Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Über ihre “Ankunft in Worten” hat sie in dem schmalen Bändchen “Sterne erben, Sterne färben” geschrieben. Heutzutage lebt Marica Bodrožić als freie Schriftstellerin in Berlin, zuletzt erschien von ihr der Roman „kirschholz und alte gefühle“, der zweite Teil einer Trilogie, deren Auftakt “Das Gedächtnis der Libellen” ist.
Erinnerungen und Gedächtnis – das sind zwei Themen, die in Ihrem neuen Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ besonders im Mittelpunkt stehen. Warum war es Ihnen wichtig, darüber zu schreiben?
Ohne Erinnerung gibt es keine Autonomie, kein selbständiges Leben und ohne die Arbeit des Gedächtnisses keine Möglichkeit, dem eigenen Selbst in Würde zu begegnen. Dazu gehört auch das Vergessen. Das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen und die daraus entstehende Kontinuität fasziniert mich am meisten.
Was bedeutet für Sie persönlich Erinnerung?
Ich kann Erinnerung nicht unpersönlich denken. Aber sie ist mir nicht nur in meinem eigenen Leben und Schreiben wichtig, auch sonst, als Phänomen des menschlichen Geistes übt sie eine große Anziehungskraft auf mich aus. Manchmal träume ich von einem überplanetarischen Gedächtnis und wünsche mir, mit meinem Kopf das Licht der Plejaden zu verstehen oder mittels eines metaphysischen Tunnels ins Alte Griechenland mit meinen Synapsen zu reisen und dort alles von meinem Schreibtisch aus wahrzunehmen.
Aber ganz konkret und besonders findig sind die Überschreibungen, denen wir ausgesetzt sind, sie sind sehr aussagekräftig, die Lücken, die Bilder, die durch die Prozesse, die etwa Dauer und Zeit bewirken, dann neu entstehen. Jeder Mensch hat diese Lücken, diese Stolpersteine und es macht einen Unterschied, wann wir uns an etwas erinnern, ob wir das mit 20 oder 40 oder im hohen Alter tun. Keiner von uns teilt die Erinnerung mit einem anderen Wesen. Jeder erinnert sich für sich selbst. Das ist schon eine kleine Erzählung mit großer Wirkung, mit unabsehbaren Folgen – zum Beispiel in Beziehungen zwischen Geschwistern und Liebenden.
Wie bewahren Sie Erinnerungen auf? Tragen Sie die Erinnerungen an die Vergangenheit – sinnbildlich gesprochen – im Herzen, oder sammeln Sie gerne “Souvenirs”, um sich an Vergangenes zu erinnern?
Die Erinnerungen bewahren mich, sie beschriften und bebildern mich. Ich selbst sammle keine Souvenirs und habe auch nichts übrig für sentimentales Dingwerk. Was mich interessiert, ist der menschliche Geist. Dinge lenken von dieser Dimension des Inneren eher ab. Aber sie können selbstverständlich sehr viel auslösen. Nur sind sie für mich keine Wegmarken. Ich hebe sie nicht auf. Im Gegenteil, vieles entsorge ich immer wieder ganz bewusst und verabschiede mich auch gerne. Ohnehin verlieren sie von selbst ihre Bedeutung und machen auf Dauer melancholisch. Dies verschafft nicht unbedingt einen klaren Blick und ist im Schreiben hinderlich. Das hat damit zu tun, dass Dinge nur den äußeren Ring der Wirklichkeit darstellen. Die äußere Realität ist für mich aber nur von Bedeutung als Ergebnis einer inneren Entwicklung, als die Summe dessen, was ich das innere Sehen nennen würde – denn das Sehen kann man erlernen. Und dann kann ich ohnehin gleich auf das Innere zurückgreifen. Wir müssen begreifen, dass wir nur sehen, was wir sind und was wir wissen. Es gibt so vieles, das uns entgeht!
