Hans Sahl wurde 1902 in Dresden geboren. Bereits in den 1920er Jahren begann er damit Filmkritiken und erste Erzählungen zu schreiben. 1933 war er zur Flucht aus Deutschland gezwungen, zunächst reiste er nach Frankreich, später in die USA. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg war er als Kulturkorrespondent für mehrere Zeitungen tätig. 1993 starb Hans Sahl. “Der Mann, der sich selbst besuchte” versammelt die Erzählungen und Glossen des Autors und ist der vierte Band einer vom Luchterhand Verlag herausgegebenen Werkausgabe. Zuvor erschienen bereits: “Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil”, “Die Gedichte” und der Roman “Die Wenigen und die Vielen”. Der Luchterhand Verlag bietet ein umfangreiches Special zu Hans Sahl an, das sich dazu eignet, sich in das Werk und das Leben des Autors einzulesen.
Die Herausgeber von “Der Mann, der sich selbst besuchte” haben sich dazu entschieden, die beiden zu Lebzeiten von Hans Sahl erschienenen Sammlungen “Umsteigen in Babylon” und “Der Tod des Akrobaten” in einem Band zu vereinen. “Der Mann, der sich selbst besuchte”, dessen Titel sich auf eine der Erzählungen aus dem Band bezieht, in der die Hauptfigur den Kontakt zu ihrer Umwelt einstellen möchte, teilt sich in zwei Abschnitte: die Erzählungen und die Glossen.
Bei den Erzählungen handelt es sich um kleine Meisterwerke, die auf wenigen Seiten manchmal absurde, manchmal traurige Geschichten erzählen. Was bei Hans Sahl nie zu kurz kommt, ist der Humor, mit dem er auch tieftraurige Situationen noch ausleuchten kann. Bei vielen der ausgewählten Erzählungen habe ich mich an den Erzählton von Franz Kafka erinnert gefühlt.
“Es geschah an einem schwülen Sommertag, dass der Bürovorstand Jakob Pilz den Friseurladen der Herren Aust & Co. betrat, um sich dortselbst seines Vollbartes zu entledigen. Dieser Entschluss war nicht von heute auf morgen gekommen. Schon längst hatte Pilz, bewegt und beunruhigt durch den Lärm, mit dem diese Zeit auf ihn eindrang, den Plan gefasst, irgendetwas in seinem Leben zu verändern. Aber womit sollte er beginnen, wo die Brücke finden zu der Gegenwart, die ihn von Tag zu Tag mehr bedrängte?”
Bei den Glossen handelt es sich schwerpunktmäßig um essayistische Werke, die sich überwiegend mit den Themen Literatur und Film beschäftigen. Es sind vor allem diese Glossen, die seit 1926 in ganz unterschiedlichen Zeitungen erschienen sind, die den “Der Mann, der sich selbst besuchte” zu einem außergewöhnlichen und lesenswerten Sammelband machen. Die literaturwissenschaftlichen Texte ragen dabei heraus, vor allem Hans Sahls Essay “Klassiker der Leihbibliothek”, in dem er sich bereits 1926 mit der Frage beschäftigt, in wie weit die Literatur ein Wegbereiter für den Aufstieg des Nationalsozialismus ist. In diesem Essay fallen Namen von längst vergessenen Unterhaltungsliteraten, die jedoch zu der damaligen Zeit eine nicht zu verachtende Rolle gespielt haben: Rudolf Herzog, Rudolph Stratz oder auch Fritz Skowronnek und Fedor von Zobeltitz.
“Bleibt als letzte Erkenntnis nach der Lektüre von Dutzenden der am meisten angeforderten Leihbibliotheksromane die keineswegs tröstliche Einsicht: Das deutsche Volk liest weniger Thomas Mann oder Hermann Hesse als die von Rassenwahn und Revanchekriegsgedanken verzerrten Elaborate einer Blut- und Bodenromantik, oder, was allerdings weniger besorgniserregend ist, den Gefühlskitsch einer sich in Bars und Hotelhallen langweilenden internationalen Halbwelt von Parvenues und Nichtstuern.”
Die Glossen von Hans Sahl, in denen er mit Kritik, beißendem Sarkasmus und Satire nicht spart, lassen sich allesamt sehr eindrücklich lesen. Entstanden sind sie in einer Zeitspanne zwischen 1926 und 1992. Stellenweise ist es beinahe erschreckend, dass die Themen von Hans Sahl, trotz der dazwischenliegenden Zeit, nicht an Aktualität verloren haben.
“Als im vorigen Jahr ‘Anna Karenina’ als Film gezeigt wurde, setzte automatisch die Nachfrage in allen Berliner Volksbibliotheken ein. Mit einem Schlage war ein bis dahin relativ wenig bekanntes Werk der Weltliteratur populär geworden. Diese Tatsache ist charakteristisch für den gegenwärtigen Lesetrieb. Nicht durch Vorträge, auch nicht durch eine sich noch so kulturell-aufklärerisch gebärdende Werbepolitik ist das Interesse am Buch in den Massen zu wecken. Hier hat vor allem die Tagespresse die Führung zu übernehmen, die Tagespresse, die jede Filmbagatelle mit Schlagzeilen bombardiert und für das Buch meist nur ein Eckchen über dem Inseratenteil zu reservieren pflegt.”
