Matterhorn – Karl Marlantes

Karl Marlantes ist Absolvent der Universitäten von Yale und Oxford. Er diente in Vietnam und war bei den Marines als Lieutenant tätig. Er wurde während seiner Dienstzeit mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Navy Cross und dem Purple Heart. An seinem ersten Roman “Matterhorn”, in dem er seine eigenen Kriegserfahrungen verarbeitete, arbeitete Karl Marlantes über dreißig Jahre lang. In den USA wurde das Buch bereits kurz nach seinem Erscheinen ein Bestseller.

“Der Krieg zerbrach und zersplitterte das Leben, deshalb gab es keine zweiten Chancen, und sämtliche ersten waren vertan.”

Es ist das Jahr 1969. Während der Westen bereits dominiert wird von einer Protestbewegung gegen den Krieg in Vietnam, kämpfen genau dort – mitten im Dschungel – junge Männer um ihr Leben. Sie kämpfen in einem Krieg, dessen Sinn ihnen keiner erklären kann. Einer dieser Männer ist Waino Mellas. Mellas kommt in diesem Jahr mit neunzehn  Jahren nach Vietnam. Sein Auftrag ist der Aufbau einer Feuerunterstützungsbasis auf einem abgelegenen fiktiven Hügel zwischen Laos und Nordvietnam. Der Hügel wird von den Soldaten auf den Namen Matterhorn getauft. Als sie sich auf dem Matterhorn eingerichtet haben, werden sie in den Dschungel abkommandiert. Sie begeben sich auf eine Operation der Tränen, auf eine Reise ins Grauen, in der sie nicht nur dem Feind ausgeliefert sind, sondern auch der unbeherrschbaren Natur. Geschwächt und dezimiert, aber innerlich gewachsen, führt Mellas seine Kompanie schließlich zurück zum Matterhorn, doch dort muss er feststellen, dass die Vietcong dieses in der Zwischenzeit besetzt haben, genauso wie den umliegenden Helicopter Hill. Waino Mellas und die anderen Soldaten erhalten den Befehl, das Matterhorn zurückzuerobern.

“Allein in Mellas’ Zug gab es vierzig neue Namen und Gesichter und fast zweihundert in der Kompanie, und ob schwarz oder weiß, sie sahen alle gleich aus. Das überforderte ihn. Vom Skipper, dem Kompaniechef, abwärts trugen sie alle den gleichen verdreckten, abgerissenen Tarnanzug ohne Rangabzeichen, ohne Unterscheidungsmöglichkeit. Alle waren sie zu dünn, zu jung und zu erschöpft. Und alle redeten sie gleich, jedes vierte Wort war “Scheiße” oder irgendein Haupt-, Eigenschafts- oder Umstandswort mit diesem Bestandteil. Die drei Worte dazwischen handelten größtenteils von ihrer Unzufriedenheit mit dem Essen, der Post, der Zeit im Busch und den Mädchen, die sie in der Highschool zurückgelassen hatten. Mellas schwor sich, dass er das nicht mitmachen würde.”

Karl Marlantes hat den Krieg, über den er schreibt, selbst erlebt. In der Zeit zwischen 1968 und 1969 kämpfte er im Vietnam, wurde mehrfach verwundet und kehrte als Kriegsheld zurück nach Amerika. Waino Mellas ist in “Matterhorn” so etwas wie sein Alter Ego. Mellas hat sich gleich nach der Highschool bei den Marines verpflichtet, “nicht ausgemalt hatte er sich, dass er in einem Krieg mitkämpfen würde, der bei keinem seiner Freunde Zuspruch fand”. Zu Beginn des Romans ist es schwer, Mellas zu mögen. In den Krieg zieht er vor allem, um Pluspunkte für seinen Lebenslauf zu sammeln. Bei jeder Gelegenheit schielt er nach Orden und Auszeichnungen. Für die Zeit nach dem Militärdienst hat er bereits sein Jurastudium geplant, doch zuvor muss er noch dreihundertneunzig Tage im Dschungel absitzen.