Halten Sie die Vorstellung eines absoluten Gedächtnisses für verführerisch oder glauben Sie, dass es auch gesund sein kann, bestimmte Ereignisse zu verdrängen?
Die Schriftstellerin Marisa Madieri hat einmal Gott als das große Gedächtnis beschrieben. So ein Archiv gibt es garantiert, wie auch immer wir es nennen. Menschen aber müssen sich erinnern und wieder vergessen. Was die psychologische Dimension der Erinnerung angeht, etwa bei Traumata, das ist noch einmal ein anderer Prozess. Und ja, Menschen überleben seelisch gewisse Ereignisse, weil sie in eine Lücke geschoben, also verdrängt, verworfen werden. Aber irgendwo sind sie ja doch noch! Ich stelle mir das manchmal so vor wie am Himmel: die schwarzen Löcher gibt es. Das für die Phantasie Ansteckende ist aber nicht der Fakt an sich, es ist dieser ganze Möglichkeitsraum, der inspirierend ist, weit und offen, eine unbeschriftete mehrdimensionale Welt.
Ihre Hauptfigur verdrängt ihre Erinnerungen an den Krieg. Was passiert mit verdrängten Erinnerungen – wo bleiben sie?
Das Gedächtnis meiner Hauptfigur hat mehrere Schubladen, die, wie im Märchen, einmal ins Bewusstsein getreten, noch eine neue Ebene einleiten. Das Leben ist unendlichen Beatmungen ausgesetzt. Aber es ist in ihrem Kopf wie im Kino mit einer weißen Leinwand – es dauert, aber die Bilder kommen dann irgendwann, werden dann ein ablaufender Film. Klar ist aber auch, dass da eine Struktur ist, weil sie für Augenblicke in ihrem Denken von einer bestimmten Stelle aus beginnt, sich ihrem Leben zu nähern. Deshalb gibt es so viele Versatzstücke des Mosaiks, das Arjetas Leben zu einem Ganzen werden lässt. Wenn sie das von einer anderen Stelle aus tut, also ihren Denkpunkt ändert, dann verändert sich auch der Film auf der Leinwand (und der Bewusstseinsstrom in ihrem Inneren).
Sie wurden 1973 in Dalmatien geboren und sind mit neun Jahren nach Deutschland gezogen. Ihre Bücher veröffentlichen Sie auf Deutsch, wie kam es zu dieser Entscheidung?
Das hat die Sprache entschieden, nicht mein Ich. Man wird von der Sprache gewählt, da kann der Kopf nicht wirklich etwas machen.
Was hat Sie an der deutschen Sprache besonders fasziniert?
Ich habe keine andere, es ist die einzige Musik, die mir im Schreiben zur Verfügung steht. Alle anderen Sprachen, die ich kenne und spreche, sind nicht gut genug in mir abgespeichert, sie haben eine andere Verdichtung in mir. In der einen bin ich ein ungeschicktes Kind, in der anderen eine Suchende und wieder einer anderen bin ich vollkommen unsicher. Das sind also keine guten Voraussetzungen, dem Leben in Sprache gerecht zu werden.
Wer hat Sie literarisch beeinflusst?
Viele, unendlich viele, Kafka fällt mir ein, den ich als Sechzehnjährige geradezu zum Leben gebraucht habe, vor allem seine Aphorismen, die ich bis heute immer wieder lese; aber auch Marguerite Duras, Nathalie Sarraute, Virginia Woolf, Francis Ponge, Edmond Jabés, Saint Pol Rox, Marina Zwetajewa, mein guter alter, weiser Rilke, Andrej Bely – die russische Avantgarde, die deutsche Romantik, der französische Surrealismus — es ist ein Fass ohne Boden und das ist schön und gut und soll nie aufhören. Alles, was wir berühren und was uns berührt, beeinflusst uns. Und so hat mich auch die rote Erde und das Meer Dalmatiens beeinflusst, die Bäume dieser Welt, die ja auch Schriftsteller sind, jeder Baum schreibt etwas in die Luft, die wir dann atmen, die Flüsse, der Karst, das weite Blau des Himmels, die Wolken, die Winde, die sind meine großen Verbündeten und Zuarbeiter der Sprache.