Die Aktualität, die mit diesen Worten verbunden ist und die sich in heutigen Diskussion rund um das Buch spiegelt, wird umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass dieser Essay von Hans Sahl bereits 1929 erschienen ist. Hans Sahl schließt seinen Essay mit dem flammenden Appell:
“Die Buchkritik darf nicht zu einer literarischen Totenfeier einfrieren. Sie ist die aktuelle Instanz, die einzige, an der sich das Publikum der Leihbibliothek orientieren könnte.”
“Der Mann, der sich selbst besuchte” bildet den Schlusspunkt der vierbändigen Werkausgabe Hans Sahls, einem tiefsinnigen und hintergründigem Schriftsteller, der sich mit viel Humor mit dem Leben und dessen Begebenheiten beschäftigt. Die hier versammelten Erzählungen und Glossen haben es mir ermöglicht, interessante Einblicke in das Schaffen und in die Denkwelt dieses Schriftstellers erhalten zu können und ich hoffe, dass sich viele weitere Leser durch die schön gestaltete Werkausgabe davon inspirieren lassen, Hans Sahl kennen zu lernen.
11 Comments
mickzwo
May 20, 2013 at 2:59 pmDas ist in meinen Augen eine sehr schöne Beschreibung. Danke dafür!
buzzaldrinsblog
May 21, 2013 at 4:37 pmUnd ich danke dir ganz herzlich für das liebe Kompliment! 🙂 Kanntest du Hans Sahl bereits?
mickzwo
May 21, 2013 at 6:17 pmNein, den Hans Sahl kannte ich nicht. Aber Deinen Text zu lesen hat mir Freude gemacht. Jetzt habe ich den Wunsch, ihn kennen zu lernen.
Er war aus der Zeit wie Kästner und Tucholsky. Diese Zeit beschäftigt mich.
skyaboveoldblueplace
May 20, 2013 at 4:10 pmKaum hab ich meinen Kommentar zu Michael Krüger abgeschickt sehe ich schon den neuen Post zu Hans Sahl. Toll, daß Du den wieder ausgepackt hast. Hans Sahl lesen lohnt sich immer, für literarisch, poetisch und geschichtlich interessierte Menschen.
Er hat seine letzten 4 Jahre in Tübingen gelebt und dort hatte ich einige Male das Glück, ihn bei Lesungen und Diskussionen zu erleben. Da las er aus den Memoirenbänden, die Du hier vorstellst – und aus den Gedichten, vor allem dem Band ‘Wir sind die letzten’ las und mit den Zuhörern sprach.
Besonders beeindruckend dabei immer seine ungeheuer freundliche, weltzugewandte Menschlichkeit. Der Mann hat mich damals sehr beeindruckt – und sein Werk ist es heute noch.
Danke fürs Wiederentdecken!
Kai
buzzaldrinsblog
May 21, 2013 at 4:34 pmLieber Kai,
ich bin über den Autor Hans Sahl durch Zufall im vergangenen Jahr gestolpert, kurz danach erschienen dann seine Erzählungen und Glossen, die ich nun endlich gelesen habe. Scheinbar scheint Hans Sahl nicht ganz so bekannt zu sein, was ich schade finde und was sich durch die schöne Werkausgabe des Luchterhand Verlags hoffentlich ändern wird.
Ich beneide dich darum, dass du sogar die Möglichkeit hattest, ihn live zu erleben – das stelle ich mir sehr beeindruckend vor. Die Gedichte, aber auch seinen Roman möchte ich nun unbedingt entdecken und bin bereits sehr gespannt darauf.
Liebe Grüße
Mara
Eva Jancak
May 20, 2013 at 8:38 pmKlingt spannend, ansonsten habe ich von dem Autor noch nie etwas gehört, aber gleich nachgegooglet
buzzaldrinsblog
May 21, 2013 at 4:31 pmHans Sahl scheint nicht ganz so bekannt zu sein, wie er es verdient hätte. Ich werde als nächstes seinen Roman lesen und freue mich schon sehr auf die Lektüre! 🙂
dasgrauesofa
May 21, 2013 at 9:03 amVielen Dank für die Vorstellung eines Autors, von dem ich noc nie etwas gehört habe, was ja schade ist, wie Deine Zitate zeigen.
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
May 21, 2013 at 4:30 pmLiebe Claudia,
ich habe von Hans Sahl auch erst vor kurzem zum ersten Mal etwas gehört, als ich eine Besprechung zu seinem Roman las. Ich wurde sofort neugierig und freue mich nun – nach den Erzählungen und Glossen – noch mehr von diesem Schriftsteller entdecken zu dürfen.
Viele Grüße
Mara
Buchmanie
May 22, 2013 at 2:22 pmVielen Dank für diese wunderschöne Vorstellung eines Autors, den ich bis jetzt nicht kannte. Du hast mich so neugierig gemacht, dass ich den Roman “Die Wenigen und die Vielen” auf meine Leseliste gesetzt habe. Schön, dass solche Perlen dann doch nicht in Vergessenheit geraten.
Liebe Grüße
Gabi
buzzaldrinsblog
May 23, 2013 at 7:17 pmLiebe Gabi,
oh ja, wirklich schön, dass solche Perlen immer wieder hervorgeholt werden. Irgendwie wird mir manchmal ganz traurig zumute, wenn ich an all die großartigen Bücher denke, die unentdeckt bleiben und in Buchhandlungen verstauben, bis sie nicht mehr gedruckt werden. Genau dies ist ja z.B. auch mit Richard Yates geschehen. Ich freue mich deshalb sehr, dass du den Roman, den ich auch unbedingt noch lesen möchte, auf deine Liste gesetzt hast!
Liebe Grüße
Mara