Doch je länger Mellas im Dschungel kämpft, von Blutegeln und Dschungelfäule geplagt wird, Freunde und Kameraden verliert und auch selbst verwundet wird, desto stärker wird ihm klar, dass sich ein Held nicht über Orden und Auszeichnungen definiert. Heldentum entspringt einer inneren Entscheidung, einer Entscheidung, die häufig innerhalb weniger Sekunden getroffen wird. Die meisten heldenhaften jungen Männer aus Mellas Kompanie kehren nie wieder nach Hause zurück. Mellas, der nach seiner Ankunft auf dem Matterhorn gerne so schnell wie möglich Kompaniechef geworden wäre, um in kritischen Situationen einfach in seinem Bunker bleiben zu können und die anderen rauszuschicken, stürzt sich mit seinen Kameraden in eine Operation der Tränen, in der er über sich selbst hinaus wächst. Diese persönliche Entwicklung, die Mellas auf insgesamt 660 Seiten durchläuft, ist sicherlich das zentrale Thema dieses Kriegsromans.

“Mellas betrachtete die versammelte Gruppe von Freunden um ihn herum. Einige davon würden in einer Stunde höchstwahrscheinlich tot sein. Fracasso, der kaum alt genug war, um legal Alkohol trinken zu dürfen, zeigte seine Angst am deutlichsten. In der Hocke auf- und abwippend, schrieb er alles, was er konnte, in sein Notizbuch, die Zähne zu einem angespannten Grinsen gebleckt. Goodwin, der Jäger, war nervös wie ein Läufer vor dem Rennen, besaß jedoch irgendeine archaische Fähigkeit, Männer in Situationen zu führen, in die der Tod auf sie wartete. Kendall, krank vor Angst, das Gesicht bleich, den Helm bereits auf dem Kopf, führte eine Zug, der ihm nicht  traute. Fitch trug schon mit dreiundzwanzig eine Verantwortung, von der die meisten Männer nur redeten. Er war im Begriff, hundertneunzig Jungs ins Gefecht zu führen, und von seinen Entscheidungen hing ab, wie viele davon zurückkommen würden. Die Jungs: Träumten von Urlaub oder erinnerten sich an den Urlaub, aus dem sie gerade zurückgekehrt waren, manche kosteten eine Erinnerung an glatte, braune Haut aus, die sich an ihre presste, ein paar dachten an eine Ehefrau, die sie auf einem klinisch sauberen Flughafen zurückgelassen hatten. Und Mellas: In weniger als einer Stunde gab es ihn vielleicht nicht mehr.”

Daneben spielt aber auch die detaillierte Beschreibung der Kriegsgeschehnisse eine wichtige Rolle. Die Kriegshandlungen werden von Karl Marlantes so realistisch beschrieben, dass sie mitunter schwer auszuhalten sind. Das, was den Soldaten zugemutet wird, ist grausam, fürchterlich und so schrecklich, dass einem die Worte dafür fehlen. In den Kriegshandlungen sterben so viele junge Männer, von denen kaum einer eigentlich wusste, warum er an diesem Krieg teilnahm. Angetrieben werden sie von Colonels, die am Schreibtisch Entscheidungen treffen, ohne jemals ein Schlachtfeld betreten zu haben. Die nach Orden und Auszeichnungen schielen und den Blick dabei lediglich auf möglichst hohe Opferzahlen in der gegnerischen Armee richten, ihre eigene Kompanie aber aus den Augen verlieren.

“Wie die Kompanie, zu erschöpft zum Weitergehen, dennoch weitergegangen war. Hilflos zugesehen hatte, wie die Bomben auf der anderen Seite  des Bergs niedergegangen waren. Der idiotische Jubel – als ob ein Gefecht ein Footballspiel am Freitagabend wäre. Simpsons unglaublicher Befehl während des langen Marsches auf Sky Cap, dass es keine Evakuierung von Verwundeten mehr geben würde. Hippy, verkrüppelt. Die wahnsinnige Schinderei. Die Idiotie. Wie dem neuen MG-Schützen das Blut aus dem Bein quoll. Und Jacobs aus dem Hals. Wozu? Welchen Sinn hatte das Ganze?”

Es ist die Kluft zwischen dem Dschungel und dem Schreibtisch, der in Karl Marlantes Roman immer wieder eindrucksvoll thematisiert wird. Schonungslos und zynisch wird die “Kill ratio” angesprochen, genauso wie die Tendenz, Statistiken im Nachhinein zu verschönern, um besser dazustehen. Colonel Simpson befiehlt wahnwitzige Einsätze, verweigert den Soldaten eine Notfallevakuierung oder eine Nachversorgung und schickt damit viele junge Männer der Kompanie in einen vermeidbaren Tod.

Karl Marlantes ist mit “Matterhorn” ein eindrucksvoller Roman über den Vietnamkrieg gelungen. Beleuchtet wird in diesem Buch nicht nur die persönliche Entwicklung eines jungen Mannes, sondern es wird die viel größere Frage nach dem Sinn insgesamt gestellt. Welchen Sinn hat ein solcher Krieg? Welchen Sinn hat der Tod von jungen Soldaten? Welchen Sinn hat das Leben und Sterben überhaupt? Ein großer, ein großartiger Roman, der mich bewegt hat und nachdenklich zurücklässt.