In Ihrem Roman „kirschholz und alte gefühle“ erwähnen Sie die Bremerin Karin Magnusson. Was hat es mit dieser Frau auf sich?
Ich bin durch einen Spiegel-Artikel auf diese Biologin, die in der Zeit des Nationalsozialismus sehr ambitioniert (ein Synonym für menschenverachtend) war, aufmerksam geworden. Sie hat sich als Forscherin im 3. Reich Menschenaugen von Mengele in Auschwitz bestellt. Vorher hat sie über Schmetterlingsflügel gearbeitet. Und ich habe mich gefragt, wie ein Mensch vom Schmetterlingsflügel zu so jemand Abgründigen wie Mengele kommen kann, wie so etwas möglich ist, was das für ein Leben war. Ein erschütternder Fall, den ich mit einer anderen Figur in meinem Buch verbinde, mit Mischa Weisband, einem deutschen Juden, der in Frankreich lebt und der nach dem Fall der Mauer in den Neunziger Jahren endlich wieder in die Stadt seiner Kindheit fahren will, doch dann in der Zeitung von Karin Magnussen liest. Er packt seinen Koffer wieder aus und reist nicht nach Berlin. Und in der Zeitung steht, was auch wirklich geschehen ist, dass nach dem Umzug von Frau Magnussen in ein Altenheim, diese in Gläsern (Formaldehyd) eingelegten Augen noch immer aufbewahrt wurden… Mischa Weisband fährt erst viele Jahre später in die deutsche Hauptstadt und trifft sich dort mit meiner Erzählerin Arjeta, die in Paris seine Nachbarin ist und der er alle Bäume und Vögel der Stadt zeigt. Er ist ein Vogelkundler! Ich wollte in diesem Zusammenhang etwas über die Macht und Kraft der Freundschaft erzählen. An einer Stelle heißt es über den alten Herren: Er war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte. Das ist eine bewusste Hommage an den Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keillson, der das einmal über sich selbst gesagt hat.
Nach dem Lesen Ihres Romans habe ich sofort nach dem Namen Karin Magnusson recherchiert und war angesichts Ihrer Geschichte entsetzt. Warum war es Ihnen wichtig, ihre Geschichte im Roman anzusprechen?
Es hat mich selbst sehr erschüttert, dass ein Mensch wie sie noch nach dem Krieg lange an einem Mädchengymnasium in Bremen unterrichtet hat. Sie hat immer behauptet, dass es diese Augen nie gab. Aber es gab sie doch. In ihrem braven bundesrepublikanischen Wohnzimmer. Allein dieses schockierende Bild lässt mich eine bessere Welt ersehnen, eine Welt, in der Menschen so etwas auch wissen und dafür Sorge tragen, dass es in dieser Form nie wieder geschehen kann. Denn nur über die Erinnerung, die Durchdringung des Schmerzes, der damit einhergeht, können wir etwas daraus lernen. Es muss uns schockieren. Und dann bleibt ein Lernen hoffentlich nicht aus. Da ich selbst in den Neunziger Jahren einiges mitbekommen habe, was der Krieg im ehemaligen Jugoslawien angerichtet hat, war ich sehr ergriffen davon, dass die Geschichte der Karin Magnussen so lange nachgewirkt hat. Kriege, wie dieser Fall es zeigt, dauern manchmal noch Jahrzehnte lang in den Frieden hinein. Und die Sprache transportiert alles. Sie ist das Archiv, in dem sich alles von alleine abspeichert.
Haben Sie schon ein neues Projekt in Arbeit?
Es entstehen neue Gedichte. Ein neuer Roman, der 3. Band meiner Trilogie, in dem wieder eine Nebenfigur zur Hauptfigur wird.
Vielen Dank an die Autorin für die Antworten auf meine Fragen!
