Über Meereshöhe – Francesca Melandri

Francesca Melandri wurde in Rom geboren und ist Autorin von Drehbüchern für Fernseh- und Kinofilme. Mit “Eva schläft” erschien vor einigen Jahren ihr Romandebüt, mit dem sie sowohl in Italien als auch in Deutschland erfolgreich war. Ihr neues Buch, das im italienischen Original “Più alto dell mare” heißt, wurde von der italienischen Kritik gefeiert.

In ihrem Roman “Über Meereshöhe” führt Francesca Melandri zwei ganz unterschiedliche Charaktere an einem ganz besonderen Ort zusammen: “Es roch nach Salz, nach Feigen und Strohblumen” – die Welt, die Francesca Melandri mit diesen Wort beschreibt, ist die Welt eines Hochsicherheitsgefängnis, das sich auf einer Insel befindet. Luisa ist eine Bäuerin aus der Toskana, die dort ihren Mann besucht, der schon immer zu Gewalttaten neigte. Ihre fünf gemeinsamen Kinder bleiben alleine zu Hause zurück, wenn Luisa sich auf ihre mehrtägige Reise begibt. Während ihres Gefängnisbesuchs trifft Luisa auf Paolo, einen frühzeitig pensionierten Lehrer.  Er hat gleich zwei Menschen verloren: sein Sohn verbüßt als Terrorist eine Haftstrafe – seine Frau ist kurz darauf gestorben. An Kummer, glaubt Paolo. Paolo versucht immer noch zu verstehen, wie all das passieren konnte. Er versucht dies seit drei Jahren, sechs Monaten und ein paar Tagen.

“Denn will man jemanden wirklich absondern vom Rest der Welt, gibt es keine Mauer, die höher wäre als die See.”

Begleitet wird die Begegnung von Pierfrancesco Nitto, der als Strafvollzugsbeamter auf der Insel arbeitet – die Insel ist sein Zuhause. Es ist das Meer, das schier unüberwindbar das Gefängnis vom Rest der Welt trennt. Die Meerenge, über die das Gefängnis zu erreichen ist, ist schmal und gefährlich. Die Mauern des Gefängnisses sind hoch und stabil, doch nicht nur für die Gefangenen. Auch Luisa und Paolo haben Mauern um sich erreichtet: Mauern des Schweigens und Mauern der Scham. Wer möchte schon darüber sprechen, dass sein Sohn zu einem Mörder geworden ist? Wer möchte davon erzählen, dass der eigene Mann eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt. Doch auch für Pierfrancesco Nitti scheinen die Gefängnismauern unüberwindlich: sie sperren ihn in einer Arbeitswelt ein, in der er kaum positive Erlebnisse hat. Über die Beschimpfungen und gewaltsamen Übergriffe der Gefangenen spricht er mit seiner Frau schon lange nicht mehr.

“Mit der Verhaftung wurde alles anders. Emilias Erleichterung zu wissen, wo sich ihr Sohn aufhielt, war nur von kurzer Dauer. Und verschwand endgültig, als sie und Paolo über die Hauptanklagepunkte unterrichtet wurden: drei Morde, wie Hinrichtungen ausgeführt, dazu einige bewaffnete Raubüberfälle und unzählige kleinere Delikte. Im Nachhinein war Paolo völlig klar: Es war dieser Zeitpunkt, als Emilia zu sterben begann.”

Zusammengeführt werden die drei aufgrund des Maestrale, eines Sturms, der ein Übersetzen der Fähre durch die Meerenge unmöglich macht und durch den Unfall eines Gefängnistransports. Es ist also ein Zufall, der dafür sorgt, dass sie über Nacht auf der Insel zurückbleiben müssen.  Durch diese Begegnung stellen Luisa und Paolo, die aus ganz unterschiedlichen Schichten und Hintergründen kommen, fest, dass sie doch mehr verbindet, als sie zunächst geglaubt haben.

“Es war das erste Mal, dass dieser schöne junge Mann mit den breiten Schultern, der sie kaum ein Jahr zuvor zum Tanzen ausgeführt hatte, plötzlich ein anderer wurde, sich verwandelte, in etwas Unheimliches, das mit den Jahren immer stärker werden sollte und immer häufiger, wie ein anmaßender Doppelgänger, sein schönes Lächeln vertrieb.”

