Tobias Wenzel wurde 1974 geboren und lebt und arbeitet seit 2001 in Berlin. Er ist freier Journalist und Literaturkritiker für öffentlich-rechtliche Radiowellen. Die ein Jahr ältere Carolin Seeliger hat Diplom-Sozialarbeit und Fotodesign studiert. Sie lebt als freie Fotografin in Berlin.
Der großformatige und wunderschön gestaltete Bildband “77 Schriftsteller im Selbstgespräch” aus dem Benteli Verlag, trägt den Untertitel “Was ich mich immer schon fragen wollte”. Die Ausgangsidee für die Zusammenarbeit von Tobias Wenzel und Carolin Seeliger ist schlicht und dennoch genial. Sie stellen den Schriftstellern und Schriftstellerinnen nur eine einzige Frage: “Wenn du dir eine einzige Frage stellen müsstest, […] wie würde diese lauten?” Die Idee kam dem Journalisten Tobias Wenzel Ende 2005, als er zum ersten Mal damit begann, seinen Interviewpartnern zum Abschluss diese ganz besondere Frage zu stellen. Das Selbstgespräch sollte in der eigenen Muttersprache und vor dem Mikrofon erfolgen – die einzige, die sich für das Gespräch mit sich selbst zurück zog, war die Schriftstellerin Juli Zeh.
Das besondere dieses Gemeinschaftsprojekts ist jedoch nicht nur die ungewöhnliche Frage, sondern es sind vor allem auch die Fotografien von Carolin Seeliger. In den schwarz-weißen Porträtaufnahmen fokussiert die Fotografin auf die Augen und lässt andere Gesichtspartien verschwimmen.
“Herr Enzensberger, warum sind Sie nicht unglücklich? Die Zeit, die mir bleibt, ist mir dafür zu schade.“
Die Verhandlungen mit den Schriftstellern war nicht immer ganz einfach, nicht nur die Frage stellte viele von ihnen vor Probleme, auch der intime Momente des Fotografierens machte vielen Angst. Paul Auster konnte erst nach mehrmaligen Treffen zu einer Teilnahme überredet werden, für das Foto wollte er – trotz Vermittlungsversuchen seiner Frau Siri Hustvedt – die Sonnenbrille jedoch nicht abnehmen.
“Siri Hustvedt, warum schreibst du? Ich schreibe, weil ich beim Schreiben mehr als in jedem anderen Augenblick das Gefühl habe zu leben.“
Die Art und Weise, wie die 77 Schriftsteller und Schriftstellerinnen das eigene Selbstgespräch führen, ist ganz unterschiedlich und vielfältig und schon allein diese verschiedenen Herangehensweisen macht einen Großteil der Spannung dieses Projektes aus. Die Antworten fallen stellenweise kurz und einsilbig aus, andere drohen den Rahmen von einer Seite zu sprengen. Einige führen ein unterhaltsames Selbstgespräch, andere ein ernsthaftes – es gibt berührende und traurige Antworten. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die Definition des Begriffs böse von Richard Powers und die Erinnerungen von Aharon Appelfeld an seine ermordete Mutter:
“Aharon Appelfeld, wo ist deine Mutter? Was macht sie jetzt? Ich habe keine Antwort. Ich staune nur und frage mich, wo sie ist. Meine Mutter wurde von den Deutschen ermordet, als sie dreißig Jahre alt war. Jetzt bin ich 75 Jahre alt, schon 45 Jahre älter als meine Mutter. Und immer noch, als nicht mehr junger Mann, frage ich mich: Wo ist meine Mutter? Manchmal habe ich ein Bild von ihr: jung, schön, am Fenster stehend. Oder sie sitzt bei mir und liest mir ein Gedicht vor, bevor ich schlafen gehe. Oder wir gehen in der Gasse spazieren und sie kauft mir etwas Schönes. Oder wir sind im Wald, entzückt von den Bäumen und dem Geruch. Manchmal habe ich ein Gefühl: Wir waren immer zusammen und wir sind auch jetzt zusammen.”
Zu den Interviewten gehören bekannte Schriftsteller und Schriftstellerinnen, aber auch unbekanntere, Namen und Gesichter, die mir bisher noch nicht begegnet sind, deren Worte oder deren Bild mich aber neugierig machen, mich dazu bringen, zu recherchieren, neue Bücher für mich zu entdecken. “77 Schriftsteller im Selbstgespräch” ist in jeder Hinsicht eine literarische Entdeckungsreise, die ich auch jetzt noch nicht abgeschlossen habe. Immer noch nehme ich das Buch gerne zur Hand, blättere darin herum und mache neue Entdeckungen.
Die Methode Wenzel/Seeliger ist schlicht und einfach und dennoch verbinden der Journalist und die Fotografin auf eine ganz eigene, sehr berührende und selten zuvor gesehene Weise Wort und Bild miteinander. Gelungen ist ihnen ein Wort- und Bildband, der berührt, unterhält und neugierig macht – schlicht ein bewegendes Lese- und Seherlebnis. “77 Schriftsteller im Selbstgespräch” ist eine ganz besondere literarische Schatzkiste.
