Bodo Kirchhoff wurde 1948 geboren und lebt abwechselnd in Frankfurt am Main und am Gardasee. In Italien gibt er zusammen mit seiner Frau im Sommer Schreibkurse. Bisher erschienen von ihm bereits eine Vielzahl an Romanen, unter anderem “Infanta”, “Parlando”, “Schundroman”, “Wo das Meer beginnt” und “Eros und Asche”. “Die Liebe in groben Zügen” ist sein neuester Roman. Das Buch erschien im vergangenen Jahr und stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreis. Erst vor kurzem wurde Bodo Kirchhoff in einem sehenswerten Interview vorgestellt.
“Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam.”
In “Die Liebe in groben Zügen” erzählt Bodo Kirchhoff die Geschichte von Vila und Renz. Vila und Renz sind ein miteinander älter gewordenes Ehepaar, die gemeinsame Tochter ist erwachsen und schon länger ausgezogen. In Frankfurt haben sie eine kleine Wohnung, in Italien ein ganzes Haus – dort verbringen sie ihre Sommermonate. Sie haben ein großes Netzwerk an Freunden und Weggefährten, mit denen sie gemeinsam durchs Leben gehen.
“Schon immer hat sie ihn beim Nachnamen genannt, zärtlich rau – sein Bernhard klang ihr zu bieder, zu dumm -, und im Gegenzug schuf er aus ihrem ganzen Namen, Verena Wieland, die Vila, die sie von da an war. Bis auf weiteres, Vila und Renz!”
Vila moderiert die Mitternachtstipps, eine Kultursendung, die es im Fernsehen ins Spätprogramm geschafft hat und dort ums Überleben kämpft. Renz schreibt Drehbücher für Vorabendserien. Ihr Leben verläuft in scheinbar geregelten Bahnen, bis dieser Alltag urplötzlich und in rasender Geschwindigkeit porös wird und Risse bekommt: Vila verliebt sich in den Untermieter ihres italienischen Domizils. Kristian Bühl ist vieles, was Renz nicht ist. Aber auch Renz findet Liebe und Geborgenheit woanders, bei seiner Producerin Marlies, die Brustkrebs im Endstadium hat. An einer Stelle vergleicht Bodo Kirchhoff alte Paare mit Archiven, “weh dem, der sie öffnet”. Das Archiv von Vila und Renz wird von einem Moment auf den anderen aufgerissen und das Leben der beiden, das zuvor scheinbar so gleichförmig verlief, gerät plötzlich aus dem Takt. Deutlich wird dabei, dass das Leben der beiden schon lange unrund läuft, auch wenn die Erschütterung noch nie so groß gewesen ist, wie jetzt.
“Und trotzdem blieb man zusammen Jahr für Jahr – trennen kann sich jeder, also trennte er sich nicht […].”
Beide durchleben einen Sommer, wie sie ihn zuvor noch nie erlebt haben. Vila stürzt sich beinahe rettungslos und mit einer kaum zu ertragenden Intensität in die aufflammende Liebe zu Bühl, in eine Liebe, die ihr fast wie ein Schrecken und ohne Vorzeichen begegnet. Renz steht hilflos daneben, verweigert es sich selbst, etwas von dem nahezu wahnsinnigen Zustand seiner Frau zu bemerken und doch spürt er, dass sich zwischen ihnen etwas verändert. Ernüchtert muss er feststellen, dass es zwischen ihnen nicht mehr so wird, wie er es sich erträumt hat.
“Das ganze Geheimnis der langen Ehe besteht darin, dass die Dinge von allein funktionieren, am Anfang alle schönen, dann auch die weniger schönen, zuletzt sogar die schrecklichen, die man teilt, und dazwischen die Ausnahmestunden, manchmal auch Ausnahmetage, die das Schlimmste verhindern.”
Bodo Kirchhoff erzählt jedoch nicht nur die Geschichte von Vila und Renz, sondern auch die von Franz von Assisi und der heiligen Klara. Bühl schreibt über dieses Thema ein Buch und Renz möchte den Stoff in einem Fernsehzweiteiler verarbeiten. Franz und Klara verbinden den Ehemann und den Geliebten, ohne dass Renz dies wirklich ahnt. Die Geschichte von Franz und Klara fließt in die laufende Erzählung mit ein und bildet den Rahmen der Ehe von Vila und Renz, die in große Turbulenzen geraten ist. Gleichzeitig verarbeitet Bodo Kirchhoff in diesem breit angelegten Erzählepos auch seine eigenen traumatischen Erinnerungen, denn es geht auch um den Missbrauch von Jugendlichen im Internat. Dies ist Bühl widerfahren, aber auch dem Autor Bodo Kirchhoff selbst.
