Des Fremden Kind – Alan Hollinghurst

Download (36)Alan Hollinghurst wurde 1954 in Stroud geboren, studierte in Oxford und arbeitete als Literaturkritiker für das “Times Literary Supplement”. Hollinghurst hat zahlreiche Preise erhalten, bekannt geworden ist er vor allem durch den Gewinn des Booker Prize für seinen Roman “Die Schönheitslinie”. Alan Hollinghurst lebt mittlerweile in England; “Des Fremden Kind” ist sein fünfter Roman.

“Er wollte Erinnerungen von ihr, aber er war noch zu jung, um zu wissen, dass Erinnerungen nur Erinnerungen von Erinnerungen waren. Frische Erinnerungen waren so selten wie Diamanten.”

In “Des Fremden Kind” erzählt Alan Hollinghurst eine Geschichte, die beinahe 100 Jahre umfasst und im Sommer 1913 beginnt. Die damals sechzehnjährige Daphne Sawle wartet aufgeregt darauf, dass in ihrem eintönigen Alltag endlich einmal etwas passiert. Ihr Bruder George bringt zum ersten Mal einen Freund und Kommilitonen aus Cambridge mit nach Hause: Cecil Valance, in Cambridge ein heimlicher Star und aufstrebender Dichter. Daphnes einziges Ziel für das Wochenende ist, Cecil zu beeindrucken und seine Aufmerksamkeit zu gewinnen – das gelingt ihr so gut, dass der junge Autor nicht nur ein Gedicht für sie schreibt, sondern dass sich ihr Leben nach diesem Wochenende für immer nachhaltig verändern wird.

Im Ersten Weltkrieg stirbt Cecil Valance, er hinterlässt das Gedicht, das er ursprünglich für Daphne geschrieben hat, das nach seinem Tod aber zu einem Symbol einer ganzen Generation wird. In den folgenden Jahrzehnten ranken sich Mythen und Gerüchte um das Leben und Werk des zurückgezogenen Dichters und ganz unterschiedliche Menschen begeben sich auf eine literarische Spurensuche.

“Manchmal überkam ihn wellenartig das Gefühl, das riesige unerforschte Terrain von Cecils Leben liege zum Greifen nahe und bleibe dennoch hartnäckig verborgen, wie eine einmalige Gelegenheit, die sofort vereitelt wurde.”

Im Vordergrund dieser Suche steht jedoch nicht nur das Werk von Cecil Valance, sondern vor allem auch sein Privatleben, seine Beziehungen und seine sexuelle Orientierung, denn Cecil Valance soll homosexuell gewesen sein. Homosexualität ist ein Thema, dem sich Alan Holinghurst in all seinen Romanen bisher gewidmet hat.

“Er selbst hatte das Gedicht gründlich satt, spürte dennoch gedämpfte Freude, dass es mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Er war angeödet und peinlich berührt von der Popularität der Verse; dass sie ein Geheimnis bargen, amüsierte ihn eher, und dass man dies niemals preisgeben durfte, beruhigte ihn auf traurige Weise. Manche Passagen, die Cecil ihm vorgelesen hatte, waren nicht veröffentlicht, nicht zur Veröffentlichung bestimmt und jetzt vermutlich für immer verloren. Das englische Idyll hatte seine geheimen Abschnitte, unzüchtige Figuren in Bäumen und Büschen …”

Als erster wagt sich sein ehemaliger Verleger an die Aufgabe, ein Porträt des Dichters zu veröffentlichen. Bei seiner Arbeit stößt er bei der Familie von Cecil Valance jedoch auf ein eisiges Schweigen. Erst als Paul Bryant, der Banker mit Leidenschaft für Literatur, sich für eine Biographie auf die Spuren des Dichters begibt, kommen Dinge ans Licht, über die jahrelang der Mantel des Vergessens gebreitet wurde.

“Ihr fiel wieder ein, was sie schon immer gewusst hatte, nämlich, dass diese Briefe niemals herausgegeben werden durften, auch wenn dieses Bewusstsein durch die kurzlebige Vorstellung, sich ihrer zu erleichtern, etwas abgeschwächt wurde.”

Alan Hollinghurst ist mit “Des Fremden Kind” eine großartige Geschichte einer fiktiven literarischen Biographie gelungen. Damit verknüpft werden spannende Fragen danach, wie sich Erinnerung konstruiert, wie Menschen über Jahrzehnte hinweg von anderen und in der Öffentlichkeit in Erinnerung behalten werden und wie sich das Ansehen und die Wahrnehmung von öffentlichen Personen im Laufe der Zeit wandeln und verändern kann. Der zeitliche Rahmen des Romans reicht von 1916 bis 2008. Diese breite Zeitspanne sorgt für ein umfangreiches Panorama, das mehrere historische Wendepunkt abdeckt. Neben der Historie war für mich aber besonders die Personengestaltung faszinierend: einige der beschriebenen Personen werden vom Leser über mehrere Jahrzehnte begleitet. Personen, die zu Beginn des Romans im Mittelpunkt stehen, verschwinden im Laufe der Geschichte immer stärker aus dem Fokus, andere rücken dafür plötzlich aus einer Nebenrolle in den Mittelpunkt. Auch wenn Cecil Valance im Ersten Weltkrieg im Kampfeinsatz fällt, steht der Krieg nicht unbedingt im Vordergrund der Geschichte, auch wenn es genau dieser Krieg ist, der für die aufkommende Popularität des Gedichts von Valance sorgt.