Linktipp: Im Deutschland Radio kann man sich eine Auswahl der Antworten von den befragten Schriftsteller anhören.
13 Comments
cafegaenger
May 12, 2013 at 5:36 am“Herr Enzensberger, warum sind Sie nicht unglücklich?
Die Zeit, die mir bleibt, ist mir dafür zu schade.“
Ein weiser Mann 😉
buzzaldrinsblog
May 13, 2013 at 1:18 pmIch stimme dir, die Antwort hat mir auch besonders gut gefallen. 😉
dasgrauesofa
May 12, 2013 at 2:20 pmDeine Besprechung hat mich sehr neugierig auf das Buch gemacht. Was für ein spannendes Projekt. Das ist ja mal wieder eine echte Buchverführung!
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
May 13, 2013 at 1:11 pmLiebe Claudia,
ich habe das Buch zum Geburtstag bekommen – es war ein Überraschungsgeschenk, ein Zufallsfund meiner nichtliterarischen Freundin im Buchhandel. Schon nach dem ersten Herumblättern hat mich das Projekt – die Fotos in Verknüpfung mit den Worten gepackt. Eine wirklich großartige literarische Entdeckungsreise, die ich nur weiterempfehlen kann.
laura
May 12, 2013 at 4:08 pmOh, wie toll… so viele der Schriftsteller, die ich schätze, stehen vor einer Herausforderung; und das gleich in doppelter Hinsicht: sich die schwierige Frage zu stellen, was sie sich fragen und sich so beinahe intim fotografieren zu lassen… Beeindruckende Idee, Schriftsteller hautnah. Vielen Dank für den Tipp, liebe Mara! Einen herzlichen Sonntagsgruß von Laura
buzzaldrinsblog
May 13, 2013 at 1:10 pmLiebe Laura,
ich danke dir für deinen Sonntagsgruß und freue mich sehr, dass dir die Idee dieses Projektes so gut gefällt. Schon allein die Tatsache, wie unterschiedlich die Befragten die Herausforderung des Selbstgesprächs gelöst haben, ist spannenden und unterhaltsam. 🙂
buechermaniac
May 13, 2013 at 5:16 amEin sehr spannendes Projekt ist zu einem ungewöhnlichen Buch geworden. Auch so kann man Schriftsteller für sich entdecken.
Vielen Dank für diesen Leckerbissen!
LG buechermaniac
buzzaldrinsblog
May 13, 2013 at 1:07 pmLiebe buechermaniac,
in der Tat! Ich habe dank des Buches bereits einige Schriftsteller entdeckt, auf die ich ansonsten wohl eher nicht aufmerksam geworden wäre. Ich habe das Buch zum Geburtstag erhalten und es ist wirklich ein wahres literarisches Geschenk! 🙂
saetzebirgit
February 18, 2014 at 3:18 pmIch bekam dieses Buch vor einigen Tagen geschenkt…es ist wunderbar. Ich wollte (will) darüber bloggen und bin da auf Deine Besprechung gestoßen – danke, dass Du mir die “Arbeit” abgenommen hast 🙂 Im Ernst: Ich mag zwar selber noch ein paar Worte dazu schreiben, würde aber gerne auf deinen Beitrag verlinken. LG Birgit
buzzaldrinsblog
February 18, 2014 at 3:48 pmÜber eine Verlinkung freue ich mich natürlich, ebenso würde ich mich über deine Eindrücke zu diesem wunderbaren Buch freuen. Von Tobias Wenzel gibt es übrigens etwas Neues, einen Bildband über Schriftsteller auf dem Friedhof – ich habe es noch nicht, es steht aber ganz oben auf der Wunschliste. 🙂
saetzebirgit
February 18, 2014 at 3:53 pmOh, danke für den Tipp! Das musst Du unbedingt auch http://www.54books.de/ mitteilen, der sich gestern hier ebenfalls als Friedhofsspaziergänger geoutet hat…!
Selbstbefragung | Sätze&Schätze
February 18, 2014 at 6:18 pm[…] Buchprojekt selbst stellt Mara auf ihrem Blog buzzaldrins Bücher ausführlich und kompetent vor: http://buzzaldrins.wordpress.com/2013/05/11/77-schriftsteller-im-selbstgesprach-tobias-wenzel-und-ca… Dazu bleiben also keine Fragen mehr offen. Etliche der Schriftsteller, die sich selbst befragen, […]
Die Sonntagsleserin #KW8 | Literaturen
February 23, 2014 at 7:03 am[…] Feststellung. Dieses Buch ist eine ganz andere Möglichkeit, Autoren kennenzulernen. Auch Mara von buzzaldrins hat sich ihm schon […]