21 Comments
Muromez
February 18, 2013 at 11:31 am“Alles, was wir berühren und was uns berührt, beeinflusst uns. Und so hat mich auch die rote Erde und das Meer Dalmatiens beeinflusst, die Bäume dieser Welt, die ja auch Schriftsteller sind, jeder Baum schreibt etwas in die Luft, die wir dann atmen, die Flüsse, der Karst, das weite Blau des Himmels, die Wolken, die Winde, die sind meine großen Verbündeten und Zuarbeiter der Sprache.”
Wunderbar ausgedrückt!
…vielen Dank für das hochinteressante Gespräch. Spätestens jetzt bin ich gezwungen, Bodrožić wirklich in die Hand zu nehmen 😉
buzzaldrinsblog
February 18, 2013 at 7:20 pmLieber Muromez
genau diese Stelle habe ich auch als wirklich wunderbar empfunden und diese Worte ja auch als Aufmacher auf meiner Facebookseite genutzt.
Ich bin sehr gespannt darauf, wie dir Bodrožić gefallen wird. Ich kenne bisher nur “kirschholz und alte gefühle” von ihr, im Regal stehen aber schon “Sterne erben, Sterne färben” und “Das Gedächtnis der Libelle” bereit und ich bin voller Erwartung und schon sehr gespannt auf die Lektüre.
Patrick Hutsch
February 18, 2013 at 12:57 pmReblogged this on open mike – der blog.
caterina
February 18, 2013 at 1:09 pmEin sehr schönes Gespräch, liebe Mara. Es freut mich, dass du gerade mit dieser Autorin aus dem 5-Fragen-Raster ausbrichst (ohne dieses abwerten zu wollen – die Idee finde ich nach wie vor sehr toll): Frau Bodrožić hat einfach so viele wunderbar kluge Dinge zu sagen und tut dies auf so wunderbar poetische Weise, dass man ihr gerne zuhört und noch viel mehr ihrer Worte in sich aufnehmen könnte.
Zumal sie sich mit einem Thema auseinandersetzt, das mich in der Literatur sehr interessiert: die Erinnerung (und das Vergessen) – gerade im Kontekt von Kriegserfahrungen oder anderen traumatischen Erlebnissen ein wahnsinnig spannendes Thema, das schon auf sehr vielfältige Weise literarisch aufgegriffen wurde. Mir fallen da zum Beispiel die Kisten in dem Haus der alten Dame in Foers Alles ist erleuchtet, die gewissermaßen als Gedächtnis des untergegangenen Shtetls dienen. Eine sehr originelle Umsetzung des Motivs der Erinnerung.
buzzaldrinsblog
February 18, 2013 at 7:38 pmLiebe Caterina,
ich habe mich unheimlich über deinen Kommentar gefreut. Nach der Lektüre des Romans haben sich bei mir einfach so viele Fragen ergeben, dass ich gerne aus dem 5-Fragen-Raster ausbrechen wollte. Umso mehr habe ich mich darüber gefreut, dass die Autorin dazu bereit gewesen ist. Trotz ihrer Erkrankung hatte sie bereits während der Lesung in Bremen in wenigen Worten und Sätzen viel und auch viel Interessantes zu sagen. Besonders berührt hat mich dabei ihre Sprachpoetik, ihre Feinsinnigkeit.
Das Thema, das bei ihr im Mittelpunkt steht, ist auch eines, das mich immer wieder beschäftigt und fasziniert. Die Metapher von Jonathan Safran Foer für Erinnerung war mir gar nicht mehr bekannt, ich empfinde sie aber als sehr passend. Überhaupt war ich erstaunt darüber, dass das Thema mich in den letzten Wochen ein Stück weit begleitet und verfolgt hat. Begegnet ist es mir auch in “Parnassia” und natürlich im “Buch über das Vergessen”. Vor einigen Monaten hatte ich die lose Idee, über Erinnerungen und Gedächtnis in der Literatur zu promovieren, leider hat sich das ein bisschen verlaufen.
