Björn Bicker wurde 1972 geboren und hat Literaturwissenschaft, Philosophie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien studiert. Nach Stationen am Wiener Burgtheater und den Münchener Kammerspielen, arbeitet Björn Bicker seit 2009 als freier Autor, Projektentwickler und Kurator. Im selben Jahr erschien im Verlag Antje Kunstmann sein Debütroman “Illegal”. Der Autor lebt heutzutage in München und hat in diesem Frühjahr mit “Was wir erben” seinen zweiten Roman vorgelegt. Der Autor betreibt eine eigene Homepage.
“Du willst wissen, wo Du herkommst. Du willst wissen, wer Dich gezeugt hat. Du willst wissen, wer Dein Vater war. Was er getan hat. Wie er gelebt hat. Ich frage mich: Kannst Du daraus irgendetwas ableiten, was Dich betrifft?”
“Was wir erben” erzählt die Geschichte von Elisabeth. Elisabeth ist Schauspielerin am Theater und lebt mit ihrem Freund Holger, der Arzt ist, ein Leben ohne viele Höhen und Tiefen, gäbe es da nicht ihren seit Jahren unerfüllten Kinderwunsch. Doch eines Tages gerät das ruhige Leben Elisabeths aus dem Takt: ein Fremder ruft sie an und behauptet, ihr Bruder zu sein. Der Bruder, der schon vor Ort ist, möchte sich mit Elisabeth treffen. Er bringt ihr ein Foto mit, ein Foto von seiner Mutter und von Elisabeths Vater. Ein Foto aus dem Jahr 1972, dem Jahr, in dem Elisabeth zur Welt gekommen ist. Der junge Mann hat abgesehen von dem Foto keine Erinnerungen, keinen Beweis, keine Informationen. Seine Mutter ist bereits verstorben, von Elisabeth wünscht er sich, mehr über den Mann zu erfahren, der ihrer beider Vater sein soll.
“Die Kindheit. Der Krieg. Die Enteignung der Familie. Die Flucht in den Westen. Das abgebrochene Studium. Der Eintritt in die neu gegründete Bundeswehr, um Frau und Kind zu versorgen. Die Trinkerei. Die Versetzung aufs Land. Die Abstinenz. Die Politik. Die Kirche. Der Tod. Ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass es nicht leicht war mit dem Vater.”
Elisabeth ist überrumpelt. Über den Vater, mit dem sie gebrochen hat, hat sie schon lange nicht mehr gesprochen. Ihr Vater hat getrunken. So exzessiv, dass er seine Familie mit seiner Alkoholsucht zerstört hat. Elisabeth beginnt damit, ihrem Bruder, der doch nur ein halber Bruder ist, einen Brief zu schreiben. Einen Brief, über den Vater, über ihre Familie und über die damalige Zeit.
“Du willst wissen, was für ein Mensch Dein Vater war. Wenn ich das wüsste. Ich kann keine Schublade öffnen, keine Festplatte aktivieren und das, was war, einfach herausziehen oder hochladen. Alles, was ich dir bieten kann, sind meine durchlöcherten Erinnerungen.”
Es ist ein Zufall, der Elisabeth in die Geburtsstadt ihres Vaters führt und damit in eine Vergangenheit, die trotz allem, was zwischen Elisabeth und ihrem Vater liegt, immer noch präsent ist in der Gegenwart. Diese Vergangenheit ist das, “was wir erben“, was uns verfolgt und uns anhaftet, ob wir das wollen oder nicht.
“Alles hängt mit allem zusammen. Das Heute kann man nicht vom Gestern trennen. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügner.”
Die Geburtsstadt von Elisabeths Vater liegt in der ehemaligen DDR und damit in einer Welt, die mittlerweile untergegangen ist und doch findet Elisabeth dort Spuren ihres Vaters, denen sie nachgeht und sie Stück für Stück zusammensetzt. Am Ende entsteht auf diesem Weg nicht nur ein Brief an den halben Bruder, sondern auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, von der Elisabeth längst geglaubt hatte, sie überwunden zu haben.
“Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte. Entscheidend ist doch: Wer hat mich als Kind ins Bett gebracht, wer hat mich zum Schwimmen lernen ins Wasser geworfen, mit wem habe ich das erste Mal geschlafen, wer waren meine Lehrer, wer hat mich schlecht behandelt, wer nicht. Wir sind nur miteinander verwandt, wenn wir das wollen, nur dann. Ich habe versucht, gegen die Biologie anzureden.”
Björn Bicker ist mit “Was wir erben” ein unheimlich dichter Roman gelungen. Dazu trägt sicherlich die besondere Form des Romans bei, der aus der Sicht Elisabeths erzählt ist, die sich in einem Brief an ihren halben Bruder wendet. Getragen wird der Roman von seiner Hauptfigur. Elisabeth erscheint als starke und selbstbewusste Frau, die ein geordnetes Leben führt. Die Reise in ihre Vergangenheit und die Suche nach ihrem Vater, wird zu einer Suche nach sich selbst. Plötzlich gerät das geordnete Leben ins Wanken, denn Elisabeth weiß nicht mehr, “ob sie dieses Leben selbst lebt”. Sie versteht nicht mehr, “warum sie ist, wie sie ist”.
