Josha Zwaan wurde 1963 geboren, sie schreibt für Zeitungen und Zeitschriften und arbeitet als Coach und Prozessbegleiterin. Ein Thema, mit dem sie sich lange beschäftigt hat, ist das Schicksal jüdischer Kinder, die den Holocaust in christlichen Pflegefamilien überlebt haben und anschließend nicht in ihre ursprüngliche Familie zurückgekehrt sind. “Parnassia” – ihr Debütroman – widmet sich genau diesem Thema und beruht auf historischen Begebenheiten.
Auf der ersten Seite des Romans findet sich ein Zitat von dem Maler und Architekten Friedensreich Hundertwasser: “Wer die Vergangenheit nicht ehrt, verliert die Zukunft, wer seine Wurzeln vernichtet, kann nicht wachsen.” Dieses Zitat beschreibt sehr eindrücklich und mit Worten, die ich selbst nicht besser hätte finden können, das zentrale Thema des Romans.
“Sie will eine Geschichte hören, meine Geschichte. Als handele es sich um ein Märchen vor dem Schlafengehen. Albträume wird sie kriegen, wenn ich ihr aus dem großen Buch vorlese, das all die Jahre geschlossen blieb.”
“Parnassia” erzählt die Geschichte von Anneke, die eigentlich Rivka heißt, diese Identität und Wurzeln jedoch kappen musste, um als kleines jüdisches Mädchen den Krieg zu überleben. Rivka ist vier Jahre alt, als aus ihr Anneke wird. Rivka ist Jüdin gewesen, jetzt ist sie Christin. Ihre Eltern geben sie im Krieg in eine christliche Pflegefamilie, auch ihr Bruder wird in eine Pflegefamilie abgegeben. Dort bekommt sie eine neue Identität, eine neue Religion und eine neue Geschichte. Jahre später, nach dem Krieg, kehren Vater und Bruder gemeinsam zurück, um Rivka zu sich zu holen, doch das Mädchen erkennt sie nicht mehr: “Ich heiße nicht Rivka. […] Ich heiße Anneke.”
Sie kehrt nicht mehr zu ihrer Familie zurück, sondern bleibt bei ihrer Pflegefamilie. Zu ihrer neuen Identität gehört auch eine neue Vergangenheit: ihre Eltern sind angeblich im Bombenhagel auf Rotterdam gestorben. Anneke ein Waisenkind. Irgendwann glaubt Anneke diese Geschichte selbst. Sie schließt mit einer Vergangenheit ab, die doch immer noch wie ein Schatten auf der Gegenwart liegt. Eine Vergangenheit, die sich nicht einfach auslöschen lässt, egal wie sehr man versucht, sie zu vergessen. Je älter sie wird, desto unglücklicher empfindet sie ihr Leben in ihrer Pflegefamilie, dessen Grundlage eine Lebenslüge ist. Rivka wurde an ihren Wurzeln aus der Erde gerissen und als Anneke in ein neues Leben verpflanzt. Doch – wenn auch lange nur unbewusst – dieses jüdische Mädchen steckt immer noch in Anneke, bricht sich immer wieder Bahn, macht sich bemerkbar, lauert im Hintergrund. Als Anneke sich als junges Mädchen dazu entscheidet, Joost – einen Juden – zu heiraten, brechen die Wunden der Vergangenheit zum ersten Mal auf.
“Parnassia” besteht aus zwei zeitlichen Ebenen: der Gegenwart und der Vergangenheit. In der Gegenwart trifft sich Anneke mit ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter Sandra, um sich endlich – nach Jahren der Stille – auszusprechen.
“Seit Joosts Beerdigung werde ich von Erinnerungen überschwemmt, die Breschen in die so sorgfältig errichteten Mauern meiner Existenz schlagen. Außer den Bildern taucht manchmal auch ein Wort auf, ein Duft, eine Melodie.”
Mutter und Tochter haben eine schwierige Beziehung, die von Schweigen, Hass und Missverständnissen geprägt ist, hinter sich. Anneke und ihrem Mann Joost wurden die drei gemeinsamen Kinder von Sozialarbeitern weggenommen. Beide konnten die Schatten der Vergangenheit nicht abschütteln: Joost ist über seine Erinnerungen an den Holocaust wahnsinnig geworden und Anneke hat den Bezug zu ihrer Identität und ihrem Leben verloren. Ihre älteste Tochter Sandra, sah Annekes Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Ihr Anblick bedeutet für Anneke eine ständige Konfrontation mit der Vergangenheit, mit Rivka, mit ihren Eltern, mit dem Leben, das sie mit vier Jahren hinter sich gelassen hat.
Die Gegenwart wird immer wieder durch Rückblenden in die Vergangenheit unterbrochen, durch Erinnerungen an die Geschichte Annekes, die einmal Rivka gewesen ist und diesen Schatten, diese zweite Existenz in ihrem neuen Ich, nie abschütteln konnte. Rivka hat sie ein Leben lang verfolgt, hat ihre Beziehung zu Joost und ihren Kindern beeinflusst. Wie soll man drei Kinder aufziehen, wenn man nicht einmal weiß, wer man selbst ist?