caterina
February 18, 2013 at 8:47 pmOh, eine Promotion über die Erinnerung in der Literatur – wie spannend! Solltest du an der Idee dranbleiben, würde es mich freuen, mich hin und wieder mit dir darüber auszutauschen. Auch in meinem Kopf schwirren vage Gedanken an eine Promotion herum, thematisch würde sie in eine ähnliche Richtung gehen, d.h. Erinnerungsprozesse würde eine kleine Rolle spielen. Aber diese Gedanken sind alles andere als konkret und werden vermutlich noch Jahre – wenn nicht gar für immer – vor sich hin schlummern. Ich wünsche dir jedenfalls viel Kraft und viel Inspiration für den Fall, dass du die Promotion anpacken solltest.
buzzaldrinsblog
February 21, 2013 at 7:48 pmLiebe Caterina,
austauschen können wir uns gerne, ich überlege im Moment noch, wie intensiv ich diese Idee weiterverfolgen möchte. Ich habe mich schon einmal in dieses Thema gestürzt, doch dann aufgrund der Vielfalt und der Tatsache, dass schon einige darüber gearbeitet haben, etwas den Mut und den Faden verloren. Im Moment reizt es mich, diesen wieder aufzunehmen. Ich finde es toll, dass du auch über eine mögliche Promotion nachdenkst, selbst wenn deine Gedanken noch etwas vage sind. Bereits in meiner Masterarbeit zu Uwe Tellkamp haben Erinnerungen und Erinnerungsprozesse eine wichtige Rolle gespielt. Danke für deine guten Wünsche, vielleicht setze ich mich demnächst doch noch einmal an den Schreibtisch, um daran zu arbeiten. 🙂
Petra Gust-Kazakos
February 18, 2013 at 9:00 pmOh ja, ein tolles Thema, liebe Mara! Ich weiß natürlich nicht, ob und wie oft das evt. schon bearbeitet wurde, aber das Feld ist dermaßen weit, dass sich da sicher noch etwas auftut. Das Interview hat mir auch sehr gut gefallen. Danke!
buzzaldrinsblog
February 21, 2013 at 7:45 pmLiebe Petra,
es freut mich, dass dir das Interview gefallen hat! An dem Thema “denke” ich schon eine ganze Weil rum. Hier stehen zwei dicke Ordner mit Texten und Artikeln, die ich dafür schon durchgearbeitet habe, es ist aber in der Tat auch schon häufig bearbeitet wurden. Irgendwann habe ich dann einfach den Mut verloren. Die zunehmende Beschäftigung in den letzten Wochen mit Erinnerung hat mir jedoch noch einmal neuen Mut gegeben. 🙂
kommentarblog
February 18, 2013 at 3:01 pmWar das ein schriftliches Interview oder spricht die Dame so? Das wäre ja erstaunlich. Ihre Themen sprechen mich total an, ihre artifizielle Sprache leider überhaupt nicht.
buzzaldrinsblog
February 18, 2013 at 7:30 pmLieber kommentarblog,
es handelt sich um ein schriftliches Interview, ich habe Marica Bodrožić aber auch bei ihrer Lesung als sehr feinsinnig, feinfühlig wahrgenommen. Wie man diese Sprache empfindet ist aber natürlich geschmacksabhängig, schade, dass dich nur die Themen, aber nicht die Sprache anspricht. 🙂
wortlandschaften
February 18, 2013 at 8:35 pmArtifiziell? Ich empfinde die Antworten erst einmal als sehr klug. Man merkt, dass Frau Bodrožić nicht nur sehr belesen ist, sondern auch etwas zu sagen hat. Eines der wiederkehrenden Themen ihrer Bücher ist ein so komplexes Thema, die Erinnerung, das auch mich in besonderem Maße fasziniert. Umso verblüffender finde ich, wie es ihr immer wieder gelingt, mit ihren sprachlichen Bildern die Komplexität aufzubrechen, schwer Fass- (und vielleicht auch Begreif-) bares in Worten festzuhalten und damit so etwas wie ein Gesicht zu geben. Das regt bei mir nicht nur zum Reflektieren an, sondern befreit den einen oder anderen nebulösen Gedanken aus seiner Dauerschleife.