“Würde die Ära der Gerüchte bald von einem Zeitalter der Dokumentation abgelöst werden?”

Das ist die zentrale Frage des Romans, die förmlich über dem 700 Seiten starken Buch schwebt. Ist es überhaupt möglich das Leben eines Menschen für eine Biographie auf Papier zu bannen? Und kann es gelingen, dabei ein vollständiges Bild zu vermitteln? Wie kann man unterscheiden zwischen Erinnerung und Gerüchten, zwischen Wahrheit und Fiktion und welche Macht kann eine Biographie haben? Kann sie das Bild eines Menschen verändern? Neben diesen Fragen steht aber auch der Umgang mit Homosexualität im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt des Romans: wie frei konnten die Menschen damals mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen?

Alan Hollinghurst widmet seinen Roman dem Dichter Mick Imlah, der 2009 an einer schweren Erkrankung verstarb. In einem Interview erklärt Hollinghurst, wie es zu dieser Widmung kam und wie erschreckend sich in seinem Roman plötzlich Realität und Fiktion verbunden haben.

“It was very extraordinary because I designed the book long before he got ill,” he says, “and then the book was sort of about a poet dying – woven through with themes of shared interest, Tennyson and so forth.”

Der Titel des Romans – “Des Fremden Kind” – entstammt einem Gedicht von Alfred Lord Tennyson: “Bis Garten, Mondlicht, Teich und Wind / Sanft in Verwandlung gehen ein / Und Jahr um Jahr der ganze Hain / Vertrauter wird des Fremden Kind”.

Dem britischen Schriftsteller Alan Hollinghurst ist mit “Des Fremden Kind” ein faszinierender und großartiger Roman gelungen, der auf knapp 700 Seiten ein breites thematisches Spektrum abdeckt. Es geht um die Biographie und die Erinnerung, aber auch um Homosexualität und das Leben mit Geheimnissen. Alan Hollinghurst erweist sich dabei nicht nur als herausragender Erzähler, sondern vor allem auch als großartiger Komponist, der alle einzelnen Erzählfäden souverän in den Händen hält. Die literarische Spurensuche auf den Fersen des Dichters Cecil Valance ist voller Spannung, wodurch der Roman, trotz seiner Dicke, flüssig und gut zu lesen ist.

15 Comments

  • Reply
    Petra Gust-Kazakos
    April 8, 2013 at 2:38 pm

    Klingt wirklich großartig, liebe Mara. Muss auf die Liste!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 8, 2013 at 2:47 pm

      Freut mich, dass die Besprechung dir Lust gemacht hat! 🙂 Das Buch ist großartig, schade, dass es in der Blogwelt für mein Gefühl bisher noch nicht ganz so viel Aufmerksamkeit erhalten hat.

  • Reply
    julesiswriting
    April 8, 2013 at 4:09 pm

    Wie schaffst Du es nur immer wieder, einen Wälzer auf eine einzige Seite runter zu reißen, dabei alle inhaltlich wichtigen Details zu beleuchten und das in solch wunderbarer Sprache?! Wenn das Buch nur halb so gut geschrieben ist wie Deine Beurteilung, muss ich es haben! (Komisch, das hab ich in letzter Zeit öfter gedacht, und das auch hier auf dieser Seite…), stirnrunzelnde Grüße, Julia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 10, 2013 at 11:48 am

      Liebe Julia,
      über deine Worte und dein Kompliment bezüglich meiner Besprechungen habe ich mich unheimlich gefreut. 😀 So viel lese ich aber auch nicht, auch wenn dieser Eindruck vielleicht immer wieder entsteht. Rezensions- und Lesetempo sind bei mir aber einfach nicht deckungsgleich. An den freien Ostertagen habe ich beispielsweise sehr viel gelesen, während ich nun unter der Woche auch schon fast eine Woche an meiner neuen Lektüre herum lese. Zum Glück habe ich ein recht großes Archiv an Rezensionen, auf das ich zurückgreifen kann.
      Liebe Grüße an meine Musikexpertin 🙂

  • Reply
    buchpost
    April 8, 2013 at 4:41 pm

    Hach, das kommt auf die Liste. Danke für die Besprechung. LG Anna

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 10, 2013 at 11:46 am

      Liebe Anna,
      ich könnte mir vorstellen, dass es dir gefallen wird! 🙂 Ich freue mich, dass es auf deiner Liste steht!

