Open City – Teju Cole

Der Schriftsteller Teju Cole wurde 1975 geboren und wuchs in Nigeria auf. Als Jugendlicher kam er in die USA und arbeitet heutzutage als Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf. Außerdem bekleidet er eine Stelle als Distinguished Writer in Residence am Bard College. Teju Cole betreibt eine eigene Homepage und ist auch auf Twitter aktiv. Seine Fotos veröffentlicht Cole auf Flickr, auch die Umschlagfotos der deutschen Ausgabe wurden von ihm selbst gestaltet.

“Als ich also im vergangenen Herbst begann, abendliche Streifzüge durch die Stadt zu unternehmen, erwies sich Morningside Heights als guter Ausgangspunkt.”

Im Mittelpunkt von Teju Coles Romandebüt “Open City” steht Julius, ein junger Mann mit Migrationshintergrund. Julius ist der Erzähler des Romans. Er steht am Beginn des letzten Jahres seiner Facharztausbildung zum Psychiater. Sein Forschungsprojekt – eine klinische Studie über affektive Störungen bei älteren Menschen – verlangt ihm viel Zeit, Kraft und Akribie ab. Spaziergänge, das ziellose Umherstreifen und Herumwandern, stellt für Julius eine Art “Kontrapunkt” zu seinen geschäftigen Tagen im Krankenhaus dar. Mit der Zeit werden die Spaziergänge immer länger und länger und führen Julius immer weiter fort von seinem Zuhause. Er durchstreift das beeindruckend lebendige New York und die Versuchung liegt nahe, diese atemberaubende Stadt als Hauptfigur zu sehen, neben der Julius zwischenzeitlich beinahe ein bisschen blass wirkt.

Julius, seine Spaziergänge und New York. Damit sind die wichtigsten Bestandteile der Romanhandlung bereits erfasst. Während sich die Stadt New York – einem Panorama gleich – vor dem Leser entfaltet, taucht Julius beim Spazierengehen ab in seine Vergangenheit, denkt zurück an seine Kindheit in Nigeria, an sein schwieriges und von Schweigen geprägtes Verhältnis mit seiner Mutter und an vergangene Liebesbeziehungen.

“Meine Mutter und ich hatten uns schon auseinandergelebt, bevor ich mit siebzehn Jahren nach Amerika ging. Mein Gefühl ist immer gewesen, dass unsere Entfremdung mit ihrer Entfremdung von ihrer Mutter zu tun hatte.”

In die Gegenwart zurück holen ihn Begegnungen mit Bekannten und Freunden, die er auf seinen Spaziergängen trifft. Eine längere  Urlaubsreise nach Brüssel ist die einzige Aktivität, die Julius stereotype Tagesabläufe unterbricht.

“Die Spaziergänge erfüllten ein Bedürfnis: Sie erlösten mich von der Atmosphäre strenger Reglementierung bei der Arbeit, und als ich ihren therapeutischen Wert einmal erkannt hatte, wurden sie zur Normalität, und ich vergaß, wie mein Leben gewesen war, bevor ich damit begonnen hatte.” 

Julius durchstreift New York, diese riesige Stadt, und fühlt sich dennoch einsam:

“[…] doch der Eindruck dieser zahllosen Gesichter trug nicht dazu bei, mein Gefühl der Isolation zu lindern; es wurde eher noch verstärkt. Auch die Müdigkeit nahm zu, eine Erschöpfung, die ich seit den ersten Monaten als Assistenzarzt drei Jahre zuvor nicht mehr gespürt hatte.”

Ich habe “Open City” mit großer Begeisterung gelesen. Fasziniert hat mich vor allem Julius, eine Figur, in dessen Charakterisierung Teju Cole sicherlich auch viel von sich selbst hineingelegt hat. Julius ist gebildet, kulturinteressiert, belesen und ein begeisterter Jazzliebhaber. Teju Cole gelingt es den Intellekt seiner Figur immer wieder in die Handlung des Romans einfließen zu lassen: Julius hört Klassikradiosender, besucht Museen, geht zu Lyriklesungen und verschlingt Bücher von Roland Barthes, Peter Altenberg und Tahar Ben Jelloun. Zwischendurch bezieht er sich auch gerne auf literarischen Figuren: “Elizabeth Costellos bohrende Fragen tauchten in den seltsamsten Situation auf.”