So werden die Geschichten um einiges tiefgründiger, wie ich finde. Auf den ersten Blick vielleicht auch schwerer zugänglich. Man muss Marica Bodrožićs Umgang mit Sprache natürlich nicht mögen, für mich ist sie jedoch eine virtuose Künstlerin. Eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen, deren Gedichte ich ebenso gerne lese. Mir gefällt auch, dass sie literarische Anregungen einflicht, von denen ich schon ein paar gefolgt bin.
Ich mag es, wenn Schriftsteller einen poetischen Zugang zu diesen komplexen Vorgängen liefern. Ich habe mich schon oft gefragt, ob mich Jean-Henri Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“ zu Schulzeiten so begeistert hätten, wie heute? Ich rede mir ein, dass seine poetischen Schilderungen, die eine Wärme verströmen, die manchmal zu Tränen rührt, mir so manche Tür geöffnet hätten, die mir damals verschlossen blieb. Aber das ist wahrscheinlich eine verklärte Wunschvorstellung. Wie dem auch sei, für mich zählt auch Marica Bodrožić zu den Schriftstellern, die mich mit ihrer Sprache auf besondere Art ansprechen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Zum Thema Erinnerung würde ich neben ihren Büchern noch „Der Zeitplan“ von Michel Butor und „Zenos Gewissen“ von Italo Svevo empfehlen. Bei Butor hat mich der Aspekt der Neuschreibung der Erinnerung sehr beeindruckt, der auch bei Svevo zu finden ist (dessen Buch ja das ältere ist). Manchmal läuft das schleichend ab, ein anderes Mal reicht eine Kleinigkeit, um das Bild von jemandem komplett umzukrempeln, es kippt z.B. vom Positiven ins Negative oder umgekehrt. Die Auseinandersetzung damit bzw. das Hinterfragen, finde ich ungemein spannend. Wie ist es möglich bzw. was & wie viel davon ist nötig, einer positiven Erinnerung einen negativen Anstrich zu verleihen?
Ich musste während des Lesens der Antworten ein paar Mal an die Feuilletons von Béla Balázs denken, z.B. an „Die Sekunde“: „Unlängst bekam ich einen Schreck, weil ich für eine Sekunde die Sekunde bemerkt habe. (…) Denn vor mir wurden plötzlich die Sekunden lebendig. 86000 Sekunden – 24 mal 60 mal 60 – also ebenso viele Ereignisse eines Tages, die wir alle erleben! (…) Wenn diese Vision länger als eine Sekunde gedauert hätte, so wäre ich um den Verstand gekommen. (…) Und so erfuhr ich das Geheimnis. Dass nämlich mehr Dinge in dieser Welt vorhanden sind, als darin Platz haben. Durch dieses unmögliche Dickicht hilft uns eben nur unsere Blindheit hindurch.“
Und dann kommt der Dichter ins Spiel. „Für ihn hebt sich so manches aus der natürlichen und notwendigen Unsichtbarkeit, bekommt Gestalt und füllt den engen Raum seines Tages. Leichte Sekunden gerinnen zu schweren Erlebnissen. (…) Und vielleicht bleibt er einmal stecken, eingefangen in die Masse seiner eigenen Vision. Ein schöner Tod. Man würde den Dichter nach tausend Jahren ausgraben: eingefroren in den Kristall seiner eigenen Geschichte, wie man uralte kleine Insekten im Bernstein findet.“
Um den Kreis zu schließen: den besonderen Blick, die Gabe, der Unsichtbarkeit (z.B. der Gedanken) Gestalt zu verleihen, das sehe ich auch in Marica Bodrožićs Texten und hoffe, dass sie nicht stecken bleibt.
