Der Schrecken verliert sich vor Ort – Monika Held

Monika Held, die 1943 in Hamburg geboren wurde, arbeitet als Autorin und Journalisten. Einer ihrer Themenschwerpunkte ist das Kriegsrecht in Polen und die Hilfstransporte zu den Überlebenden von Auschwitz. Für diese publizistische Arbeit wurde sie mit einer Dankbarkeitsmedaille ausgezeichnet. Heutzutage lebt die Autorin in Frankfurt. Im Eichborn Verlag sind von ihr bereits die Romane “Augenbilder” und “Melodie für einen schönen Mann” erschienen.

“Das Lager wollte er überleben, um Zeuge zu sein. Er hatte das Lager überlebt – wo war der Sinn?”

Monika Held erzählt in ihrem neuesten Roman “Der Schrecken verliert sich vor Ort”, der im Frühjahr dieses Jahres im Eichborn Verlag veröffentlicht wurde, die Geschichte einer schwierigen Beziehung. Lena und Heiner lieben sich und leben doch in getrennten Welten, denn Heiner wird die Schrecken seiner Vergangenheit nicht los. Eine Vergangenheit, die an ihm klebt, wie eine zweite Haut und auch Jahrzehnte danach immer noch alles beeinflusst, was er erlebt und wahrnimmt. Heiner ist im Konzentrationslager gewesen, in Auschwitz.

Als er nach dem Krieg in die verwaiste Wohnung seiner Eltern zurückkehrt, liegt auf dem Nachttisch in seinem Zimmer Senecas Buch “Vom glückseligen Leben”. Das Lesezeichen steckt immer noch in dem Kapitel “Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf”.

“Ein Unwetter droht, ehe es heranzieht; die Häuser krachen, ehe sie zusammenstürzen; der Rauch verkündet einen Brand voraus; aber plötzlich kommt das vom Menschen ausgehende Verderben und verbirgt sich umso sorgfältiger, je näher es herantritt. Du irrst, wenn du den Gesichtern derer traust, die dir begegnen. Sie haben die Gestalt von Menschen, aber die Seele von wilden Tieren …”

Es sind die Worte von Seneca, die so treffend, wie kaum eine andere Stelle im Buch, das beschreiben, was Heiner erlebt haben muss.  Als junger Mann und Kommunist wurde er verhaftet und in das Konzentrationslager in Auschwitz gesperrt. Jahre später sagt er in einem Kriegsverbrecherprozess gegen die Menschen aus, die ihn damals beinahe umgebracht hätten. Im Rahmen dieses Prozesses lernt Heiner am 5. Juni 1964 Lena kennen.

“Der Schrecken verliert sich vor Ort” ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt schildert Monika Held die erste Begegnung von Heiner und Lena, die vorsichtige Annäherung und das Leben Lenas mit einem Versehrten. “Wer einen Mann wie Heiner heiratet, muss auf die Südsee verzichten.”

Im zweiten Abschnitt reisen Lena und Heiner an den Ort des Schreckens, nach Auschwitz. Sie besuchen andere Überlebende und das ehemalige Konzentrationslager, das heutzutage zu einem Museum geworden ist. Es sind vor allem die Begegnungen mit den anderen Überlebenden, mit den Freunden Heiners, zu denen er ein intensives Verhältnis hat, die in Lena ein Gefühl der brennenden Eifersucht wecken. Ihre eigene Beziehung erscheint zu gewöhnlich, als könnte sie eine ähnliche Intensität erreichen. Gleichzeitig fühlt Lena sich schlecht bei dem Gedanken, auf diese fürchterlichen Erinnerungen eifersüchtig zu sein. Im dritten Abschnitt leben Heiner und Lena an der Küste, das Klima dort soll Heiners Gesundheit helfen, die seit Auschwitz angeschlagen ist. Mittlerweile liegen bereits mehrere Jahrzehnte zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, doch Heiner trägt sie immer noch mit sich herum.

Monika Held hat mit “Der Schrecken verliert sich vor Ort” einen Roman vorgelegt, der nichts ausspart, nichts beschönigt. Der Leser erfährt alles über Heiners Leidenszeit im Konzentrationslager. Schwer auszuhaltende, schwer ertragbare Details. Es sind 1860 Menschen, mit denen Heiner auf den Transport nach Auschwitz geschickt wird – vier von ihnen haben überlebt.