“Ich bin wütend auf den Vater, weil er mich gemacht hat. Sein Leben hängt an mir dran wie eine zweite, zerfetzte Haut, die ich nicht loswerde. Ich kratze und ziehe und reiße, aber sie geht nicht ab. Sie wächst immer wieder nach. Hässlich. Wuchernd. Und sie vernarbt. An Stellen, die ich nicht vermutet hätte. An Orten, die man nicht einmal im Spiegel sehen kann.”
Der Roman lebt jedoch auch von den Nebenfiguren, besonders in Erinnerung geblieben ist mir Hofffmann, den Elisabeth in der Geburtsstadt ihres Vaters kennen lernt.
“Hofffmann mit drei f, wenn ich bitten darf. Das erste f steht für das vergangene Leben, das dritte f steht für das zukünftige Leben und das f mittendrin, na ja, das steht für das, was wir gerade erleben.”
Da gibt es aber auch noch seinen Hund RICO und Valon, der bei Hofffmann untergekommen ist, als seine ganze Familie ausgewiesen wurde. Die Figuren von Björn Bicker sind häufig berührende Gestalten, die eine bewegende Geschichte zu erzählen haben. Björn Bicker erzählt in “Was wir erben” auch eine politische Geschichte, die von der privaten kaum zu trennen ist, sich immer wieder vermischt und überlappt.
“Was wir erben” ist ein vielfältiger Roman, der von jedem Leser mit einem anderen Schwerpunkt gelesen werden kann: Björn Bicker erzählt eine Geschichte über Heimat und Familie, über Vergangenheit und Gegenwart, über das politische und private Leben, über Erinnerung und Vergessen, aber auch eine Geschichte über Sucht und deren fürchterlichen Folgen, nicht nur für den Betroffenen, sondern für die ganze Familie. “Wenn sich die Eltern zerstören, dann zerstören sie auch die Kinder.” Ich habe selten zuvor einen Roman gelesen, der sich so differenziert und einfühlsam mit der Thematik Sucht und deren Auswirkungen beschäftigt. Für mich war es vor allen Dingen dieser Aspekt, der beim Lesen heraus stach, für andere Leser, mögen es andere Aspekte sein.
Björn Bicker ist mit “Was wir erben” ein lesenswerter Roman gelungen, der mich nicht nur sprachlich überzeugen konnte, sondern dessen Geschichte und Figuren mich völlig gefangen genommen haben. Ein Buch, das aufgrund seiner Covergestaltung in der großen und bunten Masse an Neuerscheinungen möglicherweise etwas untergeht, das jedoch so viele Leser wie möglich verdient hat.
19 Comments
wildganss
May 29, 2013 at 11:01 amDiese Besprechung haut mich quasi vom Hocker. Will lesen, sofort. Da lege ich das dicke “Bonita Avenue” gleich beiseite…
Danke.
jancak
May 29, 2013 at 11:08 amDas ist aber schade, ich rate zum Zuendelesen
buzzaldrinsblog
May 29, 2013 at 12:15 pmLiebe Wildgans,
wow, ich freue mich sehr über deine Worte und darüber, dass dich die Besprechung so angesprochen hat, dass du das Buch nun gleich lesen magst. Ich bin gespannt, wie es dir gefallen wird, ob es dich genauso packen wird, wie mich – “Bonita Aveneu” (übrigens auch großartig) kannst du danach ja immer noch zu Ende lesen.
gespannte Grüße,
Mara.
literaturen
May 29, 2013 at 11:03 amJa, ja, ja! Ich habe es ja auch besprochen und auch ein Interview mit Björn Bicker geführt und kann dir nur vollends zustimmen! Dieser Roman sollte viel mehr Leser haben.
buzzaldrinsblog
May 29, 2013 at 12:13 pmLiebe Sophie,
ja, deine Besprechung habe ich mittlerweile – genauso wie das Interview – auch gelesen. Schön, dass das Buch uns beiden scheinbar ähnlich gut gefallen hat. Es kommt so unauffällig daher, hat aber eine solche Wucht – ich bin wirklich begeistert!
Liebe Grüße
Mara
literaturen
May 29, 2013 at 12:38 pmIch habe deine Rezension gleich mal in meinem Artikel verlinkt. 😉
buzzaldrinsblog
May 29, 2013 at 12:49 pmOh, ich danke für die Verlinkung! 🙂
Björn Bicker – Was wir erben | Literaturen
May 29, 2013 at 12:37 pm[…] Eine weitere sehr lesenswerte Rezension findet ihr bei Mara von Buzzaldrins Bücher. […]
Annegret
May 30, 2013 at 6:30 amHallo Mara,
eine großartige Vorstellung des Buches. Man möchte eigentlich gleich loslegen mit dem Lesen. Ich werde mir diesen Titel auf jeden Fall merken.
