigen Journalismus. In ihrem Roman liest sich diese Welt wie eine Scheinwelt, die durchdrungen ist von dem Wunsch, Erfolg zu haben, erfolgreich zu sein, sich einen Namen zu machen. Koste es, was es wolle. Das ist die Welt, wie Ludwig sie tagtäglich lebt, leben muss. Anna ist anders, sie fällt raus und ist gleichzeitig gezwungenermaßen ein Teil dieser Welt.
“Wenn die Nacht am stillsten ist” ist ein großartiger Roman, der mich begeistert und berührt hat. Annas Stimme ist erfrischend ungewöhnlich und sie wird mir wohl noch lange im Gedächtnis bleiben und in mir nachhallen. “Wenn die Nacht am stillsten ist” erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe, zeichnet aber gleichzeitig auch ein kritisches Portrait unserer heutigen Mediengesellschaft. Beides ist der Autorin außergewöhnlich gut gelungen.
Das Lesen von “Wenn die Nacht am stillsten ist” ist wie das Hören eines Musikstücks. Um es – leicht abgewandelt – mit den Worten von Arezu Weitholz zu beschreiben, handelt es sich bei diesem Roman nicht um ein Technolied, sondern um gebrochene Akkorde. Die Musik spielt in diesem Roman eine zentrale Rolle, was sich nicht allein auf die Erwähnung von Musikern beschränkt, sondern auch auf die Stimme des Buches bezieht: Anna erzählt in einem ganz besonderen Rhythmus, spricht in einer Stimme, die ganz unterschiedliche Facetten hat. Als würde man beim Lesen ein Mixtape – voll mit großartigen Liedern – hören.
15 Comments
literaturen
January 8, 2013 at 7:54 pmDas ging mir ganz genauso! Ich war tief beeindruckt von Stimmung und Sprache dieses doch so schmalen Büchleins.
buzzaldrinsblog
January 9, 2013 at 12:49 pmFreut mich, dass dir der Roman ähnlich gut gefallen hat. 🙂 Ich hatte im Vorfeld geteilte Meinungen gehört, war dann aber doch – bereits nach wenigen Seiten – absolut überzeugt. Ja, Sprache und Stimmung sind bei diesem Roman wirklich ausgesprochen gut gelungen.
caterina
January 8, 2013 at 7:54 pmIch freue mich schon so sehr auf die Lektüre! Die wunderbare Klappentexterin hat mir nun dieses Büchlein vermacht, und ich bin ihr sehr, sehr dankbar dafür. Und dir für diese schöne Rezension, die mich noch kribbeliger macht ;). Liebe Grüße
buzzaldrinsblog
January 9, 2013 at 12:48 pmLiebe Caterina,
oh, hast du ein Glück, dieses Buch in den Händen und noch vor dir zu haben. Ich wünsche dir ganz viel Vergnügen bei der Lektüre und freue mich schon auf deine Besprechung und darauf zu erfahren, wie es dir gefallen wird.
Susanne Haun
January 9, 2013 at 7:02 amLiebe Mara, das hört sich wieder sehr eindruckvoll an.
Ich mag es sehr, dass du Zitate in deinem Text integrierst, denn so bekommt der Leser auch einen Eindruck vom Sti der Autoren.
Einen schönen Tag wünscht dir Susanne
buzzaldrinsblog
January 9, 2013 at 12:38 pmLiebe Susanne,
in professionellen Literaturkritiken im Feuilleton findet man – meines Wissens – nicht häufig viele Zitate, ich habe mich jedoch schon früh entschieden, auch Einblicke in das Buch und dessen Sprache geben zu wollen. Ich freue mich, dass du das magst! 🙂
Mariki
January 9, 2013 at 9:49 amIch hab das Buch auch gern gelesen, aber so glücklich wie dich hat es mich nicht gemacht: http://buecherwurmloch.wordpress.com/2012/10/12/arezu-weitholz-wenn-die-nacht-am-stillsten-ist/
buzzaldrinsblog
January 9, 2013 at 12:24 pmLiebe Mariki,
Geschmäcker sind manchmal einfach verschieden. Mich hat die literarische Stimme von Anna direkt ins Herz getroffen. Das Buch habe ich gerne gelesen, auch wenn ich deine Kritikpunkte nachvollziehen kann. Ich hoffe sehr, dass von der Autorin in naher Zukunft weitere Bücher veröffentlicht werden. 🙂
Mariki
January 10, 2013 at 9:25 amDavon können wir sicher ausgehen! Ich werd sie allerdings nicht lesen 😉
buzzaldrinsblog
January 10, 2013 at 4:59 pmIch kann dich ja dann immer auf das Hinweisen, was dir möglicherweise entgeht. 😀
Mariki
January 14, 2013 at 9:18 amEin guter Plan! 😀
pars
January 12, 2013 at 12:08 amdanke für diesen wunderbaren tipp.
buzzaldrinsblog
January 13, 2013 at 7:40 pmGern geschehen. 🙂
martina
May 8, 2015 at 9:48 amIch habe dieses Buch zwar selber noch nicht gelesen, aber werde dies auf jeden fall in der nächsten Zeit tun. Danke für deine super Rezension!
Mara
May 8, 2015 at 1:54 pmLiebe Martina,
danke für deinen Besuch und deinen Kommentar, darüber freue ich mich sehr. Bei der Lektüre des Romans wünsche ich dir ganz viel Freude, vielleicht magst du ja anschließend berichten, wie dir das Buch gefallen hat.
Liebe Grüße
Mara