“Heiner spuckte grünen Schleim. Es gab keinen Namen für diese Krankheit. Es war Verzweiflungskotzen. Panikkotzen. Schmerzkotzen, Mitleidskotzen. Wutkotzen. Er hielt sich die Ohren zu. Die Schreie der Opfer waren hoch und spitz, es zerriss ihm den Kopf. Wenn es im Himmel einen Herrgott gibt, muss er diese Schreie gehört habe.”

Die Autorin thematisiert durch die Schilderung des Kriegsverbrecherprozesses gleichzeitig aber auch die Rolle der Täter und die Frage, was Menschen damals dazu getrieben hat, zu Tätern zu werden.

“Die Täter waren nicht krank im Kopf, nicht verrückter als Sie und ich. Ohne den mörderischen Tummelplatz in Polen, wenn ich das mal so sagen darf, wäre Klehr Tischler geblieben und Kaduk Krankenpfleger. Oder Feuerwehrmann. Dirlewanger Jurist, der fette Jupp ein tumber Gangster, Palitzsch, wäre er nicht im Krieg gefallen, Polizeipräsident oder Minister und Boger Abteilungsleiter bei der örtlichen Krankenkasse. Oder Studienrat mit heimlich-geiler Lust beim Abstrafen der Kinder. Er hätte die Bogerschaukel nicht gebaut. Die Täter, Hohes Gericht, waren jung und ehrgeizig. Sie wollten ihre Sache gut machen, welche Sache, war egal. Sie verhielten sich wie Angestellte, sie waren hungrig nach Lob und Karriere. Das Gefährlichste ist nicht der Sadist. Das Gefährlichste ist der normale Mensch.”

Eine zentrale Position im Roman nimmt aber vor allem die Beziehung zwischen Lena und Heiner ein. Lena, die zehn Jahre jünger ist, teilt keine Erinnerungen mit Heiner. Zumindest keine Erinnerungen an den Schrecken der damaligen Zeit. Ihr Glaube, dass die Liebe, die Kraft dazu haben könnte, solche Erinnerungen überwinden so können, erscheint zugleich naiv und herzergreifend. Doch für Heiner funktioniert das nicht. Die Liebe zu Lena wischt die Erinnerungen an das Erlebte und Erlittene nicht weg, macht es nicht ungeschehen oder leichter zu ertragen.

“[…] es gibt Tage, an denen möchte ich nicht mit mir befreundet sein. Mir steckt das Lager in jedem Körperteil und die Forschung arbeitet, so viel ich weiß, nicht an einem Gegengift.”

Lena liebt Heiner, aber sie weiß nicht, “wie lange ihre Liebe für den Teil des Mannes reichte, der im Lager geblieben war.” Ein Teil von Heiner ist dort geblieben, dieser Teil überschattet alles, was er in der Gegenwart erlebt. An einer Stelle im Roman wird dies als “kranker Nebel der Vergangenheit” bezeichnet, der sich in sekundenschnelle über alles Schöne legen kann.

“Er besteht aus einem Leitmotiv mit endlosen Variationen. Was ich sagen will: Er sieht einen Backsteinschornstein und sagt: Schau, Lena, Birkenau. Er sieht dünnen, weißen Rauch aufsteigen und sagt: Sie haben dort nicht viel zu tun, sonst wäre der Rauch dick und schwarz. Weiß du, wie oft das Wort Rampe im Alltag vorkommt? Die Post hat eine Rampe, die Bahn hat eine Rampe, jedes Warenhaus hat eine Rampe und Heiner denkt nur an die eine. Du kaufst dir einen schönen Mantel und was sagt er: Schau. Lena, der Markenname ist Selection. Nichts ist ohne doppelten Boden und an jeder Ecke warten Erinnerungen.”

Bücher über den Holocaust, Bücher über Auschwitz und Bücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es viele. Dieses sollte man jedoch gelesen haben. Monika Held gelingt es nicht nur, eine zutiefst rührende Geschichte zu erzählen, sondern sie wirft gleichzeitig auch wichtige Fragen auf: Fragen nach der Täterschaft, aber auch Fragen nach der psychologischen Verarbeitung von so tiefsitzenden Traumata. “Der Schrecken verliert sich vor Ort” ist ein wichtiges Buch, ein Buch, das sich in das Fleisch seines Lesers einschneidet und dort tiefe und markante Abdrücke hinterlässt.

Angesichts der Thematik des Romans ist es sicher schwer und auch nicht angemessen von Begeisterung zu sprechen. Der Roman hat mich gerührt, umgetrieben, beschäftigt und lange nicht mehr losgelassen.