Wenn fürchterliche und schwer zu erklärende Gewalttaten geschehen, richtet sich der Blick häufig auf die Opfer und die Täter dieser Verbrechen. Vergessen werden dabei die engsten Angehörigen der Täter, die nicht nur unter der Tat leiden, sondern diese häufig weder kommen sahen, noch verstehen können. Paolo ist zu erschöpft, um weiterhin seiner Arbeit als Lehrer, die er einmal so geliebt hat, nachzugehen. Seine geliebte Frau Emilia hat er verloren und sein Sohn sitzt im Gefängnis. Paolo kann ihn dort zwar besuchen, doch er kommt nicht mit ihm ins Gespräch. Die Beweggründe seines Sohnes bleiben für ihn ein Rätsel. Luisas Mann war schon immer gewalttätig, auch gegen sie. Trotzdem begibt sich immer wieder auf eine weite Reise, um ihn zu besuchen. Dies geschieht jedoch schon lange nicht mehr aus Liebe, sondern erfolgt vielmehr wie eine lästige Verpflichtung.

Francesca Melandri ist mit “Über Meereshöhe” ein wunderbar poetischer Roman gelungen, dem es trotz seiner reduzierten Sprache gelingt, eine stellenweise beklemmende atmosphärische Dichte zu vermitteln. Melandri erzählt die Geschichte von Luisa und Paolo, die beide die schmerzhafte Entdeckung machen mussten, dass die Menschen, die sie am meisten geliebt haben, nicht die gewesen sind, für die sie sie gehalten haben. “Über Meereshöhe” ist ein ruhiges und unaufgeregtes Buch, das aber dank einer beeindruckenden Wort- und Sprachgewaltigkeit zu beeindrucken und zu überzeugen weiß.

6 Comments

  • Reply
    haushundhirschblog
    May 11, 2013 at 4:38 pm

    Herzlichen Dank für Deine Rezension! Ich möchte das Buch unbedingt lesen, allerdings wäre ich ohne Deine feine Besprechung vermutlich nicht auf das Buch aufmerksam geworden.
    Was mir auch gefällt: “Vergessen werden dabei die engsten Angehörigen der Täter, die nicht nur unter der Tat leiden, sondern diese häufig weder kommen sahen, noch verstehen können.”

    LG mb

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 13, 2013 at 1:20 pm

      Liebe mb,
      ich war durch Zufall auf das Buch aufmerksam geworden und dann hat es mich sofort gepackt. Ausschlaggebend dafür war sicherlich die poetische Sprache des Romans, aber vor allem auch der inhaltliche Aufbau und die Tatsache, dass die Autorin ihren feinen Blick auf zwei so unterschiedliche Angehörige richtet, die doch eine Gemeinsamkeit haben.
      Eine wirklich tolle Lektüre, die mich neugierig darauf macht, auch den ersten Roman der Autorin zu entdecken. 🙂

  • Reply
    caterina
    May 12, 2013 at 8:14 pm

    Buch liegt bereit! Bin schon sehr gespannt darauf, Mariki hatte es ja auch schon so positiv besprochen. Das Thema finde ich sehr spannend und originell, das hat man so noch nicht gelesen (ich zumindest nicht)…
    Liebe Grüße!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 13, 2013 at 1:08 pm

      Liebe Caterina,
      oh, dass freut mich! Bei italienischer Literatur musste ich natürlich auch gleich an dich denken – wirst du es im Original lesen? Thematisch habe ich auch noch nichts vergleichbares gelesen und auch literarisch hat es mir ausgesprochen gut gefallen. “Eva schläft” liegt hier bereits und wartet darauf gelesen zu werden. 🙂

      • Reply
        caterina
        May 13, 2013 at 1:23 pm

        Ja, ich habe die italienische Ausgabe bei mir liegen – hab ich damals bei meinem Agenturpraktikum in Mailand abgestaubt ;). Seither liegt es ungelesen in meinem Regal, was sich angesichts deiner fast hymnischen Worte nun offenbar schleunigst ändern muss.

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          May 14, 2013 at 1:35 pm

          Ich bin gespannt, liebe Caterina, wie dir das Buch gefallen wird! 🙂

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