Danke für das interessante Interview.
caterina
February 18, 2013 at 8:55 pmZeno! Mit diesem Roman habe ich mich vor einigen Jahren eingehend beschäftigt: ein wunderbarer Roman mit einem herrlich unzuverlässigen Erzähler. Und erstaunlich modern – dafür, dass der Text bald hundert Jahre alt ist. Ich bin überrascht, hier an ihn erinnert zu werden – ich hätte geglaubt, dass nur Italianisten ihn lesen. Deine Belesenheit ist manchmal erschreckend, lieber wortlandschaften ;).
wortlandschaften
February 18, 2013 at 9:08 pmDa muss ich Dich enttäuschen, das täuscht. 😉 In letzter Zeit komme ich zu gar nichts mehr, aber auch sonst ist mein Lesekonsum eher bescheiden. Vielleicht kommen mal wieder bessere Zeiten, momentan ist Ebbe…na ja, eigentlich Dürre.
caterina
February 18, 2013 at 9:39 pmIn Ordnung, anders formuliert :): Nicht die Menge beeindruckt mich, sondern die Wahl deiner Lektüren, die Auseinandersetzung mit dem ‘Abseitigen’, Unbekannten, Ungewöhnlichen. Da entdeckt man häufig ganz besondere Perlen, auf die man nie aufmerksam geworden wäre, zum Beispiel Butor (auch wenn ich ihn noch immer nicht gelesen habe).
buzzaldrinsblog
February 20, 2013 at 5:49 pmLieber Wortlandschaften,
erst jetzt finde ich ein bisschen Zeit, um dir in Ruhe auf deinen interessanten und tollen Kommentar zu dem Interview zu bedanken. Ich habe ihre Antworten auch nicht unbedingt als artifiziell empfunden, um ehrlich zu sein musste ich erst einmal nach diesem Begriff googeln, um mir genauer etwas darunter vorstellen zu können. Ganz im Gegenteil habe Marica Bodrožić – wie auch bereits schon bei ihrer Lesung – in ihren Antworten als unheimlich intelligent, überlegt und poetisch wahrgenommen. Ich freue mich, dass das Interview auf so viel Interesse und Begeisterung stößt und das einige andere dies scheinbar auch ähnlich empfunden haben.
Ich kenne von Marica Bodrožić bisher leider nur dieses Buch, habe jedoch schon zwei weitere von ihr hier stehen, die ich unbedingt bald lesen möchte. Ich schätze ihren Umgang mit der Sprache, mit Worten. Die Lektüre von “kirschholz und alte gefühle” hat mich nicht nur inhaltlich angesprochen, sondern auch sprachlich unheimlich begeistern können. Sie hat einen besonderen und außergewöhnlichen Umgang mit Sprachpoetik und durch das Erlernen des Deutschen als fremde Sprache sicherlich auch einen ganz eigenen und sehr bewussten Zugang zu Worten. Verstärkt wurde dieser Effekt sicherlich noch durch den Besuch ihrer Lesung, bei dem ich den Text noch einmal ganz anders wahrgenommen habe und durch das reine Zuhören noch viel intensiver aufgenommen habe. Auch im anschließenden Gespräch bei der Lesung wirkte sie auf mich sehr feinfühlig, sehr bewusst, sehr intelligent – ich habe es als unheimlich bedauerlich empfunden, dass sie nicht so viel sagen konnte, wie sie sicherlich auch selbst gerne gesagt hätte.
Ich danke dir ganz ganz herzlich für deine zahlreichen Literaturtipps. 😀 Ähnlich wie Caterina bewundere ich dich für deine Belesenheit und die Auswahl deiner Lektüre. Die genannten Titel kenne ich – trotz meiner Begeisterung für die Thematik – allesamt noch nicht. Sie wandern jedoch auf meine Wunschliste und ich freue mich schon sehr auf die Lektüre. Notiert habe ich mir auch Jean-Henri Fabres “Erinnerungen eines Insektenforschers”, das schon sehr lange auf meiner Wunschliste steht.