Abgerundet wird die Lektüre von einem lesenswerten Nachwort von der Psychoanalytikerin, Ärztin und Autorin Margarete Mitscherlich, aus dem ich abschließend folgende Stelle zitieren möchte:

“Was geschehen ist, ist geschehen, ausgeübt von einem Kulturvolk. Und dass es geschehen ist, bedeutet, dass es wieder geschehen kann. Menschen, und zwar kultivierte, kluge Menschen, sind zu Taten fähig, die wir ihnen nicht zugetraut haben. Und wo es irgendein Anzeichen, einen Hauch davon wieder geben könnte, müssen wir eingreifen. Unsere gottverdammte Pflicht nach Auschwitz ist, das niemals zu vergessen. Es bleibt ein ewiges Thema. Ich glaube nicht, dass wir aufhören sollten, uns damit beschäftigen.”

Lektüretipp:

17 Comments

  • Reply
    Mariki
    May 28, 2013 at 2:16 pm

    Ich hab das Buch irgendwo entdeckt und auf meine Wunschliste gelegt, ich war schon recht gespannt auf deine Rezension. Dass es so intensiv ist, interessiert mich und schreckt mich gleichzeitig ab – klingt nach einem Roman, der mich zum Weinen bringen wird.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 28, 2013 at 3:21 pm

      Liebe Mariki,
      das Gefühl der Abschreckung kann ich nachempfinden. Es war auch nicht ganz leicht Worte für dieses Leseerlebnis zu finden. Mag man angesichts des Themas wirklich von Begeisterung sprechen, oder davon, dass einem ein Buch gefallen hat? Ich weiß es nicht. Das Buch kann ich dir aber nichtsdestotrotz ans Bücherherz legen. Die Lektüre wird man nicht mehr so schnell wieder vergessen.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Mariki
        May 29, 2013 at 7:22 am

        Ich muss gestehen, dass ich überhaupt schon seit einiger Zeit vor dem Thema in Romanen zurückschrecke … ich hab viele davon gelesen, wie wir ja alle, und es ist ein Stück Geschichte, das wichtig ist, aber auch enorm erdrückend. Ich denke aber, dass ich mich mit Monika Held nochmal hineinwagen werde in all das Grauen. Wo ich doch immer behaupte, dass ich erschüttert werden will von einem Buch 😉

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          May 29, 2013 at 12:20 pm

          Liebe Mariki,
          ich kann dieses Zurückschrecken in Teilen natürlich nachvollziehen. Dieses Thema gibt es einfach immer wieder und so häufig, dass irgendwann vielleicht auch – so schrecklich das klingen mag – eine Art Übersättigungseffekt eintritt. Ich habe immer schon gerne Bücher über diese Themen gelesen, Romane aber auch Sachbücher oder Biographien. In diesem Jahr habe ich mit Elliot Perlmans Roman “Tonspuren” und dem Buch von Monika Held zwei großartige Holocaust-Romane gelesen, ich kann dir beide wirklich nur ans Herz legen, besonders aber das von Monika Held. Erschüttert wirst du dort auf jeden Fall.

  • Reply
    B.ee
    May 28, 2013 at 9:14 pm

    Liebe Mara,
    ich dachte beim Lesen auch “harter Tobak”. Natürlich hatte (sie lebt ja leider inzw. nicht mehr) Mitscherlich recht und man sollte nie aufhören, sich damit zu beschäftigten. Gerade heute haben wir uns in der Praxis draüber unterhalten, wie die Traumatisierungen des Krieges verarbeitet oder eben nicht verarbeitet, gehandhabt und vergraben werden. Da kamen ganz unterschiedliche Sichtweisen, Erlebnisse und Umgangsweisen damit auf.
    Gute Nacht!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 29, 2013 at 12:23 pm

      Liebe Bee,
      in der Praxis bedeutet in einem Seminar? 🙂 Klingt auf jeden Fall spannend. Dem Nachwort von Margarete Mitscherlich, aber vor allem der zitierten Passage, kann ich auch nur zustimmen. Es ist so wichtig, sich immer wieder mit diesem Thema zu beschäftigen – vor allem jetzt, wo nach und nach die Generation der direkten Zeugen ausgestorben ist. Die Verarbeitung von Traumatisierungen ist ein spannendes Thema. Heiner verarbeitet seine Erfahrungen in so weit, dass er lebensfähig ist. Aber er wird sie nicht los, sie verfolgen ihn weiter. Tagtäglich. Monika Held ist ein wirklich beeindruckendes Buch gelungen, dem ich trotz der möglicherweise abschreckenden Thematik ein großes Publikum wünsche.
      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        B.ee
        May 29, 2013 at 9:42 pm

        Nein, liebe Mara, Praxis bedeutet Praxis im Sinne von Psychotherapeutischer Praxis. Wir sind dort zu viert.
        Ja, ich glaube, lebensfähig sein ist manchmal vielleicht das einzige was geht.
        Mich hat auch der Satz “Wer einen Mann wie Heiner heiratet, muss auf die Südsee verzichten” sehr bewegt.
        Gute Nacht!