Julius hat sich mit siebzehn Jahren Geld von seinen Onkeln geliehen und ein Flugticket nach New York gekauft, “um in einem neuen Land ein neues Leben zu beginnen”. Nun lebt er in New York, arbeitet hart und ist erfolgreich. Er ist für sich selbst verantwortlich und kann ein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen führen. Den Kontakt zu seiner Mutter hat er mit dem Flug nach New York abgebrochen und nur zwischendurch sporadisch wieder aufleben lassen.

“Wir erleben unser Dasein als Kontinuum, und erst wenn es hinter uns liegt, Vergangenheit wird, nehmen wir seine Brüche war. Die Vergangenheit, sofern man überhaupt davon sprechen kann, ist vor allem leerer Raum, eine Weite des Nichts, darin schwebend ein paar relevante Personen und Ereignisse.”

Teju Coles Roman “Open City” besticht auf unterschiedlichen Ebenen: zum einen lebt er von einer interessanten und faszinierenden Hauptfigur, zum anderen aber auch von den intensiven Beschreibungen der Stadt New York. Stellenweise wird anhand von Julius’ Beobachtungen auch der Blick des Fotografen Teju Cole deutlich, dem es gelingt, auch in seiner Sprache Augenblicke einzufangen und diese wie auf einem Foto festzuhalten. Momentaufnahmen.

“Ich wollte meinen Faden in diesem Netz der Geschichten finden.”

Der Titel des Romans “Open City”, ist eine Bezeichnung aus dem Kriegsrecht, die es auch im deutschen (“offene Stadt”) für Städte gibt, die sich nicht verteidigen und aus diesem Grund nicht angegriffen werden dürfen. Brüssel, das Ziel von Julius Urlaubsreise, hat dieser Terminus im Krieg retten können. Vor dem Hintergrund, dass der Roman in New York spielt, erhält der Begriff – nach dem 11.9.2001 – aber auch noch eine weitere interessante Konnotation.

“Open City” ist ein lesenswerter Roman, eines interessanten jungen Schriftstellers. Mich hat er vor allem aufgrund seiner wunderschönen und brillanten Sprache überzeugen können, durch die es stellenweise gelingt, darüber hinwegzutäuschen, dass der Roman keinem wirklichen Handlungsfaden folgt. Ich bin sehr gespannt, was uns von Teju Cole in den nächsten Jahren noch erwarten wird – was immer es sein wird, ich werde es auf jeden Fall lesen.

4 Comments

  • Reply
    laura
    January 10, 2013 at 4:36 pm

    Und wieder einmal machst du mich neugierig auf ein Buch. “Open City” klingt sehr nach einem Buch, das mir gefallen könnte… (und ich weise dich dezent auf einen Zahlendreher hin in deinen Tags und der Datumsnennung im Artikel, denn du meinst sicherlich den 11.September 2001!?) LG Laura

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 10, 2013 at 4:56 pm

      Ich bin gespannt, wie es dir gefallen sollte, falls du es liest. 🙂 Ich kann mir vorstellen, dass Julius manchen Lesern auf die Nerven gehen könnte, weil er einfach so gebildet und intelligent ist. Aber ich fand ihn toll. 🙂

      Danke auch für den Hinweis auf diesen peinlichen Zahlendreher – hab es gerade korrigiert.

  • Reply
    caterina
    January 11, 2013 at 8:42 pm

    Den Roman habe ich bereits auf meiner Merkliste. Die Zeit hatte ihn ziemlich euphorisch besprochen, nun begegne ich ihm zum ersten Mal auf einem Blog. Vielen Dank für deine Eindrücke! Ich werde die Augen aufbehalten, der Autor scheint vielversprechend zu sein.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2013 at 7:42 pm

      Liebe Caterina,
      ich hatte auch einige euphorische Besprechungen gelesen, aber auch einige weniger begeisterte Stimmen dazu gehört, so dass ich lange gezögert habe, das Buch wirklich in die Hand zu nehmen. Ich freue mich, dass ich mich dann doch zum Lesen durchgerungen habe, denn es war wirklich eine tolle Lektüre. Im Moment schreibt der Autor an einem Sachbuch über Lagos, ich hoffe aber, dass es bald auch einen weiteren Roman von ihm zu lesen geben wird.

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