Im Frühjahr dieses Jahres erscheint im “Arche Verlag” bereits das nächste Buch von Karl Marlantes, bei “Was es heißt, in den Krieg zu ziehen” handelt es sich um ein Sachbuch:

  

10 Comments

  • Reply
    Karthause
    March 6, 2013 at 11:46 am

    Jetzt musste ich doch gerade schmunzeln. Das Buch steht weit vorn auf meiner Wunschliste und ich hatte erst gestern gedacht, dazu hätte ich gern eine Meinung von einem Leser mit einem dem meinen ähnlichen Geschmack. Schon ist sie da. Danke. Auch bei diesem Roman werde ich hinter dir her lesen. 😉

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 6, 2013 at 7:47 pm

      Liebe Heike,
      was für ein lustiger Zufall! 😀 Ich hatte “Matterhorn” schon einige Zeit zuvor in meinem Regal stehen, hatte aber nie einen Dreh gefunden, es auch zu lesen. Irgendwie war es mir immer zu dick und dann war ich mir auch unsicher, ob mir die Thematik gefallen wird. Als ich es dann aber erst einmal in die Hand genommen habe, konnte ich das Lesen kaum noch unterbrechen. Es ist ein großartig erzählter Roman, der mich sehr nachhaltig beeindruckt hat. Ich bin bereits jetzt sehr gespannt auf das nächst Buch des Autors.

  • Reply
    Ken Takel
    March 6, 2013 at 1:30 pm

    Habs auch auf meiner To-read Liste. Und jetzt einen Grund mehr es zu lesen!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 6, 2013 at 7:45 pm

      Das freut mich sehr! 🙂 Ich war mir vor der Lektüre nicht sicher, ob es mir gefallen wird und dann konnte ich es kaum noch aus der Hand legen. Ich bin sehr gespannt, wie es dir gefallen wird!

  • Reply
    il_libraio
    March 6, 2013 at 9:33 pm

    Ich merke langsam, hier werden immer öfter Bücher besprochen, um die ich auch herum schleiche. Eine gute Entscheidungshilfe also. Auch wenn das Konto nicht immer mitspielt. 😉
    Die Wand der Zeit hab ich übrigens auch gelesen…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 8, 2013 at 2:27 pm

      Ich freue mich immer, Entscheidungshilfe sein zu können. Falls du dich für das Matterhorn entscheidet solltest, wirst du es nicht bereuen. Ein wirklich toller Roman, den ich ausgesprochen gerne gelesen habe. 🙂
      Eine Rezension zu “Die Wand der Zeit” habe ich heute veröffentlicht. Wie hat es dir gefallen?

  • Reply
    Was es heißt, in den Krieg zu ziehen – Karl Marlantes | buzzaldrins Bücher
    August 11, 2013 at 10:17 am

    […] ausgezeichnet, unter anderem mit dem Navy Cross und dem Purple Heart. An seinem ersten Roman “Matterhorn”, in dem er seine eigenen Kriegserfahrungen verarbeitete, arbeitete Karl Marlantes über dreißig […]

  • Reply
    Bücher des Jahres! | buzzaldrins Bücher
    December 10, 2013 at 4:48 pm

    […] entdeckt, die ich selbst gelesen habe und die auch mein Lesejahr geprägt haben, erwähnt werden “Matterhorn” von Karl Marlantes und “Alles, was ist” von James Salter. Das einzige Buch, das […]

  • Reply
    Karl Marlantes – Matterhorn und Was es heißt, in den Krieg zu ziehen | Lesen macht glücklich
    August 19, 2014 at 7:53 pm

    […] den Autor und seine beiden Bücher aufmerksam geworden bin (klickt für die Besprechung einfach auf Matterhorn oder Was es heißt, in den Krieg zu ziehen). An dieser Stelle vielen Dank für deine eindrückliche […]

  • Reply
    [Rezension]: Karl Marlantes – Matterhorn und Was es heißt, in den Krieg zu ziehen | Lesen macht glücklich
    August 4, 2015 at 8:29 pm

    […] den Autor und seine beiden Bücher aufmerksam geworden bin (klickt für die Besprechung einfach auf Matterhorn oder Was es heißt, in den Krieg zu ziehen). An dieser Stelle vielen Dank für deine eindrückliche […]

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