  • Reply
    Karo
    April 9, 2013 at 6:00 am

    Ich wünschte, ich könnte so schnell so viel lesen wie du, liebe Mara! Wie schaffst du das nur? Der Roman klingt auf jeden Fall superinteressant und ich habe vorher noch nie davon gehört. Danke für den Tipp!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 10, 2013 at 11:45 am

      Liebe Karo,
      das Buch hat zwar über 600 Seiten, lässt sich aber aufgrund der Spannung und des eingängigen Erzähltons recht schnell lesen. 🙂 Ich glaube sowieso, dass der Eindruck, dass ich viel lese täuscht. Rezensionstempo und Lesetempo sind bei mir aber einfach nicht deckungsgleich, deshalb entsteht vielleicht dieser Eindruck.

  • Reply
    Mariki
    April 9, 2013 at 12:21 pm

    Boah, ich hab mich sooo unfassbar gelangweilt bei diesem Roman! Den Anfang fand ich toll, aber dann all die vielen Nebenfiguren und drögen Dialoge … alles drehte sich nur mehr um Erinnerungen im Nachhinein, wo alles längst vorbei war, ich hätte es lieber direkt miterlebt.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 9, 2013 at 12:31 pm

      Liebe Mariki,
      schade, dass dir das Buch nicht so gut gefallen hat, wie mir. Langweilig oder auch dröge fand ich das Buch überhaupt nicht, da ich es aufgrund der unterschiedliche Perspektiven und zeitlichen Ebenen unheimlich spannend konstruiert fand. Erinnerung und wie diese konstruiert wird und sich im Laufe der Zeit verändern kann, ist in der Tat ein zentrales Thema des Romans, ein Thema, das ich unheimlich spannend finde. 🙂
      Interessant, wie unterschiedlich die Wahrnehmung eines Buches sein kann!
      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Mariki
        April 9, 2013 at 12:52 pm

        Da hast du recht! Ich war total gespannt auf das Buch, weil es so viele gute Kritiken hat. Aber mein Interesse ist immer mehr geschwunden während der Lektüre … zum Teil fand ich die Nachkommen in ihren Verhaltensweisen und der Art, wie sie abfällig geredet haben über die Älteren, richtig blöd. Aber umso besser, wenn es dir gefallen hat und du begeistert bist – ich bin in diesem Fall wohl einfach eine Ausnahme. Hab’s auch auf Englisch gelesen, vielleicht hab ich deshalb nicht so viel Geduld aufgebracht 😉

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          April 10, 2013 at 11:42 am

          Liebe Mariki,
          wer weiß, vielleicht lag es bei dir in der Tat an der “Sprachbarriere”. Ich bin keine gute Englischleserin und hätte das Buch auf Englisch sicherlich nicht genießen können.
          Ich finde es aber interessant, sich über ein Buch auszutauschen, dass man jeweils so unterschiedlich empfunden. Ich habe die Nachkommen (von Cecil valance selbst gibt es ja “eigentlich” gar keine Nachkommen) und ihr Verhalten z.B. gar nicht als komisch oder blöd empfunden. Vielleicht solltest du es irgendwann noch einmal mit der deutschen Ausgabe versuchen, aber vielleicht war das Buch auch einfach nicht dein Geschmack – so etwas gibt es ja auch! 🙂

  • Reply
    dasgrauesofa
    April 10, 2013 at 10:10 am

    Liebe Mara
    Deine Besprechung liest sich wieder so schön, dass ich den Titel DRINGEND auf meine Leseliste setzen muss. Auch dies ist wieder ein Buch, das normalerweise völlig an meiner Aufmerksamkeit vorbeigewandert wäre, es hört sich aber sehr intressant an, wie der Autor das Thema der Erinnerung und auch der Wahrheit (was ist überhaupt die Wahrheit?) verarbeitet. Wieder: vielen Dank!
    Liebe Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 10, 2013 at 11:39 am

      Liebe Claudia,
      ich habe vor Jahren bereits etwas von Alan Holloinghurst gelesen, so dass ich sofort aufmerksam darauf wurde, dass es endlich etwas neues von ihm gibt. Ohne diese Vorinformation hätte mich das Buch rein vom Cover her möglicherweise nicht wirklich angesprochen.
      Genau diese Themen finde ich auch unheimlich spannend: Erinnerung und die Wahrhaftigkeit dieser. Wann sind Erinnerungen überhaupt wahr und wirkliche Erinnerungen? Oder werden die Erinnerungen an eine Person sowieso immer durch die Zeit beeinflusst, die vergeht?
      “Des Fremden Kind” ist sicherlich kein actiongeladenes Buch, um noch einmal auf Marikis Kommentar zurückzukommen, aber dennoch sehr lesbar. 🙂

      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    Das war wohl nichts | Bücherwurmloch
    July 7, 2013 at 7:26 pm

    […] Gegensatz zu den begeisterten Kritikern und Mara von buzzaldrins Bücher konnte ich Alan Hollinghursts Roman A stranger’s child nichts […]

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