Herzliche Grüße und herzlichen Dank für die Tipps! 🙂 Ich habe mich über deinen Besuch und deinen Kommentar sehr gefreut.
Viele Grüße und ich hoffe, du findest in der nächsten Zeit ein paar freie Lesestunden, damit du uns weiter mit so tollen Literturhinweisen versorgen kannst.
Mara
wortlandschaften
February 24, 2013 at 11:53 amHallo Mara,
Wochenende, jetzt kann ich Dir auch in Ruhe antworten. Zur sog. Belesenheit habe ich Caterina ja schon etwas geschrieben. Würde man Bücher verspeisen, wärst Du schon geplatzt und ich verhungert. 😉 Ich verfolge die Programme einiger kleiner(er) Verlage, die ganz spannende Titel herausbringen. Ansonsten stöbere ich auch gerne antiquarisch nach weniger Bekanntem oder Vergriffenem. Das ist eigentlich schon alles. Auf Fabre wurde ich durch den kleinen Verlag Heinrich & Hahn aufmerksam, der 2008 ein schmales Bändchen mit einer kleinen Auswahl an Texten über die „Poesie der Insekten“ herausbrachte. Der Verlag hat das Programm schon lange eingestellt, einzelne Titel sind aber noch lieferbar.
So habe ich dann immer mal wieder nach Fabre Ausschau gehalten und dann irgendwann im Programm von Matthes & Seitz entdeckt, dass sie die Werkausgabe veröffentlichen – 10 Bände. Wollte ich wirklich 10 Bände Berichte über Insekten lesen? Zu Beginn habe ich mir die Bände einzeln gekauft, mittlerweile habe ich das Subskriptionsangebot genutzt und werde alle Bände lesen. Es steckt eben doch mehr drin, als „nur“ Berichte über Insekten. Wie schrieb ein Journalist so schön griffig und treffend: „Fabre macht glücklich.“ Dem kann ich mich anschließen.
Bei Balazs war es ähnlich: zufällig einen filmwissenschaftlichen Text von ihm gelesen, der mich so angesprochen hat, so dass ich mehr erfahren musste. „Das Arsenal“, ein Berliner Verlag, der immer noch keine Internetpräsenz hat, brachte eine Reihe mit Texten und einem autobiographischen Roman heraus, die ich mir nach und nach kaufte und verschlang..
Viel Spaß noch mit den Büchern von Marica Bodrožić und anderer Lektüre & einen schönen Sonntag!
wortlandschaften
buechermaniac
February 20, 2013 at 4:45 pmLiebe Mara
Ein wirklich beeindruckendes Interview! Das sind ja teilweise sehr poetische Antworten. Nachdem ich deine Besprechung gelesen habe, freue ich mich, bald das Buch “Tito ist tot” in die Hände zu nehmen, um mit dem Debüt von Marica Bodrožić anzufangen. Ich möchte mich lieber von Anfang an durch das Werk dieser, wie mir scheint sehr aufmerksamen und feinfühligen Autorin lesen.
LG buechermaniac
buzzaldrinsblog
February 21, 2013 at 7:32 pmLiebe buechermaniac,
“Tito ist tot” erscheint im August als Taschenbuch, ich freue mich bereits jetzt sehr darauf und werde es auf alle Fälle lesen. Ich kann deinen Wunsch, dich von Anfang an durch Werk von Marica Bodrožić lesen zu wollen, gut nachvollziehen. Ich werde auch an den Anfang zurückkehren und “Sterne erben, Sterne färben” sowie “Das Gedächtnis der Libellen” lesen und freue mich schon sehr darauf, mehr von dieser aufmerksamen (das ist sie wirklich) Autorin entdecken zu können. 🙂
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Mein weißer Frieden - Marica Bodrožić - Buzzaldrins Bücher
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