Sechs Jahre lang hat Bodo Kirchhoff an seinem Roman “Die Liebe in groben Zügen” gearbeitet. Entstanden ist dabei ein Roman, der beinahe 700 Seiten umfasst. Auf diesen 700 Seiten versammelt der Autor eine Vielzahl an unterschiedlichen Handlungssträngen und Fäden, die trotz ihrer Fülle alle beinahe schon auf wundersame Weise in einander greifen und sich gegenseitig ergänzen. Bei dieser Ideenvielfalt erstaunt es kaum, dass der Autor sich an einer Stelle im Roman sogar seinen eigenen Auftritt verschafft. Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte von Franz und Klara, die bereits so viele Jahrhunderte zurückliegt, doch in die heutige Welt eingewoben wird, als würde sie dahin gehören. Bodo Kirchhoff spart nicht an Anspielungen und Verweisen, so ist es auch kein Zufall, dass Vila und Renz bevorzugt im ehemaligen Hotelzimmer von André Gide nächtigen.
Hauptthema des Romans ist natürlich die Liebe, die alt bewährte Liebe zwischen einem Ehepaar wie Vila und Renz, das schon so lange zusammenlebt, aber auch die frisch entfesselte Liebe, wie die zu Kristian Bühl. An einer Stelle im Roman fragt sich Vila: “[…] war sie krank, neben der Spur, von allen guten Geistern verlassen”? Vila hat gemeinsam mit Bühl einen Zustand an Glück und Zufriedenheit erreicht, der nicht für die Ewigkeit bestimmt ist, der ihr aber erlaubt in einer Tiefe zu fühlen, in der viele Menschen ihr Leben lang nicht fühlen. Wie hoch ist der Preis, den man bereit ist, dafür zu zahlen?
Bodo Kirchhoff webt in “Die Liebe in groben Zügen” einen weit verzweigten Erzählteppich, der mich als Leser förmlich verschluckt und verschlungen hat. Die beschriebenen Personen sind untereinander so vielfältig miteinander verbunden und auch die Geschichte reicht von Frankfurt über Italien bis nach Havanna. Auf einem hohen literarischen Niveau seziert Bodo Kirchhoff in seiner Geschichte die Liebe, die also ganz und gar nicht in groben Zügen beschrieben wird, sondern ganz im Gegenteil: beinahe ausufernd wird ihr Zustand untersucht, doch dabei bleibt der Roman immer fesselnd. Dies ist großartige deutsche Literatur und ich wünsche Bodo Kirchhoff und seinem Roman möglichst viele Leser.
14 Comments
Karthause
April 2, 2013 at 11:48 amDanke für diese schöne Rezi zu einem besonderen Buch. Mir hat es auch ausgesprochen gut gefallen. Aber uns verbindet nicht nur die gleiche Meinung zu diesem Roman, sondern die von dir genannten Zitate, hatte ich mir auch notiert. Viele Grüße Heike
buzzaldrinsblog
April 4, 2013 at 3:07 pmLiebe Heike,
was für ein toller Zufall mit den Zitaten, das freut mich sehr. Auch freue ich mich darüber, dass du den Roman auch gerne gelesen hast. Für mein Empfinden ist Bodo Kirchhoff ein großer literarischer Wurf gelungen.
Karo
April 2, 2013 at 12:06 pmLetztes Jahr war Kirchhoffs Eheroman nicht zuletzte wegen der Buchpreis-Nominierung ja in aller Munde. Ich hab es leider noch nicht geschafft, ihn zu lesen. Vielleicht auch, weil mich diese distinguierte Snobwelt von Vila und Renz zwischen Kulturbetrieb und italienischem Dolce Vita so abschreckt – das ist doch für die meisten Leser haushoch an der eigenen Lebenswirklichkeit vorbei. Wer soll sich denn damit identifizieren? Aber literarisch ist Kirchhoff da sicher ein große Wurf gelungen.
buzzaldrinsblog
April 4, 2013 at 3:05 pmLiebe Karo,
ich kann deinen Kommentar sehr gut nachempfinden. Die Welt von Vila und Renz, so wie sie von Bodo Kirchhoff beschrieben wird, ist in der Tat abgehoben und sehr weit entfernt von vielen Lebenswelten potentieller Leser. Beim Lesen selbst hat mich dies aber nicht unbedingt gestört, auch wenn vieles was von Kirchhoff beschrieben wird, wie ein Klischee anmutet.
Doch wenn man darüber hinweg sehen kann, wird man mit einem literarisch außergewöhnlichen Buch beschenkt, das mich neugierig macht auf das weitere Werk des Autors, ansonsten kenne ich nämlich leider noch nichts von Bodo Kirchhoff. 🙂
Kira
April 5, 2013 at 2:29 pmHi Karo,
ich teile deine Kritik an der snobstischen Vila-Renz-Welt und muss seit Ostern bei jedem Jaguar auf der Straße an die Protagonisten mit ihrem italienischen Zweithaus denken … gelesen habe ich das Ganze trotzdem gerne. Ein anderes (älteres) Buch des Autors dürfte dir gefallen: Parlando, hier kommt die Missbrauchsgeschichte im katholischen Internat zwar sehr ausführlich dran, dafür wird aber viel gereist und es gibt eine Liebesgeschichte mit Todesfall.
