Brüder und Schwestern – Birk Meinhardt

Birk Meinhardt wurde 1959 in Berlin geboren und arbeitete als Sportjournalist und Reporter. Er wurde bereits zwei mal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. 2007 erschien sein letzter Roman, “Im Schatten der Diva”. “Brüder und Schwestern” ist sein neuester Roman; veröffentlicht im Hanser Literaturverlag.

Spätestens seit dem Erscheinen von Uwe Tellkamps “Der Turm” sind Familiengeschichten, die in der DDR spielen, ein beliebtes literarisches Motiv. Birk Meinhardt legt mit “Brüder und Schwestern” einen ähnlich umfangreichen Familienroman vor, wie Uwe Tellkamp vor mehr als fünf Jahren.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Werchow, deren Familiengeschichte auf beinahe 700 Seiten erzählt wird. Birk Meinhardt konzentriert sich dabei auf eine Zeitspanne zwischen 1973 und 1989. Willy Werchow ist Drucker in der großen Druckerei “Aufbruch” – von seinen Angestellten wird er respektiert, jedoch nicht geliebt.

“Doch anscheinend sah das nicht jeder seiner Arbeiter, anscheinend dachte mancher, der da in dieser Position, das könnte ja wohl nur ein gehöriges Arschloch sein.”

Um erfolgreich bleiben zu können, ist Willy mehr und mehr dazu gezwungen, Kompromisse einzugehen. Er laviert sich durch sein Leben, immer in dem Bemühen Auseinandersetzungen und Konflikte zu vermeiden. Nur zu Hause fordert er von seinen Kindern ein genau gegenteiliges Verhalten ein: Ehrlichkeit als oberste Tugend. Doch für Willy ist Ehrlichkeit immer mit der jeweiligen Situation abzuwägen. Willys Leben ist nicht so eintönig, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn er trägt ein Geheimnis mit sich herum. Ein Geheimnis, das eine solche Kraft hat, das es das gemeinsame Leben mit seiner Frau Ruth jeden Moment zerstören könnte.

Ruth und Willy haben drei Kinder: Matti, Erik und Britta. Die drei Kinder könnten unterschiedlicher nicht sein und spiegeln in ihren Biographien die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Leben in der DDR wider. Britta und ihr Freund Jonas werden von der Schule relegiert, als Britta ein verbotenes Gedicht von Wolf Biermann an der Wandzeitung aufhängt.

“Ja was wird aus unseren Träumen 
in diesem zerrissenen Land? 
Die Wunden wolln nicht zugehn 
unter dem Dreckverband. 
 
Und was wird aus unseren Freunden, 
und was noch aus Dir, aus mir? 
Ich möchte am liebsten weg sein 
und bleibe am liebsten hier.”

Die Möglichkeit sich am nächsten Morgen in der Schulaula für den Aushang zu entschuldigen, schlägt Britta aus. Sie verzichtet für ihre Ideale auf einen Schulabschluss und auf ein mögliches Studium und schließt sich stattdessen einem Zirkus an.

Erik entscheidet sich früh dazu, in den Bereich des Außenhandels zu gehen und nimmt dafür auch eine Dienstzeit bei der NVA in Kauf, durch die er sich jedoch schneller als gedacht lavieren kann. Um sein Studium unbehelligt fortsetzen zu können, distanziert sich Erik “entschieden und zutiefst” von dem Verhalten seiner Schwester. Eine Entscheidung, mit der er seine eigene Zukunft sichert, doch seine Familie fühlt sich von ihm verraten.

“Matti hatte mit jeder Silbe recht! Man tat so etwas nicht! Nie hätte Erik das tun dürfen! Und doch traf ihn keine Schuld, denn letztlich war er, Willy selber, es gewesen, der ihn in langen Jahren dazu gebracht hatte, so zu handeln. Letztlich hatte er ihn gelehrt, wie man Kompromisse schloß. Geradezu vorgelebt hatte er es ihm doch. Willy begriff jetzt, daß Erik als einziges seiner Kinder ihm gefolgt war aufs Feld des Abzirkelns und Erwägens – und jetzt, da er es begriff, schoß plötzlich Ablehnung und sogar Verachtung in ihm auf.” 

Vor allem sein jüngerer Bruder Matti, dessen Ernsthaftigkeit häufig an Halsstarrigkeit und Idealismus erinnert, ist fassungslos. Matti, der sich dazu entscheidet Kahnführer zu werden, glaubt, dass er selbst nie dazu bereit wäre, sich zu verbiegen und seine Ideale zu verraten. Für Matti ist Erik “gestorben”. Alles, woran Matti geglaubt hat, wird später jedoch erneut schwer erschüttert, als sich seine erste große Liebe Hals über Kopf dazu entscheidet, die DDR zu verlassen.

“[…] der Zusammenhalt der Geschwister, der allen in der Familie immer wie eine Selbstverständlichkeit erschienen war und über den niemand von ihnen je nachgedacht hatte, war auf einmal dahin. Würde er sich wiederherstellen lassen, irgendwann?”

An den Biographien der drei Geschwister zeigt Birk Meinhardt literarisch wunderbar ausgefeilt den unterschiedlichen Umgang von Menschen mit dem Leben in einer Diktatur auf. Passt man sich an? Ist man bereit, Kompromisse einzugehen? Wie weit lässt man sich verbiegen? Oder begehrt man auf? Probt man den Widerstand? Tut man dies offen oder nur im Kreise der Familie? Für was für ein Leben entscheiden sich die Menschen? Britta, Matti und Erik sind Geschwister, sie sind miteinander verwandt, aber entscheiden sich dazu, ganz unterschiedliche Wege zu gehen. “Brüder und Schwestern” endet einem Paukenschlag gleich mit einem Todesfall und der Ankündigung “wird fortgesetzt” – man darf also gespannt sein, wie die Geschichte von Britta, Matti und Erik weitergehen wird.

Den unterschiedlichen Lebensverläufen der Geschwister zu folgen habe ich als unheimlich spannend empfunden. Die Schilderungen sind eindrücklich, aber auch immer wieder amüsant. Neben Britta, Matti und Erik lässt Birk Meinhardt auf knapp 700 Seiten eine Reihe weiterer Figuren auftreten. Leider gelingt es ihm nicht über den ganzen Roman hinweg, alle Fäden sicher in der Hand zu behalten. Stellenweise hätte “Brüder und Schwestern” eine Straffung und Kürzung gut getan. Dennoch halte ich den Roman, der in einem kraftvollen Ton gehalten ist, für lesenswert.

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