“Fehlgeburten hätte ich haben sollen, keine Kinder. Kinder, die getröstet werden müssen, Zuwendung brauchen und Fürsorge, die weinen, weil sie etwas wollen, was ich ihnen nicht geben kann. Kinder, die mit einem Mal Kaddisch sagen. Ich will sie nicht.”
Es ist nicht leicht Anneke zu mögen. Sie schlägt ihre Kinder, verweigert Sandra jegliche Zuneigung und Aufmerksamkeit. Sie ist gefühlskalt. Sie schützt ihre Kinder nicht vor Joost, der zunehmend den Verstand verliert. Zu Recht werden ihr schließlich die Kinder weggenommen, die immer häufiger die Nacht im kalten Hof verbringen mussten. Nackig. Doch auch Anneke hat eine Geschichte, eine Vergangenheit. Wie soll Anneke ohne ihre Wurzeln wachsen können, zu einem vollständigen und erwachsenen Menschen werden können? Anneke ignoriert die Wahrheit, sie ignoriert ihre Herkunft, ihre Wurzeln und biegt sich ihre eigene Realität zurecht. Selbst Joost erzählt sie nichts von Rivka.
Das Schicksal Annekes ist kein Einzelfall, es handelt sich um historische Tatsachen. Es gab eine Vielzahl an Pflegefamilien, die auch nach dem Krieg ihre Pflegekinder behalten wollten. Die glaubten, dass eine christliche Erziehung besser sei, als die Rückkehr in eine jüdische Familie.
Der Begriff Parnassia beschreibt eine seltene Pflanze, die mittlerweile unter Artenschutz steht. Der Roman “Parnassia” trägt diesen Titel nicht zufällig, ich habe das Buch auch wie eine seltene Pflanze empfunden, die geschützt werden muss, damit sie weiterleben und von möglichst vielen betrachtet werden kann. Ein Roman, der seine Schönheit auf den zweiten Blick offenbart, denn auf den ersten Blick wirkt er spröde und die Hauptfigur Anneke erscheint unsympathisch und sperrig. Durch die Rückblicke in ihre Vergangenheit ist sie mir vielleicht nicht unbedingt sympathischer geworden, aber ich habe nun Verständnis für sie.
“Parnassia” ist ein lesenswerter Roman, dem ich möglichst viele Leser wünsche. Josha Zwaan erzählt eine berührende, schwer im Magen liegende Geschichte. Eine Geschichte, der historische Tatsachen zugrundeliegen. Eine Geschichte, die mich noch lange umtreiben wird. Die Geschichte einer Frau, die mit vier Jahren ihre Identität aufgeben musste, deren Vergangenheit sie aber ein Leben lang verfolgt hat.
11 Comments
buchpost
February 8, 2013 at 3:55 pmVielen Dank für die interessante Besprechung. Weder Thematik noch Autorin waren mir ein Begriff. Wieder ein Titel, der auf die Wunschliste wandert. Dankeschön.
buzzaldrinsblog
February 9, 2013 at 2:22 pmIch freue mich sehr, dass ich dein Interesse wecken konnte. Auch mir sagte dieses Thema genauso wie die Autorin zuvor nichts, die Kurzbeschreibung hat mich dann aber so neugierig gemacht, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte. Die Geschichte ist sehr berührend, dazu bei trägt sicherlich auch die Ambivalenz der Hauptfigur, denn es ist nicht leicht sie zu mögen angesichts dem, was sie ihren Kindern antut. Sie hat aber auch eine eigene sehr berührende Geschichte. Ich wäre sehr gespannt darauf zu erfahren, wie es dir gefallen hat, falls du es lesen solltest. 🙂
caterina
February 8, 2013 at 9:15 pmBesten Dank für die Empfehlung, liebe Mara. Beim Durchstöbern der vorletzten Verlagsprogramme ist mir das Buch aufgefallen, dann aber habe ich es aus den Augen verloren, weil nirgendwo davon die Rede war. Nun erinnert mich deine schöne Rezension daran, weshalb ich es mir damals notiert hatte. Das Thema reizt mich natürlich sehr; wenn ich mich nicht täusche, handelt auch Krechels Landgericht davon (zumindest am Rande).
Austerlitz, die Hauptfigur des gleichnamigen Romans von W. G. Sebald (großartig!), ist während des Krieges mit einem der Kindertransporte nach Großbritannien gebracht worden, wo er bei einem Prediger und dessen Frau aufwächst. Im Gegensatz zur Protagonistin von Parnassia hat er seine leiblichen Eltern verloren, auf eindrückliche Weise zeigt der Roman, wie wahr das erste Zitat ist: “Wer die Vergangenheit nicht ehrt, verliert die Zukunft, wer seine Wurzeln vernichtet, kann nicht wachsen”. Zwar werden Austerlitz’ Wurzeln nicht von ihm selbst, sondern von anderen vernichtet, doch Tatsache ist, dass auch er sich sein Leben in der Gegenwart nicht einrichten kann, weil er seine Vergangenheit und somit einen wesentlichen Teil seiner Identität nicht kennt. Ein beeindruckendes Stück Literatur, das ich nur empfehlen kann, solltest du es noch nicht gelesen haben.