Vielen Dank.
Annegret
buzzaldrinsblog
May 31, 2013 at 9:55 amLiebe Annegret,
ich freue mich sehr, dass meine Worte zu diesem ganz besonderen Buch, dir gleich Lust gemacht haben, es zu lesen! Du wirst es nicht bereuen, es ist eine tolle Lektüre, die ich nur empfehlen kann. Falls du zu dem Titel greifen solltest, sag doch bitte Bescheid, wie es dir gefallen hat.
Liebe Grüße
Mara
mickzwo
May 30, 2013 at 8:03 amHat dies auf Alles mit Links. rebloggt und kommentierte:
Hach, allein für dieses Zitat schon: “Alles hängt mit allem zusammen. Das Heute kann man nicht vom Gestern trennen. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügner.”
Diese Besprechung ist wundervoll. Zum Lesen wärmesten ans Herz gelegt.
buzzaldrinsblog
May 31, 2013 at 9:53 amLieber Mick,
deine Worte zu meiner Besprechung und dass du diese gerebloggt (was für ein Wort!) hast, haben mich unheimlich doll gefreut. Schön, dass ich dich neugierig auf das Buch machen konnte – falls du es lesen solltest, wäre ich gespannt darauf, zu erfahren, wie es dir gefallen hat.
Liebe Grüße
Mara
laura
May 30, 2013 at 11:41 amJe mehr ich von dem Buch bei euch (Literaturen, dir…) lese, umso neugieriger werde ich 🙂 In den Interviews kommt der Autor auch sehr sympathisch rüber – obwohl das natürlich kein Kriterium für ein gutes Buch ist. Aber so ein bißchen macht das schon was aus bei mir, glaub ich 😉 Zumindest was die Neugierde anbetrifft. Wenn mir ein Autor sympathisch ist, denke ich irgendwie: Der schreibt bestimmt Bücher, die mir gefallen.
buzzaldrinsblog
May 31, 2013 at 9:52 amLiebe Laura,
ich freue mich, dass deine Neugier an dem Buch geweckt wurde! 🙂 Ich habe es als unheimlich lesenswert empfunden und könnte mir vorstellen, dass es dir gefallen könnte. Der Sympathiefaktor, den du ansprichst, spielt auch für mich häufig eine Rolle. Zu Büchern von Autoren und Autorinnen, die mir durch Interviews sympathisch werden, greife ich schneller mal. Das Gegenteil tritt aber auch manchmal auf: Autoren, die sich so unsympathisch verhalten, dass ich ihre Bücher nicht mehr lesen möchte, auch wenn ich dadurch vielleicht ein interessantes Buch verpasse. 😉 Schon lustig, was die Sympathie da manchmal mit einem machen kann.
madameflamusse
June 2, 2013 at 6:29 pmDanke für die Besprechung. Die Themen passen voll in mein Beuteschema 🙂
buzzaldrinsblog
June 3, 2013 at 2:05 pmFreut mich sehr! 🙂 Und überhaupt: herzlich willkommen auf meinem Blog, ich freue mich sehr über deinen Besuch bei mir. Björn Bickers Roman war für mich eine ganz besondere Entdeckung, da ich im Vorfeld der Lektüre keine großen Erwartungen hatte. Ein wunderbarer Roman, der so viele Leser wie möglich verdient hat!
madameflamusse
June 3, 2013 at 2:50 pmJa mich auch, vorallem da ich so einige neue Autoren bei Dir entdecke 🙂 Hast Du “Wie es leuchtet” von Brussig gelesen? Das is einer der besten Wenderomane wie ich finde. Ich fand aber auch “Ab jetzt ist Ruhe” sehr gut (von Marion Brasch). Ich als altes Ossikind interessiere mich natürlich ganz besonders für Themen der Wende.
Liebe Grüße 🙂
buzzaldrinsblog
June 3, 2013 at 3:04 pm“Wie es leuchtet” und “Ab jetzt ist Ruhe” kenne ich beide noch nicht, die Bücher stehen aber bei mir im Regal – bisher nur ungelesen. Deine Begeisterung macht mir Lust darauf, eines der beiden so bald wie möglich zu lesen. Ich selbst bin im Westen aufgewachsen, habe aber 2 Jahre in Dresden gelebt und dort eine sehr schöne Zeit gehabt. Besonders begeistert hat mich damals die Lektüre von Tellkamps “Turm”, mit dem ich in der Hand die Stadt entdecken konnte. 🙂
Liebe Grüße
Mara
madameflamusse
June 3, 2013 at 3:18 pmNa da bin ich jetzt schon Neugierig was Du davon hälst. Und siehste, den Turm hab ich noch nicht gelesen. (is mir vielleicht zu nah dran).
😉