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          May 31, 2013 at 9:58 am

          Liebe Bee,
          ein bisschen unangenehm ist es mir jetzt ja doch, dass ich bei deinem Kommentar so auf dem Schlauch stand. An eine Arztpraxis habe ich irgendwie überhaupt nicht gedacht.
          Lebensfähig zu bleiben, nach solchen Traumatisierungen, ist wahrscheinlich schon ein Erfolg. Der von dir zitierte Satz hat mich auch berührt und nicht mehr losgelassen. Monika Held seziert nicht nur die Situation für die Überlebenden, sondern beschreibt auch sehr nachvollziehbar die Rolle der Angehörigen. Ein wirklich lesenswertes Buch!

          • B.ee
            June 2, 2013 at 9:21 am

            Ach, das muss Dir doch nicht unangenehm sein!!!! WER denkt denn auch an sowas….lach….
            Schönes WE Dir!

  • Reply
    caterina
    June 5, 2013 at 9:09 pm

    Dass dieses Buch auf meiner Leseliste steht, steht außer Frage. Schon als ich es in der Vorschau gesehen habe, war mir klar, dass ich nicht drum herumkommen würde. Noch hat es sich nicht ergeben, aber ich weiß, dass ich es früher oder später kaufen und lesen werde. Erst recht nach deine eindringlichen Rezension. Danke dafür.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 6, 2013 at 4:42 pm

      Liebe Caterina,

      ich hatte das Buch eher zufällig entdeckt, aber nach den begeisterten Worten von der Klappentexterin musste ich es sofort lesen. Es ist eine schwierige Lektüre, für die es schwer ist Worte zu finden – “Gefallen”, “Begeisterung”, “Spaß”, “Freude”, all diese Begriffe scheinen nicht wirklich zu passen. Ich glaube, dass dir das Buch gut gefallen könnte, es ist vor allem sprachlich unheimlich beeindruckend und ich bin schon auf deine Meinung gespannt, falls du es irgendwann lesen solltest.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Underdog Literature, June 2013: 14 fresh or notable, off-the-wall titles | stefanmesch
    June 7, 2013 at 4:55 pm

    […] 15: MONIKA HELD, “Der Schrecken verliert sich vor Ort”, 272 pages, March 2013. [German: I liked Mara Giese's review – here (Link, German)] […]

  • Reply
    atalante
    June 21, 2013 at 4:56 pm

    Ich kann deine geschilderte Leseerfahrung sehr gut nachvollziehen, Mara. Der Roman hat ich mich vollkommen gebannt, obwohl ich ihn nach der ersten Folterszene zunächst weglegen wollte.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 22, 2013 at 12:42 pm

      Liebe atalante,
      ich freue mich, dass dich der Roman ähnlich beeindruckt hat, wie mich. Von vielen Büchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe, weiß ich – nachdem die Lektüre einige Zeit zurückliegt – nicht mehr viel. Dieses Buch ist mir jedoch im Gedächtnis geblieben. Es ist “heftig”, aber unheimlich lesenswert und wichtig und ich hoffe, dass Monika Held viele Leser finden wird.

  • Reply
    Ein Jahr in Büchern … | buzzaldrins Bücher
    December 29, 2013 at 1:04 pm

    […] ist, sondern über die ich immer noch nachdenke. Auch Lena und Heiner, die von Monika Held in “Der Schrecken verliert sich vor Ort” als Paar gegen jeden Widerstand beschrieben werden, besuchen mich und meine Gedanken ab und […]

  • Reply
    Trümmergöre - Monika Held - Buzzaldrins Bücher
    February 4, 2015 at 1:53 pm

    […] sich Monika Held in Der Schrecken verliert sich vor Ort noch mit Auschwitz und dem Holocaust beschäftigt, wendet sie sich in ihrem neuen Roman dem Leben […]

  • Reply
    [Gastrezension: Susanne] Monika Held “Der Schrecken verliert sich vor Ort” | Bibliophilin
    February 9, 2015 at 7:00 am

    […] Rezension zum Roman könnt Ihr ebenfalls bei Mara und Simone […]

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