PS: Wie immer würde ich mich freuen, wenn du uns deine Rezension für die Jüdischen Lebenswelten zur Verfügung stellen würdest. Aber ich möchte natürlich nicht nerven, meld dich einfach, wenn dir danach ist.
buzzaldrinsblog
February 9, 2013 at 7:27 pmLiebe Caterina,
ich finde es schade, dass das Buch zwischen all den anderen Neuerscheinungen ein bisschen unter gegangen ist, da es wirklich viel zu bieten hat und ein sehr interessantes Leseerlebnis ist. Ich hoffe einfach, dass zumindest durch meine Besprechung vielleicht noch ein paar Leser auf den Titel aufmerksam werden. Ich finde diese Dynamik immer spannend: es gibt Titel, die auf beinahe allen Blogs zu finden sind und dann wiederum Titel, die ein bisschen ein Schattendasein führen.
Krechel kommt übrigens übernächste Woche nach Bremen und ich hoffe, dass ich – obwohl ich schon wieder spät dran bin – noch Karten bekommen werde.
Danke auch für deinen ausführlichen Hinweis auf Austerlitz. Das Buch von Sebald steht schon in meinem Regal, ich habe es aber bisher noch nicht gelesen. Deine Eindrücke klingen jedoch sehr spannend, so dass ich es bestimmt bald zur Hand nehmen werde. Ich bin schon sehr gespannt auf die Lektüre. Von Sebald habe ich schon so viel gehört und auch über ihn bereits während meines Studiums gelesen, doch ein Buch habe ich bisher von ihm noch nicht in die Hand genommen. Es wird Zeit! Das Zitat von Friedensreich Hundertwasser fand ich sehr beeindruckend und von der Autorin unheimlich passend für den Roman ausgewählt.
Für die Jüdischen Lebenswelten stelle ich meine Besprechung natürlich gerne zur Verfügung, genauso wie meine Rezension von David Grossmans Roman, falls daran Interesse bestehen sollte. 🙂
caterina
February 14, 2013 at 11:33 amIch habe bisher von Sebald auch noch nicht anderes als Austerlitz gelesen, was ich aber unbedingt noch ändern möchte. Wenn seine anderen Werke mich nur annähernd so beeindrucken wie dieses, dann hat es sich schon gelohnt.
Vielen, vielen Dank, dass wir deine Artikel veröffentlichen dürfen, das ist wahnsinnig lieb von dir! Ich schick dir demnächst eine Mail mit den genauen Daten, versuche aber einen kleinen zeitlichen Abstand zu deinen eigenen Rezensionen zu halten. Grossman ist natürlich auch perfekt, schön, dass du mich daran erinnerst. Merci!!
buzzaldrinsblog
February 14, 2013 at 3:05 pmIch habe in der Zwischenzeit übrigens entdeckt, dass ich nicht nur “Austerlitz” im Regal stehen habe, sondern auch “Die Ausgewanderten”, das auch sehr reizvoll klingt. Ich schaue mal, womit ich beginne. Von Sebald gelesen habe ich bisher nur den spannenden Essay “Luftkrieg und Literatur”, damals noch für meine Masterarbeit.
Und ich freue mich doch auch, wenn meine Rezensionen auch bei den Jüdischen Lebenswelten veröffentlicht werden können, bin also schon gespannt auf deine Mail und die Veröffentlichungen. 🙂
Klausbernd
February 10, 2013 at 12:01 pmLiebe Mara,
tolle Buchrezension! Ich bewundere, wie fleißig du bist. Bei dir finde ich stets neue Anregungen, zumal du meistens Literatur liest, die ich nicht kenne.
Liebe Grüße von der Küste Norfolks
Klausbernd 🙂
Dina
February 10, 2013 at 3:01 pmDem kann ich nur zustimmen! 🙂
buzzaldrinsblog
February 10, 2013 at 6:44 pmDanke dir! 😀
Liebe Grüße auch vom Hund, mit Bandit sind wir heute durch den Schnee getobt!
buzzaldrinsblog
February 10, 2013 at 6:43 pmLieber Klausbernd,
ich habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut. So fleißig bin ich auch nicht: mein Rezensionstempo spiegelt nicht unbedingt mein Lesetempo wider. “Parnassia” war eine unheimlich spannende Lektüre, vielleicht würde dir das Buch auch gefallen. Ich freue mich auf jeden Fall sehr, dich dank meiner Besprechungen auf Bücher aufmerksam zu machen, die du vielleicht sonst übersehen würdest.
Viele Grüße aus dem winterlichen Bremen
Mara
Josha Zwaan: Parnassia | Jüdische Lebenswelten
March 22, 2013 at 8:22 am[…] Rezension ist zuerst auf buzzaldrins Bücher […]