Kira
buzzaldrinsblog
April 6, 2013 at 2:52 pmLiebe Kira,
schön, deinen Kommentar hier zu finden, da du das Buch ja auch gelesen hast. Die Welt, die Kirchhoff beschreibt, ist in der Tat “realitätsfern” – zumindest für viele Leser und Leserinnen. Ich habe das Buch aber auch gerne gelesen, trotzdessen. Parlando werde ich mir auf jeden Fall mal notieren, der Titel klingt sehr interessant. Ganz herzlichen Dank dir für diesen Tipp! 🙂
buchpost
April 2, 2013 at 5:57 pmLiebe Mara, noch bin ich standhaft 🙂 Ich werde auf die Taschenbuchausgabe warten, bestimmt, ganz bestimmt. LG Anna
buzzaldrinsblog
April 4, 2013 at 3:02 pmLiebe Anna,
ich bin gespannt, wie lange du noch widerstehen kannst! 🙂 Für mich ist dies ein wirklich großartiger Roman und ich wäre sehr auf andere Blogstimmen dazu gespannt.
dasgrauesofa
April 2, 2013 at 6:01 pmLiebe Mara,
Du hast wieder eine so schöne Besprechung geschrieben – dass ich fast denke, ich müsste den Roman doch noch zu Ende lesen.
Ich muss gestehen, ich habe ihn nach über 200 Seiten zur Seite gelegt, obwohl er gut erzählt ist und auch diesen sehr genauen, einen geradezu entlarvenden Blick auf die Figuren hat. Ich glaube, mir ist dieser K(r)ampf zwischen Vila und Renz auf die Nerven gegangen. Sie kennen sich nach den vielen Jahren so gut, dass sie ganz genau wissen, wie sie sich wunderbar und nachhaltig verletzen können und das tun sie auch ständig. Und im Ton ähnlich überzogen habe ich auch die beiden Liebesaffären und die merkwürdige Reise nach Havanna empfunden. Meins war es nicht, aber vielleicht bin ich auch zu ungeduldig gewesen.
Liebe Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
April 4, 2013 at 3:00 pmLiebe Claudia,
ach, ich finde es sehr spannend, dass du das Buch zur Seite gelegt hast und ich kann die Gründe auch sehr gut nachvollziehen. Der Ton ist in der Tat sehr speziell, da dies mein erstes Buch von Kirchhoff war, kann ich leider nicht beurteilen, ob dies ein typischer Kirchhoff-Roman ist und in welchem Tonfall seine anderen Bücher gehalten sind. Die Reise nach Havanna ist merkwürdig und doch gehört sie zu diesem Handlungsstrang, der mit dazu beiträgt, dass die Ehe zwischen Vila und Renz langsam aber immer deutlicher aufbricht. Ich hatte viel Zeit und Ruhe für das Buch und durchhalten lies mich vor allem auch die Geschichte von Franz und Klara, die immer wieder mit eingewoben wird und mich förmlich an dem Buch kleben lies. Ich bin gespannt, ob du es irgendwann noch einmal zur Hand nehmen wirst und einen Lektüreversuch startest.
Liebe Grüße
Mara
B.ee
April 2, 2013 at 8:21 pmLiebe Mara,
ich hatte diesen Roman lange auf meiner Liste stehen, nachdem er vergangenes Jahr so oft besprochen wurde. Doch dann verlor ich doch das Interesse daran. Ich habe ihn mal neu auf die Schnüffelliste gesetzt und werde es beim nächsten Bibliotheksbesuch ins Körbchen legen. (Im Moment bin ich ja ganz heiß auf “Die Rückkehr der Jungfrau Maria”)
buzzaldrinsblog
April 4, 2013 at 2:56 pmÜber die Die Rückkehr der Jungfrau Maria habe ich erst letztens bei Klausbernd Vollmar gelesen und habe den Titel sofort auf meine Leseliste gesetzt. Ich bin schon ganz gespannt darauf, wie du das Buch finden wirst! 🙂 Bodo Kirchhoff kann ich dir derweil nur ans Herz legen, sein Buch ist sicherlich außergewöhnlich, aber höchst lesenswert. Man erfährt sehr vieles über unterschiedliche Liebeszustände. 😉
Karin Braun
April 5, 2013 at 10:42 amLiebe Mara, das Buch liegt auf meinen Nachtisch und ich habe nur noch 400 Seiten von “Ein plötzlicher Todesfall” von Joanne K. Rowling, dann kann ich es angehen. Nach deiner Rezension, scharre ich schon mit den Hufen.
Alles Liebe Karin
buzzaldrinsblog
April 6, 2013 at 2:53 pmLiebe Karin,
Joanne K. Rowling wollte ich im vergangenen Jahr eigentlich auch lesen, doch dann bin ich irgendwie davon abgekommen. Ich bin gespannt, wie dir der Kirchhoff gefallen wird und auf deine Eindrücke zu Vila, Rent und ihrer Liebeswelt. 🙂